Psychiatrie und Psychotherapie: Auf dem Weg zur Cyberpsychiatrie
Schlaglicht der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie

Psychiatrie und Psychotherapie: Auf dem Weg zur Cyberpsychiatrie

Schlaglichter
Ausgabe
2019/0304
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.03442
Swiss Med Forum. 2019;19(0304):54-55

Affiliations
a Service d’Addictologie, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève; b Klinik St. Pirminsberg, Psychiatrie-Dienste Süd, St. Gallen

Publiziert am 16.01.2019

Die psychiatrische Praxis beruht im Wesentlichen auf der zwischenmenschlichen 
Beziehung. Es wäre daher naheliegend, in diesem Bereich einen gewissen Vorbehalt gegenüber Technologien der Cybergesundheit zu erwarten. Aber …

Hintergrund

Wie in den meisten medizinischen Fachrichtungen ­unterliegen auch in der Psychiatrie Forschung und Praxis immer mehr dem Einfluss moderner tech­nischer Entwicklungen. Die psychiatrische Praxis ist geprägt von zwischenmenschlicher Interaktion; daher ist nicht unbedingt zu erwarten, dass die Entwicklung auf dem Gebiet der Cybergesundheit («eHealth») auf gros­se Begeisterung stösst. Die Programme der grossen Kongresse (z.B. der «American Psychiatric Association») und immer umfang­reichere Indus­trie­präsen­tationen neuer Technologien auf diesen Kongressen zeugen aber vom Gegenteil. Die Psy­chiatrie kann sogar zu den «early adoptern» dieser Technologien gezählt werden.

Interventionen der Cybergesundheit

Der chronische Charakter zahlreicher psychiatrischer Störungen und die oft schwankende Behandlungstreue sind die besonderen Herausforderungen, zu deren Bewältigung die neuen Technologien beitragen könnten. So zeichnen sich bestimmte psychiatrische Störungen (z.B. Schizophrenie und Abhängigkeitserkrankungen) durch eine geringe Neigung der Patientinnen und Pa­tienten aus, ärztlichen Rat zu suchen. Hierfür ist auch die gesellschaftliche Stigmatisierung verantwortlich, die mit einer psychiatrischen Störung einhergeht. Jetzt wurde gezeigt, dass der Zugang zu Menschen, die an solchen Störungen leiden (und zum Teil von Präventions-, Therapie- und Rehabilitationsmassnahmen profitieren könnten), signifikant und ökonomisch verbessert werden kann [1]. Mithilfe von Smartphone-Apps beispielsweise können die Patientinnen und Patienten ihre Symptome überwachen [2] und sie leichter kommunizieren [3]. Die Patientenadhärenz lässt sich ebenfalls unmittelbar verbessern [4]. Ein Teilbereich der Cybergesundheit ist die Telegesundheit – das heisst Intervention mittels Telekommunikation: Telemedizin, Telemonitoring, mobile Gesundheit («mHealth») und auf Automatisierung oder Roboter beruhende Techniken, einschliesslich maschinellem Lernen [5].

Bereits eingesetzte Interventionen

Bei der Implementierung von Interventionen der Cybergesundheit können drei Strategien unterschieden werden [6]. Alle drei wurden in der Psychiatrie bereits eingesetzt: (1.) Anwendung von Praktiken der Cybergesundheit in Kombination mit traditionellen Interventionen oder als Ergänzung dazu (Modell «Ausweitung der klinischen Tätigkeit», Steigerung der Reichweite); (2.) als Ersatz für einen Teil der traditionellen Inter­aktion zwischen Arzt und Patient (Zeitgewinn für die Ärztinnen und Ärzte) oder (3.) autonome Interventionen (etwa bei schwer erreichbaren Patienten).
Die Methoden der Datenerhebung können in aktive und passive eingeteilt werden [7]. So können Smartphone-Apps ohne Intervention des Nutzers Orts- und Bewegungsdaten sammeln sowie das Online-Suchverhalten, die Verwendung von Apps und die Kommunikation aufzeichnen. Im Vergleich zur traditionellen Befragung ist die passive Erhebung in der Lage, mehr Daten zu sammeln (die Daten werden in kürzeren Abständen erfasst), die Belastung für die Beteiligten zu verringern und die Quote der Messfehler zu senken. Zahlreiche Interventionsmethoden wurden in der Psychiatrie getestet (siehe [24]); einige gelten heute als ausreichend gesichert, um in der Praxis vermehrt angewendet zu werden. «Clinical decision support systems» (CDSS) dienen der computergestützten Entscheidungsfindung in der klinischen Praxis. Die CDSS der ersten Generation waren das Ergebnis von Forschungen über Algorithmen, mit denen ärztliche Überlegungen simuliert werden sollten. Diese frühen Systeme boten z.B. Expertenempfehlungen für die Diagnose und die Wahl der Medikamente. Später entwickelten sich die CDSS weiter, indem die Regeln im Hinblick auf den ­Zustand und die Daten der Patienten spezifiziert wurden. Bei den CDSS zweiter Generation interagieren die Ärztinnen und Ärzte mit dem System, indem sie gleichzeitig die eigenen Kenntnisse und das CDSS verwenden: Das System macht Vorschläge, die der Arzt übernimmt die Informationen, die relevant erscheinen, und trifft schliesslich die Entscheidung [8]. In der Psychiatrie sind die Symptome oft schwankend und umgebungsabhängig. Ihre Bewertung kann daher wiederholte Erhebungen erfordern, im Idealfall in der ­gewohnten Umgebung des Patienten. «Eco­­lo­gical momentary assessment» (EMA) bedeutet die ­unmittelbare Erfassung von Informationen im authentischen Umfeld und ermöglicht eine «In-vivo-Bewertung» mithilfe mobiler Instrumente. Die Datenerfassung kann aktiv oder passiv oder auf beiden Wegen erfolgen [9]. Maschinelles (oder statistisches) Lernen ist ein Teil­bereich der künstlichen Intelligenz und zielt auf die Entwicklung und Umsetzung von Methoden, durch die sich eine Maschine innerhalb ihrer Funktion weiterentwickeln kann und lernt, ohne explizit programmiert worden zu sein. Die Kopplung des maschinellen Lernens mit zusätzlichen Untersuchungen (etwa Ma­gnet­reso­nanz­tomografie oder EEG) könnte dazu beitragen, Krankheiten frühzeitig zu entdecken und Gruppen mit einem bestimmten Phänotyp zu spezifizieren (z.B. Personen mit Rezidivrisiko). Diese Methoden ermöglichen bereits heute, bei Risikopatienten den Übergang in eine Psychose vorherzusagen [10], neurophysiologische Subgruppen affektiver Störungen zu definieren [11, 12] und einen Rückfall bei abhängigkeitsbedingtem Alkoholkonsum zu prognostizieren [13].

Computergestütztes adaptives Testen

Das computergestützte adaptive Testen («computerized adaptive testing») wurde entwickelt, um die klinische Befragung zu simulieren und beruht auf einer begrenzten Form künstlicher Intelligenz: Es passt die Elemente des Fragebogens automatisch entsprechend der bisher gegebenen Antworten an. Konkret verändert ein Algorithmus nach den ersten allgemeinen Fragen die folgenden Elemente. Zusatzfragen verbessern in der Folge die Genauigkeit der Bewertung.
Die Vorteile dieser Art von Tests sind die verbesserte Leistungsfähigkeit und die kürzere Dauer der Bewertungen. Das ist von Bedeutung, weil die von Patienten berichteten Schwierigkeiten vor allem die zum Aus­füllen der Fragebögen nötige Zeit und die sich wiederholenden Fragen betreffen. Die Methode wurde insbesondere für Depressionen [14], Suizidalität [15] und Angststörungen [16] validiert. Derzeit werden Tests entwickelt, bei denen virtuelle Psychiater-Avatare («embodied conversational agents» – computergenerierte Ansprechpartner) direkt mit den Patienten kommunizieren [17].

Verwendung mobiler Geräte

In vielen mobilen Geräten sind heute Herzfrequenz-, Schlaf-, Hautleitfähigkeit- oder Lichtsensoren eingebaut. Die Möglichkeit zur Erhebung physiolo­gischer Daten in Echtzeit und zur Untersuchung von Symptomen mit einer Smartwatch ist von Interesse im Rahmen der Entwicklung von Biomarkern, die auf psychiatrische Störungen hinweisen [18]. Die Begriffe «digitale Signatur» und «digitaler Phänotyp» wurden in diesem Kontext vorgeschlagen [19]. Bei Abhängigkeitserkrankungen können diese Instrumente vor allem eingesetzt werden, um die physiolo­gischen Veränderungen während der Verwendung von Opioiden (verringerte Lokomotion, erhöhte Hauttemperatur) zu erfassen [20] und den Substanzkonsum in Echtzeit zu überwachen [21], besonders durch Detektion von Metaboliten im Schweiss [22]. Durch das Monitoring des vegetativen Nervensystems (mittels elektrodermaler Aktivität, Elektrokardiogramm und Temperatur) können mit denselben Methoden Stress­ereignisse erfasst und automatische Therapiebotschaften an den Patienten gesendet werden [23].

Vorteile beim «outreach»

Zwar scheinen die Ansätze der eHealth vielen Patientinnen und Patienten im Allgemeinen akzeptabel (unter anderem aufgrund der empfundenen Anonymität), doch kann eine kontinuierliche Teilnahme an diesen Programmen problematisch sein. Ein weiterer Aspekt, der sich derzeit rasch entwickelt, ist die «Gamification», durch die das Patienten-Engagement verbessert und die Therapietreue erhöht werden kann.

Diskussion

Das grösste Problem bei der Cyberpsychiatrie ist derzeit die Vertraulichkeit der Daten und die Achtung der Privatsphäre [6]. Natürlich werden Einwände gegen die massenhafte, teilweise ohne das Wissen der Betroffenen erfolgende Sammlung von Daten und deren mögliche kommerzielle Verwertung laut; dennoch ist es unserer Ansicht nach wichtig, diese technischen Entwicklungen und ihr Potential für die klinische Praxis nicht zu übersehen.
Je mehr Ärztinnen und Ärzte diese Technologien in der Praxis kennen und einsetzen, desto eher sind sie in der Lage, einen effizienten Dialog mit der Industrie zu führen und Programme vorzuschlagen, die klinisch sinnvoll sind und dem Patienteninteresse dienen. Um die Stigmatisierung psychiatrischer Patienten zu bekämpfen, ist es ebenfalls wichtig zu zeigen, dass sie zu solchen Technologien Zugang haben und sie verwenden können, um optimal behandelt zu werden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med.
Daniele Zullino
Service d’Addictologie
Hôpitaux Universitaires de Genève
Grand Pré 70
CH-1202 Genève
daniele.zullino[at]hcuge.ch
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