Translationale Medizin: Implementierung und Dissemination wissenschaftlicher Erkenntnisse
Worum geht es dabei?

Translationale Medizin: Implementierung und Dissemination wissenschaftlicher Erkenntnisse

Editorial
Ausgabe
2018/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03239
Schweiz Med Forum 2018;18(15):319-320

Affiliations
a Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM), Universität Bern, Bern; b Policlinique Médicale Universitaire (PMU), Université de Lausanne, Lausanne

Publiziert am 11.04.2018

Worum geht es dabei?

Auf der Konferenz, über die Niquille et al. [1] im aktuellen Swiss Medical Forum berichten, wurden die Themen Implementierungswissenschaft und translationale Forschung behandelt. Da es sich dabei um junge Wissenschaften handelt, sind ihre Bezeichnungen und Methoden noch in Entwicklung begriffen. In Kanada ist von translationaler Forschung die Rede, in den USA von Implementierungs- und Disseminationswissenschaft und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von Implementierungsforschung. Im Programm der USA ­gegen die HIV-Epidemie wird die Implementierungswissenschaft beschrieben als «die Untersuchung von Methoden, um die Übernahme, Umsetzung und Übertragung von Forschungsergebnissen in die tägliche Praxis zu verbessern, sowie die Erforschung der besten Möglichkeiten, um Erkenntnisse und Entdeckungen in Bezug auf medizinische Herausforderungen der Gemeinschaften anzuwenden» [2, 3]. Die translationale Medizin ist entstanden, weil die klassischen Forschungsmethoden bei der Findung konkreter Lösungen für weltweite Epidemien wie HIV und chronische Erkrankungen an ihre Grenzen kommen [2–5].

T1 bis T4: Modell der Translationsstufen

Für den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (SNF) stellen die Programme zur Förderung der «translationalen Medizin» Studien «an der Schnittstelle zwischen Grundlagen- und klinischer Forschung» dar [6]. Ein typisches Beispiel für die «bench to bedside»-Forschung ist die Prüfung der Wirksamkeit eines in Labortests vielversprechenden Wirkstoffs an einer geringen Pa­tientenzahl in der klinischen Praxis. Das «National In­stitute of Health» (NIH), die wichtigste Behörde zur Finanzierung der medizinischen Forschung in den USA, schlägt ein Modell vor, das die translationale Forschung in vier Stufen unterteilt (Abb. 1) [7–9]. Dabei stellen die Stufen T1 bis T4 die vier wichtigsten Stadien der Translation einer wissenschaftlichen Entdeckung in die Gesundheitseinrichtungen und die Gemeinschaft im Allgemeinen dar. Jede Stufe hat ihren eigenen Kompetenzbereich und ihre ­eigenen Methoden. Verfolgen wir einmal ein Beispiel für die Translation eines vielversprechenden Wirkstoffs ins Gesundheitswesen. Nach Wirksamkeitsstudien mit dem Wirkstoff an einer begrenzten Patientenzahl (T1) finden in Stufe T2 der translationalen Medizin klinische Phase-2- und -3-Studien (klinische Studien an gesunden freiwilligen Probanden, klinische Wirksamkeitsstudien gegenüber Plazebo oder einem anderen Wirkstoff) oder systematische Reviews von Wirksamkeitsstudien statt. Befindet sich der Wirkstoff auf dem Markt und kommt im Gesundheitswesen zur Anwendung, werden in Stufe T3 der translationalen Forschung Studien zu den Auswirkungen auf das Gesundheitsbudget und die Gesundheit einer Patientengruppe sowie Studien zur Erhöhung der Verschreibungshäufigkeit des Wirkstoffs durchgeführt. Zu Stufe T4 der translationalen Forschung gehören schliesslich Studien zur Implementierung in anderen Gesundheitseinrichtungen und Organisationen wie weltweiten Gesundheitsinitiativen. Richtet man sich nach diesem Modell, entsprächen die Methoden und Arbeiten, die von den Rednern auf dem von der Universitäts-Poliklinik (PMU) Lausanne organisierten Symposium vorgestellt wurden, den Stufen T3 und T4.
Abbildung 1: Translationale Medizin: Stufenmodell der Implementierung einer Entdeckung der Grundlagenforschung in die Gemeinschaft im ­Allgemeinen ­(adaptiert nach [7, 9]).

Neue Methoden zur Zielerreichung

Die Implementierungswissenschaft ist eindeutig interdisziplinär, da sie Techniken aus Soziologie, Wirtschaft, Politikwissenschaft, Anthropologie und Wissenschaftsphilosophie miteinander verbindet [5]. Ihre Vielfalt spiegelt sich in den zahlreichen als theoretischer Rahmen und methodische Unterstützung vorgeschlagenen ­Modellen wider [10]. Das auf der Konferenz vorgestellte Tool PRECIS-2 ermöglicht es, verschiedene Implementierungsstufen zu überwachen. Ein weiteres Tool, das häufig zur Planung von Implementierungsstudien im T3-Bereich eingesetzt wird, ist das Modell «Reach, Effectiveness, Adoption, Implementation, Maintenance» (RE-AIM) [11, 12]. Während sich randomisierte kontrollierte Studien auf die Wirksamkeit der Intervention («Effectiveness») konzentrieren, ermöglicht es das ­RE-AIM-Modell, systematisch Daten über die zur Studienteilnahme rekrutierten Personen («Reach»), die tatsächlich teilnehmenden Probanden («Adoption»), die Bemühungen der Forscher zur Verbesserung der Praxis («Implementation») und die langfristige Wirksamkeit der Intervention («Maintenance») zu sammeln. Andere Modelle wie PRECEDE-PROCEED schlagen vor, den gesamten Prozess der Bedürfnisermittlung, des Design, der Umsetzung und Evaluierung der Gesundheitsprogramme gemeinsam mit der Zielgruppe des entsprechenden Programms zu planen [13]. Vor Kurzem hat eine interdisziplinäre Gruppe erkannt, dass es vieler theoretischer Rahmenstrukturen bedarf, um über die Implementierung wissenschaftlicher Entdeckungen nachzudenken respektive diese zu planen. Deshalb schlug sie vor, ein «Consolidated Framework for Implementation Research» (CIFR) zu schaffen, anhand dessen die entsprechenden Faktoren wie Umfeld, Organisation, Innovation und deren Umsetzung ermittelt werden können, welche einen Einfluss auf die Übernahme von Innovationen haben [14, 15]. Derzeit hat sich in komparativen Studien keines der Modelle als überlegen herausgestellt. Folglich wird die Wahl des Implementierungsmodells durch den Implementierungskontext, die Anforderungen der Geldgeber oder die Erfahrung der Forscherinnen und Forscher mit der Anwendung des entsprechenden Modells vorgegeben.

Die Dissemination der Implementierungs­wissenschaft in der Schweiz

Die Durchführung des Symposiums und der Bericht darüber im Swiss Medical Forum stellen eine hervorragende Gelegenheit dar, um die Bedeutung der Implementierungswissenschaft für die Verbesserung des Gesundheitssystems und der Gesundheit der Schweizer Bevölkerung im Allgemeinen hervorzuheben. Finanziert werden die entsprechenden Projekte durch das aktuelle NFP 74 «Smarter Medicine», das 29 Forscherteams in der Schweiz ermöglicht, Methoden zur Verbesserung des Gesundheitssystems zu entwickeln und zu testen. Das Programm ist jedoch auf vier Jahre beschränkt und es bestehen grosse Unsicherheiten bezüglich der Zukunft der Implementierungswissenschaft nach NFP 74. Bei Anwendung des T1- bis T4-Stufenmodells durch den SNF könnte die Höhe der gewährten Ressourcen in den Stadien T1 bis T4 bestimmt werden. Ohne eine genaue Definition der Inhalte der translationalen Forschung und vor allem ohne finanzielle Mittel zur Förderung der wissenschaftlichen Kapazitäten, um die Stufen T2 bis T4 zu entwickeln, verbleiben die Resultate der Grundlagenforschung in den Labors und klinischen Forschungsin­stituten, in denen die T1-Studien durchgeführt werden. Wenn für die Stufen T2 bis T4 nur sehr geringe finanzielle Mittel zur Verfügung stehen respektive vom SNF nicht gewährt werden können, müssen innovative Finanzierungslösungen geschaffen werden. So wurde etwa in den USA zusammen mit den Akteuren der einzelnen Implementierungsstufen das «Patient-centered Outcomes Research Institute» (PCORI), ein In­stitut zur Ad-Hoc-­Finanzierung, entwickelt [16].
Bleibt zu hoffen, dass auf Initiativen wie das Symposium an der PMU weitere Veranstaltungen zu dieser Thematik folgen, dass es gelingt, Möglichkeiten zur Ad-Hoc-Finanzierung zu finden und dass die nächste Forschergeneration die entsprechenden Techniken erlernen kann, um Projekte zur Verbesserung unseres Gesundheitssystems und der Gemeinschaft im übergeordneten Sinne, methodisch angehen zu können.
Der Autor deklariert, Forschungsmittel vom SNF 407440_167519 im Rahmen des Programms NFP 74 «Smarter Medicine» und vom IICT 33IC30_173552 im Rahmen des Programms «Investigator Initiated Clinical Trials» (IICT) erhalten zu ­haben.
Prof. Dr. med. Reto Auer
Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM),
Universität Bern, Bern
Policlinique Médicale
Universitaire (PMU) de Lausanne
Rue du Bugnon 44
CH-1011 Lausanne
reto.auer[at]biham.unibe.ch
 1 Niquille A, Lengeler C, Treweek S, Meurice F, Bonsack C, Senn N. Translating and implementing ­research – From bench to bed … to real world! Swiss Medical Forum. 2018;18(15):321–324.
 2 El-Sadr WM, Philip NM, Justman J. Letting HIV Transform Academia – Embracing Implementation Science. N Engl J Med. 2014;370:1679–81.
 3 Padian NS, Holmes CB, McCoy SI, Lyerla R, Bouey PD, Goosby EP. Implementation science for the US President’s Emergency Plan for AIDS Relief (PEPFAR). J Acquir Immune Defic Syndr. 2011;56:199–203.
 4 Berwick DM. Disseminating Innovations in Health Care. JAMA. 2003;289:1969–75.
 5 Gonzales R, Handley MA, Ackerman S, O’Sullivan P S. A framework for training health professionals in implementation and dissemination science. Acad Med. 2012;87:271–8.
 6 Aktionsplan 2013–2016. Umsetzung des Mehrjahresprogramms des SNF. Bern: Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung, 2013.
 7 Dougherty D and Conway PH. The «3T’s» road map to transform US health care: the «how» of high-quality care. JAMA. 2008;299:2319–21.
 8 Sung NS, Crowley WF, Jr., Genel M, et al. Central challenges facing the national clinical research enterprise. JAMA. 2003;289:1278–87.
 9 Harvard Catalyst. The Harvard clinical and translational science center. Pathfinder.
10 Lau R, Stevenson F, Ong BN, et al. Achieving change in primary care – effectiveness of strategies for improving implementation of complex interventions: systematic review of reviews. BMJ Open. 2015;5:e009993.
11 Glasgow RE. RE-AIMing research for application: ways to improve evidence for family medicine. J Am Board Fam Med. 2006;19:11–9.
12 Gaglio B, Shoup JA, Glasgow RE. The RE-AIM framework: a systematic review of use over time. Am J Public Health. 2013;103:e38–46.
13 Crosby R and Noar SM. What is a planning model? An introduction to PRECEDE-PROCEED. Journal of Public Health Dentistry. 2011;71:S7–S15.
14 Damschroder LJ, Aron DC, Keith RE, Kirsh SR, Alexander JA, Lowery JC. Fostering implementation of health services research findings into practice: a consolidated framework for advancing implementation science. Implement Sci. 2009;4:50.
15 Fisher ES, Shortell SM, Savitz LA. Implementation Science: A Potential Catalyst for Delivery System Reform. JAMA. 2016;315:339–40.
16 Patient Centred Outcomes Research Institute (PCORI).