Mechanische Thrombektomie beim Hirninfarkt: wo behandeln?
Die endovaskuläre Behandlung mittels mechanischer Thrombektomie ist eine wirksame Behandlung des durch einen Verschluss grösserer Gefässe verursachten Hirnschlags. Der Erfolg ist zeitabhängig und die Behandlung ist ressourcenintensiv und kann deshalb nicht überall angeboten werden. Für unser anderweitig weitgehend erfolgreiches föderalistisches Gesundheitssystem ist die STRATIS-Studie relevant: Gemäss deren Ergebnisse führt der Zeitverlust durch den Transfer von einem Aufnahmespital (ohne Möglichkeit der Thrombektomie) ins Zielspital (mit dem Angebot der Thrombektomie) zu einem signifikant schlechteren Resultat, gemessen an der neurologischen Erholung. Die Zuführung zur Thrombektomie schien auch keinen negativen Einfluss wegen der potentiellen Verzögerung bis zur Durchführung einer Thrombolyse – falls eine Thrombektomie nicht durchgeführt wurde – auszuüben. Die Zusammenarbeit zwischen kleineren und grösseren Spitälern ist erneut zu überprüfen. Wie erkennt man in der Peripherie, dass es sich um einen Verschluss grösserer Gefäss handelt? Wie kann eine direkte Zuweisung an ein endovaskuläres Zentrum erfolgen? Wieviele dieser Zentren braucht die Schweiz und wo sind sie zu platzieren?
Mechanische Thrombektomie wirksam auch länger als 6 Stunden nach Symptomenbeginn beim zerebrovaskulären Insult?
Die Thrombektomie (siehe obige Zusammenfassung) ist eine akzeptierte Interventionsform bei zerebrovaskulären Verschlüssen und dokumentiertem Symptomenbeginn von weniger als 6 Stunden nach Beginn derselben. Gemäss der DAWN-Studie kann eine Thrombektomie bei PatientInnen mit relativ grosser Ischämiezone (Penumbra) um ein relativ kleines infarziertes Hirnareal (21–31 ml) auch 6–24 Stunden nach Symptomenbeginn zu einer deutlichen Verbesserung des funktionellen Defizites nach 90 Tagen führen. Untersucht wurden ca. 70-jährige PatientInnen (Anteil der >80-Jährigen ca. 25%) mit nachgewiesenem Verschluss der Carotis interna oder proximaler Abschnitte der A. cerebri media. Interessant ist, dass 60% der PatientInnen aus dem Schlaf (siehe Name der Studie!) mit dem Defizit erwacht waren (und damit gemäss heutigen Guidelines eine Kontraindikation für Thrombolyse oder Thrombektomie aufgewiesen hätten). Die etwas konvoluierte Statistik und die komplexe Variante des neurologischen Scores stimmen den Leser etwas vorsichtig. Auch die doppelt so hohe, wenn auch nicht signifikant unterschiedliche Zahl an intrakraniellen Blutungen in der Behandlungsgruppe verdient eine Nachbearbeitung, zumal die Studie vorzeitig beendet worden war.
N Engl J Med. 2018;378:11–21.
doi: 10.1056/NEJMoa1706442.
Verfasst am 07.01.2018.
Neues aus der Biologie
Wie entstehen soziale Ungleichgewichte?
Ungleichgewichte sind die Hauptursachen sozialer Spannungen in einer Gesellschaft. In der Medizin sind sie verantwortlich für die extremen Unterschiede in der Anfälligkeit für eine Reihe von Krankheiten. Wie kommt es zu solchen Ungleichgewichten? Warum besitzen 1% der Weltbevölkerung mindestens 50% der ökonomischen Ressourcen, warum metabolisieren 1% der Baumarten im Amazonasgebiet mehr als 50% des CO2? Gibt es Parallelen zwischen Natur und menschlichen Gesellschaften? Überraschenderweise ist der Zufall per se ein sehr potenter, die Ungleichgewichte fördernder Faktor: Ausgehend von einer perfekt gleichen ökonomischen Kraft aller Individuen/Familien werden sich – mathematisch voraussehbar – sehr schnell Ungleichgewichte ergeben, weil sich Gewinne und Verluste (durch «natürliche» Veränderungen der «Umwelt») mit den aktuellen Ressourcen multiplizieren. Führen solche Verluste zu einem Aufbrauch der Ressourcen ist es fast unmöglich, wieder daraus herauszukommen (Gewinne/Verluste mal 0 = 0). Wie kann es zur Wiederherstellung von gewisser Gleichheit kommen? In der Natur vorwiegend durch natürliche Feinde, welche die dominante Spezies überproportional treffen («kill the winner»-Prinzip, z.B. Gnus in Afrika). In der Gesellschaft sind es ausgleichende Mechanismen (Steuersystem, politischer Ausgleich). Relevant ist, dass die Wirkung aber traditionell nachlässt in Zeiten des ökonomischen Aufschwungs. Heute, in der globalisierten Welt kann den regionalen «checks and balances» entgangen werden. Die gegenwärtig massive Zunahme der Ungleichgewichte (Länder und Individuen) bedingt demnach auch ein (wirksames) globales Ausgleichsystem.
Sicher haben sich die SMF-LeserInnen auch schon darüber gewundert, warum bei längerem Aufenthalt in kälterer Umgebung, obwohl exquisit unangenehm, fast voraussehbar, ein ungewohnter Harndrang auftritt. Der Grund liegt in der peripheren Vasokonstriktion mit Zentralisierung des Blutvolumens, Aktivierung der sogenannten Niederdruckrezeptoren und konsekutiver Suppression des ADHs (Vasopressins). Die Autoren wiesen als erste sogar basierend auf ihren Resultaten darauf hin, dass der Volumenfaktor schneller und stärker wirksam in der Regulation des ADHs als der Osmolalitätsfaktor sein könnte. Die erhöhte Sensitivität auf den Volumenstatus wird exemplifiziert an der Tatsache, dass sich der Körper bei persistierendem Mangel an extrazellulärem Volumen eine mitunter schwere Hypoosmolalität/Hyponatriämie «gefallen» lässt.
Krank oder nicht: Eine korrekte «Blickdiagnose» in 5 Sekunden!
Angesichts der Limitierung der Patientenkonsultation auf 20 Minuten kommt dieser Studie vielleicht grosse Bedeutung zu: Mit einer 81%igen Wahrscheinlichkeit können Kranke von Gesunden unterschieden werden, und zwar lediglich mit Blick aufs Gesicht (in natura, auf Foto oder allenfalls sogar via Skype u.ä.). Von den untersuchten Merkmalen (herabhängende Mundwinkel, tiefer stehende Lider, Blässe von Haut oder Lippen, rote Augen [Konjunktivitis], offensichtlich müder Ausdruck) waren tiefer hängende Augenlider und blasse Haut die besten Prädiktoren. Die Medizin scheint mitunter sehr einfach …
Zitiert aus Text gepostet in Social Science, 2. Januar 2018.
Im vergangenen Jahr gab es vier äusserst bedrohliche Epidemien, über die wir teilweise hier schon berichtet haben: Ebola im Kongo, Gelbfieber in Brasilien, Pest in Madagaskar und weiterhin unkontrollierte Cholera (mit Beginn im 2016) in Jemen.
Zitiert aus Text gepostet in Scientific Community, Science, 31. Dezember 2017.
doi: 10.1126/science.aas8740.
Verfasst am 05.01.2018.
Aus Schweizer Feder
Lesehilfe für den Pathologiebericht am Beispiel des kolorektalen Karzinoms
Die Stadieneinteilung des häufigen kolorektalen Karzinoms gemäss dem TNM-Klassifizierungssystem ist auch für diese Neoplasie von zentraler prognostischer und therapeutischer Relevanz. Allerdings ist bekannt, dass es innerhalb des gleichen Tumorstadiums unterschiedliche Überlebensraten gibt. Ein wichtiger, unabhängiger, zugleich relativ neuer, negativer prognostischer Faktor ist der histologische Nachweis von mikroskopischen Zellknospen (bis zu 4 Zellen, Abb. 1), welche an den invasiven Tumorrändern – intra- und peritumoral – gefunden werden (intratumoral oder peritumoral budding). Diese Zellen zeigen keine erhöhte proliferative Aktivität, aber u.a. Verlust von interzellulären Adhäsionsmolekülen (Cadherin) und Überexpression von «gewebeauflösenden» Enzymen (Matrixmetalloproteinasen), zwei Prozesse, die intuitiv ihre potentielle Eigenschaft, sich vom Primärtumor abzusetzen (zu metastasieren), verstärken. Der Nachweis von solchen Tumorknospen ist je nach TNM-Stadium mit der Wahrscheinlichkeit von Lymphknotenmetastasen, erhöhten Rezidiven und Mortalität assoziiert. Wegen fehlender Standardisierung der histologischen Kriterien gehörten die Tumorknospen bislang noch nicht zur Standardbefundung der pathologischen KollegInnen. Dies könnte sich aber glücklicherweise bald ändern: Unter Schweizer Leitung (Prof. A.Lugli, Bern) wurden die histologischen Kriterien mit eindrücklich breiter internationaler Abstützung nun standardisiert und publiziert.