Stenosen des Spinalkanals – wann und wie operieren? Alternativen?
Jede Operationsindikation muss kritisch hinterfragt werden

Stenosen des Spinalkanals – wann und wie operieren? Alternativen?

Editorial
Ausgabe
2018/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03277
Schweiz Med Forum 2018;18(17):365-366

Affiliations
Universitätsklinik für Neurochirurgie, Inselspital, Bern

Publiziert am 24.04.2018

Muss wirklich operiert werden? Welche Alternativen gibt es noch? Was ist die richtige Technik? Mit welchem Ergebnis ist zu rechnen? Das sind typische Fragen, die sich der Patient vor einer Rückenoperation stellt. Für den Patienten ist der Hausarzt eine vertraute Kompetenz, weswegen solche Fragen häufig dort gestellt werden. Obwohl die konkrete Behandlung des Patienten eine individuelle Entscheidung ist, gibt es generelle Grundsätze, die in der Behandlung als Entscheidungsfundament angewandt werden sollten.
Die lumbale Spinalkanalstenose ist bei älteren Patienten der häufigste Grund für eine Wirbelsäulenoperation. Nicht wenige Patienten quält die Angst vor negativen Folgen der Rückenoperation bis hin «im Rollstuhl zu landen». Sie vermeiden die Konsultation beim Spezialisten und nehmen oft lange Leidensgeschichten und schleichende Einbussen in ihrer Lebensqualität in Kauf. Diese Angst ist aber nicht gerechtfertigt.
Dennoch, jede Operationsindikation muss kritisch hinterfragt werden. Dafür lohnt es sich, immer wieder einen Blick auf die aktuellsten Studien und den zu erwartenden Nutzen dieser Operationen für den Patienten zu werfen.
Wie auch in der aktuellen Ausgabe des Swiss Medical Forum zu lesen ist [1], steigt die Lebenserwartung der Bevölkerung stetig und mit ihr der Anspruch, die ­Mobilität und damit die Lebensqualität bis ins hohe Alter zu erhalten. Bei den meisten Patienten, die über die typischen Schmerzen im Gesäss oder in den Beinen mit oder ohne Rückenschmerzen klagen, handelt es sich um eine relative Operationsindikation, unabhängig davon, wie ausgeprägt die Stenose in der Ma­gnetresonanztomographie ist. Nur sehr selten sind schwere neurologische Ausfälle vorhanden, die eine Operation absolut notwendig machen. Das Problem findet sich eher auf der anderen Seite der Operationsindikation. Schmerzen im Gesäss, Bein oder Rücken führen oft zur Bildgebung, die dann wenig über­raschend «pathologische» Befunde zeigt. Befunde, die auch bei Menschen ohne Beschwerden Ausdruck einer altersbedingten Degeneration und Abnutzung des jeweiligen Bewegungssegmentes sind. Relevant sind nur solche bildmorphologischen Befunde, die das vorliegende Beschwerdebild erklären. Diese Korrelation richtig einzuschätzen, ist die Aufgabe des Wirbelsäulenchirurgen und die wichtigste Grundlage für ein erfolgreiches Operationsergebnis. Nicht selten liegen weder eine Dringlichkeit noch eine klare Korrelation von Bild und Klinik vor. Hier sind die neurologische, rheumatologische oder konservativ orthopädische Abklärung und Therapie notwendig. Neue Studien ­zeigen auch, dass die Patienten, welche die Operation trotz bestehender Indikation zunächst aufschieben und weiter konservativ therapiert werden, das gleiche gute Ergebnis nach einer späteren Operation erreichen.

Es gibt nicht den «einen richtigen Weg»

Im Hinblick auf die Operationsmöglichkeiten existieren viele – vor allem persönliche – Überzeugungen des Wirbelsäulenchirurgen. Daher gibt es nicht den «einen richtigen Weg». Die operativen Möglichkeiten sind vielfältig: beginnend bei einer alleinigen mikrochirurgischen Dekompression oder in Ergänzung mit dorsaler Stabilisation und interkorporeller Cage-Einlage von posterior oder transforaminal bis hin zu ventralen und lateralen Fusionen. Da als pathophysiologische Ursache einer lumbalen Stenose von einer zugrunde liegenden (Mikro-)Instabilität ausgegangen wird, scheint es logisch, den Eingriff mit einer Fusion des Bewegungssegmentes zu verbinden. Der Begriff der «Instabilität» ist aber nicht einheitlich definiert und der Interpreta­tionsspielraum sehr gross. In zwei methodisch hochwertig durchgeführten Studien, die zu diesem Thema 2016 prominent im New England Journal of Medicine publiziert wurden, zeigt sich einmal mehr, dass der kleinere Eingriff ebenso effektiv und mit weniger Komplikationen verbunden ist [2, 3]. Eine mikrochirurgische Dekompression ohne Instrumentierung ist selbst bei leichter Spondylolisthesis in den meisten Fällen ausreichend, wenn keine klare Instabilität vorliegt. Da es sich bei der lumbalen Stenose um eine fortschreitende Verschleisserkrankung handelt, sollte der Pa­tient auch darüber informiert sein, dass die Reoperationsrate durch Degeneration von Anschlusssegmenten oder eine sekundäre Instabilität in den nächsten Jahren bei 10–20% liegt.
Auch die sogenannte «sagittale Balance» ist mittlerweile ein wichtiges Kriterium in der Beurteilung des Wirbelsäulenpatienten. Durch eine zunehmende Kyphosierung im Alter verlagert sich das Lot der Wirbelsäule nach anterior. Dies führt zu einer erhöhten Muskelarbeit und verstärkten Degeneration verbunden mit entsprechenden Beschwerden. Obwohl nur wenige Patienten schlussendlich eine ausgedehnte und über viele Segmente sich erstreckende aufrichtende rebalancierende Operation benötigen, zeigen diese Indikationen auch das Konzept, nicht allein die am schwersten betroffenen Segmente, sondern die Gesamtstatik der Wirbelsäule zu berücksichtigen und damit langfristig ein besseres Ergebnis zu erreichen.
Insgesamt tut sich viel im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie. Es bedarf weiterhin methodisch sauber durchgeführter Studien und einer kritischen Berücksichtigung der Literatur und Evidenz. Nicht zuletzt müssen auch der sozioökonomische Aspekt und der bewiesene Nutzen vermehrt berücksichtigt werden, da die alternde Bevölkerung und die steigenden Patientenzahlen einen verantwortlichen Umgang mit den finanziellen Ressourcen erfordern.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Christian Ulrich
Universitätsklinik für
Neurochirurgie
Inselspital
Freiburgstrasse
CH-3010 Bern
christian.ulrich[at]insel.ch
1 Heini P. Der enge Spinalkanal. Schweiz Med Forum. ­2018;18(17):368–76.
2 Försth P, Ólafsson G, Carlsson T, Frost A, Borgström F, Fritzell P, et al. A Randomized, Controlled Trial of Fusion Surgery for Lumbar Spinal Stenosis. N Engl J Med. 2016;374(15):1413–23.
3 Ghogawala Z, Dziura J, Butler WE, Dai F, Terrin N, Magge SN, et al. Laminectomy plus Fusion versus Laminectomy Alone for Lumbar Spondylolisthesis. N Engl J Med. 2016;374(15):1424–34.