Asthenie, Schwindelanfälle und Gangunsicherheit
Nicht immer liegt die Diagnose sofort auf der Hand

Asthenie, Schwindelanfälle und Gangunsicherheit

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2018/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03227
Swiss Med Forum. 2018;18(35):702-705

Affiliations
Service de médecine interne, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne

Publiziert am 29.08.2018

Eine 61-jährige Patientin wird aufgrund von Asthenie mit Gewichtsverlust, Muskelschmerzen, Schwindelanfällen und Gangunsicherheit während einer COPD-Exazerbation ins Spital eingewiesen.

Fallbeschreibung

Eine 61-jährige Patientin, aktive Raucherin mit 100 Packungsjahren (PJ), wird aufgrund von Asthenie mit ­einem Gewichtsverlust von 12 kg in drei Monaten, Muskelschmerzen, Schwindelanfällen (kein Drehschwindel) und Gangunsicherheit während einer Exazerbation ihrer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) ins Spital eingewiesen.
Eine wegen der Schwindelanfälle angefertigte Schädel-Magnetresonanztomographie (MRT) weist auf einen subakuten ischämischen Schlaganfall im linken Kleinhirn mit einer 3 mm grossen Läsion hin. Die weitere Untersuchung lässt auf eine kryptogene Ursache schliessen. Eine Behandlung mit Acetylsalicylsäure und Atorvastatin wird eingeleitet.
Des Weiteren sind auf dem Eintritts-Thoraxröntgenbild mediastinale Adenopathien zu sehen, die in der Computertomographie (CT) bestätigt werden. Nach erfolglosen transbronchialen Biopsien wird mediasti­noskopisch ­biopsiert, wobei ein kleinzelliges Lungenkarzinom festgestellt wird. Die weitere Untersuchung mittels PET-CT zeigt keine Fernmetastasen und ergibt die Einstufung des Tumors ins Stadium «limited disease». Ein erster Chemotherapiezyklus mit Cisplatin und Etoposid wird begonnen, der bis auf eine vorübergehende Agranulozytose ohne Komplikationen verläuft.
Kurz vor dem zweiten Chemotherapiezyklus und dem Beginn einer begleitenden Strahlentherapie wird die Behandlung dadurch verkompliziert, dass die Patientin die Zusammenarbeit grösstenteils verweigert. Sie beklagt sich, dass die unspezifischen Schwindelanfälle, die Gangunsicherheit und die extreme Asthenie noch immer bestehen, wodurch sie nicht aus dem Bett aufstehen könne. Ihre Familie gibt an, dass dies ein Verleugnungs- und Rückzugsverhalten sei, das sie bei Schwierigkeiten schon immer gezeigt habe. Nichtsdestotrotz spricht sich die Patientin für die Fortsetzung der onkologischen Behandlung aus. Überdies kommt sie für ein experimentelles Immuntherapieprotokoll zusätzlich zur Strahlen- und Chemotherapie infrage.
Bei der klinischen Untersuchung ist die Patientin apathisch mit beständigem feinschlägigem Tremor der oberen Gliedmassen sowie einer Gangunsicherheit ohne Lateralisation oder Retropulsion. Diese Sym­ptome waren bereits bei der Aufnahme vorhanden und sind im Verhältnis zu der im Schädel-CT sichtbaren ­Läsion überproportional stark ausgeprägt. Ferner stellen wir fest, dass die Patientin Gedächtnislücken im Kurzzeitgedächtnis aufweist und zahlreiche vor Kurzem stattgefundene Arztgespräche vergessen hat. Die übrigen Ergebnisse der klinischen Untersuchung sind unauffällig.

Frage 1: Welche Vorgehensweise ist derzeit am wenigsten sinnvoll?


a) Bestellung der Familienmitglieder und der Patienten zur Besprechung der Situation
b) Ein Konsilium mit der Liaison-Psychiatrie
c) Eine Reevaluation der onkologischen Behandlung
d) Eine Laboruntersuchung auf Stoffwechselstörungen
e) Der Beginn einer systemischen Kortikoidtherapie
In einer derartigen Situation besteht die Hauptbefürchtung darin, dass die Patientin zunehmend abbaut, ihre Leistungsfähigkeit abnimmt und somit die onkolo­gische Behandlung nicht fortgesetzt werden kann. Die Bestellung der Familienmitglieder und der Patientin zur Besprechung der Situation, ein Gespräch mit einem Psychiater, eine Reevaluation der onkologischen Behandlung und die Suche nach einer stoffwechselbedingten Ursache erscheinen zunächst am geeignetsten zu sein, um die Situation positiv zu verändern. Durch die Diskussion mit der Familie kann die Patientin wieder Kontakt zu ihren Kindern aufnehmen, von denen sie sich distanziert hatte, erkennen, dass sie unterstützt wird und Ziele bezüglich ihrer gesundheitlichen Fortschritte festlegen.
Ferner wird aufgrund des Verdachts auf eine Anpassungsstörung eine psychiatrische Unterstützung mit einer zweimal wöchentlichen Konsultation organisiert, da die Patientin nach der Verkündung der onkologischen Diagnose eine ängstliche und depressive Reaktion gezeigt hat.
Die onkologische Situation wird zusammen mit den Onkologen und der Patientin besprochen und die geplante kurative Therapie wird fortgeführt.
Die Suche nach einer stoffwechselbedingten Ursache zeigt weder eine Störung des Elektrolythaushalts noch der Nieren- oder Leberfunktion. Die Laboruntersuchung ergibt lediglich eine Leukozytose von 22 G/l (Normwert: 4–10 G/l) infolge der Verabreichung von Pegfilgrastim.
Der Beginn einer Kortikoidtherapie ohne eindeutige Ätiologie ist nicht angezeigt und könnte bei einer infektiösen Ursache, die derzeit nicht ausgeschlossen ist, sogar schädlich sein.
Trotz dieser Massnahmen ist nach einer mehrtägigen Beobachtungsdauer keine wirkliche Verbesserung zu verzeichnen.

Frage 2: Welche Diagnose ist derzeit am ­unwahrscheinlichsten?


a) Psychiatrische Ursache
b) Fokale Epilepsie
c) Paraneoplastisches Syndrom
d) Infektiös bedingte Meningoenzephalitis
e) Nebenwirkungen der Chemotherapie
Eine psychiatrische Komponente wird stark vermutet, erklärt jedoch nicht die Anomalien des neurologischen Status, die überdies zu stark sind, um ausschliesslich durch die in der MRT sichtbare Läsion des linken Kleinhirns bedingt zu sein.
Eine fokale Epilepsie mit gestörtem Bewusstseinszustand kann sich in Form von Gedächtnis- und Verhaltensstörungen äussern und muss ebenfalls in Betracht gezogen werden, obgleich sie häufig mit Stereotypien (Kaubewegungen, Klonien) einhergeht, die bei unserer Patientin nicht vorliegen.
Im Zusammenhang mit dem kleinzelligen Lungenkarzinom werden zahlreiche paraneoplastische Syndrome beschrieben und sollten, wenn keine andere eindeutige Ursache festgestellt werden kann, untersucht werden. Im vorliegenden Fall denken wir insbesondere an paraneoplastische Enzephalitiden und einen paraneoplastischen Morbus Cushing.
Eine infektiös bedingte Meningoenzephalitis ist ebenfalls möglich und muss rasch ausgeschlossen werden, da eine frühzeitige Behandlung, je nach Ätiologie, zu einer signifikanten Verbesserung der neurologischen Prognose beiträgt.
Neurologische Nebenwirkungen von Cisplatin kommen häufig vor, äussern sich jedoch vor allem in Form von dosisabhängigen peripheren Störungen wie einer pe­ripheren Polyneuropathie, Retina- oder Ototoxizität, obgleich auch seltene Fälle von Enzephalopathie und konvulsiven Anfällen, insbesondere bei intraarteriellen Injektionen, beschrieben wurden. Auch Etoposid kann, in geringerem Masse, periphere neurologische Störungen verursachen. Diese Diagnose ist demnach am unwahrscheinlichsten.

Frage 3: Welche Zusatzuntersuchung hat vor diesem Hintergrund die geringste diagnostische Aussagekraft?


a) Eine Elektroenzephalographie (EEG)
b) Eine Lumbalpunktion
c) Ein grosses Blutbild, Blutsenkungsgeschwindigkeit, Kreatinin, Leberwerte, antinukleäre Antikörper, Komplementfaktoren
d) Eine Schädel-MRT
e) Eine PET-CT des Schädels
Die EEG ist die Untersuchung der Wahl zur Diagnos­tizierung einer Epilepsie und erweist sich bei unserer Patientin ­als unauffällig.
Eine Lumbalpunktion ist zur Untersuchung auf eine eventuelle Enzephalitis mit möglicher infektiöser, ­paraneoplastischer oder karzinogener Ätiologie unerlässlich. Sie ergibt einen Eröffnungsdruck von 18 cm/H2O, einen erhöhten Proteingehalt von 1195 mg/l (Normwert: 160–460 mg/l) und eine lymphozytäre Pleozytose mit 30 Leukozyten/mm3 (Normwert: 0–4 Leukozyten/mm3), davon 95% Lymphozyten. Des Weiteren werden mikrobiologische Kulturen, ein Virusnachweis mit PCR sowie die Suche nach Autoantikörpern angeordnet.
Die Suche nach einer autoimmunbedingten Ursache, wie einem systemischen Lupus erythematodes, ist angesichts der vor Kurzem bestimmten, unauffälligen ­Laborwerte wahrscheinlich wenig aussagekräftig.
Die MRT ist das bildgebende Verfahren erster Wahl zur Suche nach Anzeichen einer autoimmunbedingten ­Enzephalitis, kann jedoch bei zu früher oder zu später Durchführung aufgrund antineuronaler, gegen Membran- und Synapsenantigene gerichteter Antikörper unauffällig sein.
Die PET-CT ist eine ebenfalls sehr sensitive, jedoch kostenintensivere und schwerer zugängliche Alternative.

Frage 4: Wie sollte weiter vorgegangen werden, bis die endgültigen Ergebnisse vorliegen?


a) Durchführung einer systemischen Kortikoidtherapie
b) Behandlung mit Aciclovir
c) Behandlung mit Ceftriaxon
d) Intravenöse Immunglobulintherapie
e) Klinische Beobachtung
Bei Laborwerten, die mit einer infektiösen Enzephalitis­ursache kompatibel sind, muss bis zum Ausschluss ­einer Herpes-Enzephalitis eine Aciclovirbehandlung durchgeführt werden. Eine einfache klinische Beobachtung ist also nicht angemessen. Eine Kortikoidtherapie ist nicht angezeigt, bevor eine Infektion ausgeschlossen wurde. Bei fehlenden Hinweisen auf eine bakteriell bedingte Meningoenzephalitis ist eine Antibiotikatherapie mit Ceftriaxon nicht gerechtfertigt. Ebenso verhält es sich bezüglich einer intravenösen Immunglobulintherapie, wenn eine eindeutige Diagnose fehlt.
Die mikrobiologischen Resultate der Lumbalpunktion sind negativ, aber die CV2/CRMP5-Autoantikörper im Liquor und im Blutplasma sind eindeutig positiv [1]. Ein erneuter PET-Scan während der Untersuchung vor dem Einschluss in die onkologische Immuntherapie zeigt typische Anzeichen einer limbischen Enzephalitis, was durch eine erneute Schädel-MRT (Abb. 1) bestätigt wird.
Abbildung 1: PET-CT und Schädel-MRT des klinischen ­Fallbeispiels. 
 A) PET-CT mit symmetrischem beidseitigem starkem Hypermetabolismus der Striata bei moderatem diffusem Hypometabolismus der übrigen Hirnrinde. 
 B) Die Schädel-MRT zeigt eine beidseitige Läsion des Caput nuclei caudati mit einer T2- und FLAIR-Hyperintensität und einem Ödem des linken Nucleus caudatus.

Frage 5: Welche Behandlung gehört nicht zur First-Line-Therapie bei einer autoimmunbedingten Enzephalitis?


a) Eine Plasmapherese
b) Eine Kortikoidtherapie
c) Rituximab ± Cyclophosphamid
d) Die Behandlung der onkologischen Erkrankung
d) Eine Intravenöse Immunglobulintherapie
Eine intravenöse Immunglobulintherapie, eine Kortikoidtherapie und eine Plasmapherese allein oder in Kombination sind die First-Line-Therapien bei einer autoimmunbedingten Enzephalitis, wobei die Behandlung der zugrunde liegenden onkologischen Erkrankung bei bekannter paraneoplastischer Ursache am wichtigsten ist. Rituximab, in Kombination mit Cyclophosphamid oder als Monotherapie, stellt, zusammen mit anderen Immunsuppressiva (Mykophenolat-Mofetil, Azathioprin, Tacrolimus), die Second-Line-Therapie dar, die nur bei Nichtanschlagen der oben genannten Therapien oder als kortisonsparende Behandlung zum Einsatz kommt.

Diskussion

Autoimmunbedingte Enzephalitiden sind eine Kate­gorie neurologischer Syndrome, deren medizinische Erkennung sich in den letzten zehn Jahren deutlich verbessert hat [2]. Dabei handelt es sich um Entzündungen des zentralen und/oder peripheren Nervensystems mit gegen intra- oder extrazelluläre Epitope gerichteten Autoantikörpern, die als Marker für die Erkrankung dienen oder direkt für die beobachteten Sym­ptome verantwortlich sein können [3, 4]. So können zahlreiche typische klinische Erscheinungsbilder unterschieden werden, bei denen üblicherweise subakute kognitive und Verhaltensstörungen mit komplexeren Anomalien wie Beeinträchtigungen der Augen, des Kleinhirns, peripheren Neuropathien oder anormalen Bewegungen, konvulsiven Anfällen oder Koma assoziiert sind [5].
Ein Grossteil der Erkrankungsfälle tritt zusammen mit bestimmten Krebsarten auf, weshalb sie als paraneoplastische Enzephalitiden bezeichnet werden. In einigen Fällen werden sie sogar vor der Krebserkrankung dia­gnostiziert, nach welcher demzufolge auch immer ­gesucht werden sollte. Am häufigsten sind paraneoplastische Enzephalitiden mit dem kleinzelligen Bronchialkarzinom assoziiert (75% der Fälle), sie treten jedoch ebenfalls häufig zusammen mit Ovarial-, Brust-, Hoden-, Thymuskarzinomen, neuroendokrinen Tumoren sowie bestimmten Lymphomen auf. Die Pathophysiologie ist nicht genau bekannt, hat jedoch mit der Produktion von Autoantikörpern durch molekulare Mimikry oder von Antikörpern zu tun, die zytotoxische T-Lymphozyten im zentralen Nervensystem aktivieren können.
Zunächst gibt es zahlreiche Differentialdiagnosen, darunter infektiös und entzündlich bedingte Enzephali­tiden (disseminierter Lupus erythematodes, Behçet-Krankheit, Vaskulitiden) sowie toxische (malignes neuroleptisches und serotonerges Syndrom) und metabolische Ursachen (Wernicke-Enzephalopathie). Seltener sind Prionenerkrankungen oder rasch progrediente Demenzformen für die Erkrankung verantwortlich.
Die Diagnosestellung beruht vor allem darauf, dass diese Syndrome klinisch erkannt werden. Dazu ist es erforderlich, aktiv nach den spezifischen Autoantikörpern im Blut und Liquor zu suchen. Zusätzlich zu den Laboruntersuchungen werden eine EEG sowie eine MRT und eventuell eine PET-CT des Schädels angefertigt, ­solange die Resultate der Autoantikörperbestimmung noch nicht feststehen, wodurch die diagnostische Aussagekraft erhöht wird.
Die Behandlung umfasst üblicherweise eine zielgerichete Therapie bei einer zugrunde liegenden onkologischen Erkrankung sowie eine immunsuppressive Therapie mit Kortikosteroiden und zusätzlicher intravenöser Immunglobulingabe. Letzterer wird heute der Vorzug gegenüber einer Plasmapherese gegeben, die aufgrund der häufigen Unruhe der betroffenen Patienten schwerer durchzuführen ist. Als Second-Line-Therapien kommen Immunsuppressiva wie Rituximab, Cyclophosphamid, Mykophenolat-Mofetil, Azathioprin oder Tacrolimus zum Einsatz, die jedoch weniger gut untersucht sind und deren Wirksamkeit variabel ist [6].
Meist ist die Prognose schlecht und es erfolgt keine vollständige Heilung. In jedem Fall sind lange Neurorehabilitationsaufenthalte erforderlich.

Antworten


Frage 1: e. Frage 2: e. Frage 3: c. Frage 4: b. Frage 5: c.
Die Autoren möchten Prof. Renaud Du Pasquier für seine wertvollen Anmerkungen sowie Dres. A. Van-de-Gucht, N. Schaefer, A. Gallot-­Lavallée und P. Maeder von der Abteilung für Nuklearmedizin bzw. Radiologie für die Befundung der Aufnahmen danken.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Jonathan Tschopp
Service de médecine interne,
Centre hospitalier
universitaire vaudois (CHUV)
Av. Montchoisi 20A
CH-1006 Lausanne
jonathan.tschopp[at]chuv.ch
1 Rosencher L, Ferroir JP, et al. Syndrome neurologique paranéoplasique à anticorps anti-CV2/CRMP5 révélateur d’un cancer bronchique à petites cellules. Efficacité d’un traitement du cancer bronchique. Rev Neurol. 2012;168:371–4.
2 Graus F, Dalmau J, et al. A clinical approach to diagnosis of autoimmune encephalitis, Lancet Neurol. 2016;15:391–404.
3 Lancaster E. The Diagnosis and Treatment of Autoimmune Encephalitis. J Clin Neurol. 2016;12(1):1–13.
4 Höftberger R, Rosenfeld MR, Dalmau J. Update on neurological paraneoplastic syndromes. Curr Opin Oncol. 2015;27:489–95.
5 Zekeridou A, Ferfoglia RI, et al. Syndromes neurologiques paranéoplasiques: mise à jour. Rev Med Suisse. 2016;12:832–9.
6 Gastaldi M, Thouin A, Vincent A. Antibody-Mediated Autoimmune Encephalopathies and Immunotherapies. Neurotherapeutics. 2016;13:147–62.