Insulin als Antidot
Hochdosis-Insulin-Euglykämie-Therapie bei einer Venlafaxin-geprägten Mischintoxikation

Insulin als Antidot

Fallberichte
Ausgabe
2018/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03351
Swiss Med Forum. 2018;18(42):867-868

Affiliations
a  Zuger Kantonsspital, Zug; b Tox Info Suisse, Assoziiertes Institut der Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 17.10.2018

Eine 54-jährige Patientin mit bekannter depressiver Störung unter Therapie mit Venlafaxin und Trazodon wurde in einem Waldabschnitt in schläfrigem Zustand aufgefunden.

Hintergrund

Die positiv inotrope Eigenschaft von Insulin ist gut bekannt [1]. Vereinzelt wurde über einen erfolgreichen Einsatz einer Hochdosis-Insulin-Euglykämie-Therapie (HIET [high-dose insulin euglycemia therapy]) bei Toxin-induziertem kardiogenem Schock berichtet, in erster Linie nach Kalziumkanalblocker- und Betablocker-Vergiftungen, bei welchen klassische Therapiemassnahmen zu keiner Kreislaufverbesserung führten [2]. Diese ­therapeutische Anwendung von Insulin ist jedoch ein «Off-label»-Einsatz. Wir stellen den Fall einer lebensbedrohlichen Mischintoxikation mit Venlafaxin, Bisoprolol, Lisinopril, Trazodon und Tizanidin vor, bei welchem sich die hypotonen Blutdruckwerte der Patientin unter der Hochdosis-Insulin-Euglykämie-Therapie rasch normalisierten.

Fallbericht

Eine 54-jährige Patientin mit bekannter depressiver Störung unter Therapie mit Venlafaxin und Trazodon wurde in einem entlegenen Waldabschnitt von Spaziergängern (16:30) in schläfrigem Zustand aufgefunden. Aufgrund der leeren Blister wurde von einer Mischintoxikation mit 10 500 mg Venlafaxin (Efexor®), 75 mg Bisoprolol (Concor®), 900 mg Lisinopril, 2000 mg Trazodon (Trittico®) und 80 mg Tizanidin (Sirdalud®) ausgegangen.
Während der Fahrt in der Ambulanz und bei Eintreffen im Schockraum (17:00) präsentierte sich die Patientin in somnolenten Zustand (GCS 11/15) mit einem Puls von 63/min und einem Blutdruck von 90/60 mm Hg. Zwei periphere Zugänge wurden angelegt und 1500 ml Kristalloide infundiert. Bei weiterem Blutdruckabfall auf 60/30 mm Hg, Puls 68/min und zunehmender Somnolenz erfolgte die Verlegung auf die Intensivstation. Im Verlauf kam es zu einer Verschlechterung der Vigilanz bis zu einem GCS von 7, worauf die Patientin intubiert wurde (18:30). Aktivkohle (1 g/kg Körper­gewicht) zur primären Dekontamination wurde über eine Magensonde verabreicht.
Das initiale EKG zeigt einen normokarden Sinus­rhythmus mit einer Frequenz von 67/min. Die Zeitin­dices waren bis auf eine leichte verlängerte QTc-Zeit (466 ms) normal, ohne Re- oder Depolarisationsstörungen (PQ 176 ms, QRS 88 ms. Die gemischt-venöse Blutgasanalyse (aus dem ZVK, 19:00) zeigte eine Azidose (pH 7,28) mit einem erhöhten Laktat (3,9 mmol). Die Elektrolyte waren normwertig (Kalium 4,5 mmol/l, ­Natrium 140 mmol/l), die Glukose leicht erhöht (10 mmol/l). Der toxikologische Urin-Screen war bis auf Benzodiazepine negativ.
Trotz hochdosierter Katecholamingabe (Noradrenalin 10 μg/min und Dobutamin 300 μg/min) sowie Flüssigkeitsgabe persistierte die Hypotonie mit einem Blutdruck von 70/40 mm Hg, so dass wir uns nach Rücksprache mit Tox Info Suisse für eine intravenöse HIET entscheiden. Die Insulin-Verabreichung erfolgte gemäss des Behandlungsschemas Insulin/Glukose von Tox Info Suisse, das auf deren Homepage (www.toxinfo.ch) verfügbar ist.
Es wurde ein Bolus von 70 E (1 E Insulin/kg Körper­gewicht) eines kurzwirksamen Analoginsulins und ­anschliessend kontinuierlich 70 E/Stunde desselben Insulins verabreicht (19:30). Unter dieser Therapie kam es innerhalb von 20 Minuten zu normotonen Blutdruckwerten. Die Katecholamingabe wurde bis Mitternacht weitergeführt und bis am nächsten Abend ausgeschlichen. Trotz paralleler Glukoseinfusion (40%, 75 ml/h) trat zweimalig eine Hypoglykämie von 2,8 mmol/l bzw. 2,9 mmol/l auf, welche problemlos durch Glukosezufuhr behoben werden konnte. Bei kontinuierlicher Kaliumgabe (max. 15 mmol/h) lagen die Kaliumspiegel nie unter 3,1 mmol/l. 16 Stunden nach Erreichen von normotonen Blutdruckwerten wurde die kontinuierliche Insulingabe langsam reduziert und nach insgesamt 24 Stunden gestoppt. Die Patientin konnte anschliessend problemlos extubiert werden. Trotz initial prolongierter Hypotonie zeigt die Patientin keinerlei neurologische Ausfälle und konnte nach weiteren 48 Stunden komplikationsloser Überwachung zur weiteren Therapie in eine psychiatrische Klinik verlegt werden.

Diskussion

Das bizyklische Antidepressivum Venlafaxin und sein aktiver Hauptmetabolit, O-Desmethyl-Venlafaxin, sind starke Inhibitoren der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme. Schwere kardiovaskuläre Komplikationen nach Venlafaxin-Überdosierungen sind selten. Tachykardie und Hypertonie zeigen sich bei milden und mittelschweren Vergiftungen. In höheren Dosen (über 2 g) kann Venlafaxin kardiotoxisch wirken mit Auftreten von EKG-Veränderungen wie QT-Verlängerung und selten QRS-Verbreiterung sowie akuter linksventrikulärer Dysfunktion. Venlafaxin-Vergiftungen über 2 Gramm können zu Kammerflimmern oder zum kardiogenen Schock führen, welcher typischerweise schlecht auf Katecholamine anspricht [3].
Der Mechanismus, welcher zu diesem Venlafaxin-assoziierten Kreislaufversagen führt, ist noch nicht vollständig geklärt. Eine mögliche Erklärung ist die Katecholamin-induzierte Beeinträchtigung der Myokardfunktion bei Hemmung der Noradrenalin- und Dopaminwiederaufnahme durch Venlafaxin [3].
Die Behandlung eines Venlafaxin-induzierten Kreislaufversagens besteht in erster Linie aus Volumengabe und Verabreichung von Katecholaminen. Zum Einsatz von HIET bei Venlafaxin-Intoxikation gibt es nur vereinzelte Fallberichte. Bei einem 46-jährigen Patienten mit einer Intoxikation von 5250 mg Venlafaxin wurde eine HIET (Bolus von 1 E/kg KG und anschliessende ­Infusion von 1 E/kg/h über 18 Stunden) beim Vorliegen einer Tachykardie und einer LVEF von 18% anstelle ­einer Therapie mit Katecholaminen durchgeführt. Unter dieser Therapie zeigte sich rasch eine Erholung der Kreislaufsituation sowie eine Normalisierung der Nierenfunktion und eine Abnahme des Laktats. Am Tag 3 war die linksventrikuläre Funktion (EF von 65%) wieder normal. Bei einer 46-jährigen Patientin mit einer Mischintoxikation (Amitriptylin, Citalopram, Venlafaxin, Atenolol) normalisieren sich die hypotonen Blutdruckwerte nach erfolgter Reanimation unter einer 60-stündigen HIET [4]. Leider sind in beiden Fallberichten die zeitlichen Verhältnisse bis zur Kreislaufnormalisierung nicht beschrieben.
Die positiv inotrope Eigenschaft von Insulin ist gut belegt [1]. Die Effektivität der HIET bei Intoxikation mit Kalziumantagonisten und Betablockern mit konsekutivem Kreislaufversagen zeigte in Tiermodellen eine klare Überlegenheit im Vergleich zur Verabreichung von Katecholaminen oder Glucagon oder einer Flüssigkeitssubstitution. Zudem gibt es Fallberichte, welche den erfolgreichen Einsatz der HIET zur Therapie des Kreislaufversagens beim Menschen nach Überdosierung durch Kalziumantagonisten und Betablocker beschreiben [2]. Da Venlafaxin und weitere Medikamente in Überdosierung zur Hypoglykämie führen können, sind unter einer HIET die Kaliumwerte initial alle 20 Minuten und die Glukosewerte stündlich zu monitorisieren.
Bei unserer Patientin musste zusätzlich von einer relevanten Trazodon-Intoxikation ausgegangen werden. Kardiotoxizität mit Hypotonie, ventrikuläre Tachykardie und QT-Verlängerung mit konsekutiven Torsades de pointes sind bei Trazodon-Überdosierung be­schrieben. Relevante Rhythmusstörungen zeigte unsere ­Patientin jedoch nicht, möglicherweise geschützt durch die zusätzliche Einnahme von Bisoprolol, anderseits kann dieser Betablocker auch zu Hypotonie führen, dürfte hier aber nicht primär ursächlich gewesen sein, da moderate Betablocker-Überdosierungen bei Herzgesunden in der Regel gut toleriert werden. Die meisten Vergiftungen mit Lisinopril verlaufen leicht mit Hypotonie und Bradykardie. Tizanidin verursacht in erster Linie eine Bradykardie.
Die Wahl der geeigneten Therapie bei Kardiotoxizität in dieser speziellen Kombinationsintoxikation ist schwierig. In Anbetracht der Dosierungen wurde der kar­diogenen Schock der Patientin vor allem auf die Ven­lafaxin-Intoxikation zurückgeführt, möglicherweise verstärkt durch die zusätzliche Einnahme weiterer ­Medikamente mit blutdrucksenkender Wirkung. Bei schweren kardialen Symptomen durch Venlafaxin, die nicht auf eine konventionelle Therapie ansprechen, kann neben der HIET die Gabe von Lipidemulsion ­erwogen werden. Die HIET wurde in der vorliegenden Situation als erste Option empfohlen, da weder Venlafaxin noch Bisoprolol ausgeprägt fettlöslich sind.
Dieser Fall könnte ein weiterer Hinweis sein, dass eine HIET nicht nur bei Kreislaufversagen durch Kalziumantagonisten- und Betablocker-Intoxikation, sondern auch bei Venlafaxin-Überdosierung günstig sein könnte. Falls man sich für eine HIET entscheidet, sollte diese möglichst früh begonnen werden. Relevante ­Nebenwirkungen sind unter regelmässiger Kontrolle der Blutzucker- und Kaliumspiegel gut beherrschbar. Weitere Fallserien werden zeigen, ob sich die HIET zur Behandlung einer Venlafaxin-induzierten Kardiotoxizität etablieren wird.

Das Wichtigste für die Praxis

Dank des nebenwirkungsarmen Profils sollte die Verabreichung einer HIET bei Venlafaxin-induziertem Kreislaufversagen in Betracht gezogen werden, sofern etablierte Therapien ungenügende Wirkung zeigen, auch wenn Insuline nicht ausdrücklich für diese Indikation zugelassen sind («Off-label-Use»).
Wir bedanken uns bei Herrn Dr. med. Hugo Kupferschmidt für die kritische Durchsicht des Manuskripts und seine wertvollen Ergänzungen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Silvan Holdener, dipl. Arzt
Arztpraxis Wilen
Wilenstrasse 126
CH-8832 Wilen bei Wollerau
Silvan[at]holdener.ch
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