Editors’ Choice 2018
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Editors’ Choice 2018

Kurz und bündig
Ausgabe
2019/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08029
Swiss Med Forum. 2019;19(0102):3-4

Publiziert am 02.01.2019

Festtagsausgabe

Redaktion und Verlag wünschen Ihnen das Allerbeste für ein glückliches neues Jahr! Die Redaktion hat auch für die 2. Festtagsausgabe «Kurz und bündig» eine Editors’ Choice für Sie zusammengestellt.
© Swisshippo | Dreamstime.com

Editors’ Choice 2018

Pockenviren: die ­Bedrohung bleibt!

Obwohl Pocken (Variola) seit 1980 als eradiziert betrachtet werden, gibt es immer noch Pockenviren in offiziell bekannten und auch geheimen Labors. Zudem dürfte es möglich sein, einen Stamm Variolaviren basierend auf den publizierten genomischen Sequenzen neu herzustellen. Im Moment wären wegen der de facto aufgegebenen Pockenimpfung (CH: auf breiter Basis seit 1972 eingestellt) ­riesige Populationen diesem in 30% tödlich verlaufenden Infekt ausgeliefert. Es gibt mehr als nur begründete Bedenken, dass Pockenviren durch Bioterroristen oder als biologisches Kriegsmittel (gewisse Armeen impfen ihre Soldaten) eingesetzt werden könnten.
Im Rahmen eines speziellen Zulassungsverfahren (siehe erklärenden Text am Schluss: «Keine Wirksamkeitsstudie möglich») wurde die Sub­stanz Tecovirimat nach einem Screen von 350 000 (!) Substanzen als sehr hoch und isoliert wirksam gegen Pockenviren (halbmaximale Wirkung bei ca. 100 nmol/l) identifiziert. Die Substanz konnte in Tiermodellen (Dosierung und Applikationsintervalle speziesabhängig) als Postexpositionsprophylaxe 4–5 Tage nach der Infektion die Morta­lität auf 0% senken [1]. Eine Sicherheitsstudie beim Menschen (Tecovirimat für 14 Tage in Dosen, die über den Pro-Kilogramm-Körpergewicht-Dosen bei Primaten lagen) zeigte keine bedrohlichen Nebenwirkungen. Die Substanz ist nun von der FDA («U.S. Food and Drug Administration «) zugelassen [2].
In der Schweiz verlässt man sich gemäss Bundesamt für Gesundheit (Datierung: 2008) auf traditionell wirkende Seuchenbekämpfungsmassnahmen [3]. Dazu gehört die Vakzinierung exponierter Personen (idealerweise innerhalb von drei Tagen), die aber aufgrund von Latenz und Limitationen des Schutzes nur ­unter geordneten äusseren Bedingungen eine Weiterverbreitung wirksam verhindern könnte. Zum Glück sind Infizierte in der Inkubationsperiode von etwa zwölf Tagen nicht ansteckend. Tecovirimat ist in der Schweiz nicht vorrätig. Vorsatz für 2019?
Abbildung 1: Pocken ausgebrochen oder sogar befreit? Wir danken dem Künstler, Ruedi Pfirter ­(Hölstein), ganz herzlich für die Zurverfügungstellung des Bildes.
1 N Engl J Med. 2018, doi:10.1056/NEJMoa1705688.
3 Bundesamt für Gesundheit BAG, 
https://www.bag.admin.ch (Suchwort «Variola»).

Vitamin D: kein Effekt auf musku­lo­skelettale Gesundheit

Niemand kann bestreiten, dass ein manifester Vitamin-D-Mangel (sehr tiefe Spiegel plus mindestens ein pathologischer «Biomarker» wie erhöhtes Parathormon oder Hypokalziurie) zu Rachitis/Osteomalazie und einer proximal betonten, zum Teil schmerzhaften Myopathie führt. Allerdings ist der Effekt einer zusätzlichen Vitamin-D-Zufuhr bei einer Normalbevölkerung auf Knochen und Muskeln (inkl. Sturzhäufigkeit und Frakturen), wenn auch oft angewendet, nach wir vor unklar. Die uni­versell empfohlene und nie mehr ernsthaft ­infrage gestellte Komedikation mit Vitamin D bei der Osteoporose hat ihren Ursprung darin, dass die ersten Bisphosphonat-Studien sicherstellen wollten, dass zu Beginn und während der Studie kein durch eine limitierte Vitamin-D-Versorgung induzierter Knochenmineralisierungsdefekt vorliegen oder auftreten konnte. Nun kann eine aufwändige, methodologisch einwandfreie ­Datenanalyse der publizierten Interventionsstudien mit Vitamin D (81 randomisiert kon­trollierte Studien, davon 42 mit Frakturdaten, 37 mit Sturzdaten und 41 mit Knochendichtedaten, total 53 537 Studienteilnehmer/innen) keinen Vorteil in Bezug auf Sturzwahrscheinlichkeit, Frakturen oder die Knochendichte finden. Es spielte auch keine Rolle, ob in den Studien tiefe oder hohe Vitamin-D-Dosen Verwendung fanden. Vitamin D in der Allgemeinbevölkerung hat seinen Status als Elixier, nun eben auch für das muskuloskelettale System, weitgehend verloren. In einer Risikosituation (z.B. Malabsorption) bleibt es aber vital.
Lancet Diabetes Endocrinol. 2018, 
doi.org/10.1016/S2213-8587(18)30265-1.

Metformin bei chronischer Nieren­insuffizienz?

Weltweit etwa 80 der insgesamt knapp 400 Millionen Patient(inn)en mit Diabetes mellitus Typ 2 (T2DM) weisen eine eingeschränkte Nierenfunktion (basierend auf der geschätzten glomerulären Filtrationsrate [eGFR] <60 ml/min/1,73 m2) auf. Eine Therapie mit Metformin ist unbestritten die erste Wahl wegen dessen Nutzen (inkl. kardiovaskulärer Endpunkte), günstigen Nebenwirkungsprofils und tiefer Kosten. Führt eine eingeschränkte Nierenfunktion wirklich zu einer erhöhten Inzidenz der gefürchteten Laktazidosen? Ja, aber offensichtlich nur in fortgeschrittenen Stadien: Bei mehr als 75 000 Patient­(inn)en mit T2DM (Alter gut 60 Jahre, 51% Frauen) wurde währen 5,7 Jahren beobachtet, ob im Vergleich zu anderen antidiabetischen Medikamenten die Hospitalisationen wegen ­Azidose (also nicht ausschliesslich Laktata­zidosen) unter Metformin zunahmen. Resultat: Bei eGFR-Werten unter 30 ml/min fand sich mindestens eine Verdoppelung des Risikos, bei eGFR-Werten über 30 ml/min konnte ein solcher Effekt nicht nachgewiesen werden. Die Studie ist kein Freipass für Metformin bei eGFR >30 ml/min, denn dieser berechnete Wert ist – wenn auch (zu) häufig verwendet – kein verlässlicher Marker für die glomeruläre Filtrationsrate (GFR). Auch kann sich während der Einnahmedauer die Nierenfunktion schnell ändern, eine vorsorgliche Metformin-Pause durch die entsprechend instruierten Patient(inn)en mit GFR-Werten <60 ml/min bei interkurrenten Erkrankungen (wie Erbrechen, Diarrhoe oder Kontrastmittelapplikationen) ist angezeigt.
JAMA Intern Med. 2018, 
doi:10.1001/jamainternmed.2018.0292.

Endokarditis: Geht es teilweise auch mit oralen Antibiotika?

Die Linksherz-Endokarditis bleibt eine Erkrankung mit relevanter Mortalität und führt in bis zu 50% zu einem späteren Herzklappen­ersatz. Sie wird häufig mit einer 6-wöchigen intravenösen Antibiose stationär behandelt, wenn auch die Spitalaufenthalte zum Teil mit den allerdings auch nicht unproblematischen peripheren intravenösen Verweilkathetern abgekürzt werden können. Eine dänische Studie untersuchte 400 Patient(inn)en mit Linksherz-Endokarditis (Erreger: Streptokokken, Staphylokokken [S. aureus und koagulase-negativ], Entercoccus faecalis), ob eine sequentielle ­Therapie (Beginn stationär mit intravenöser Antibiose, gefolgt von oraler Therapie, wenn immer möglich ambulant) einer rein intravenösen Behandlung unterlegen sei. Je etwa 200 Patient(inn)en wurden initial mindestens zehn Tage intravenös behandelt (Wahl des Anti­biotikums entsprechend europäischer und US-Richtlinien). Die «orale Gruppe» erhielt dann eine orale Folgetherapie von median 17 Tagen (Wahl der Antibiotika siehe Tabelle S. 2 im «supplementary appendix»), während die intravenöse Gruppe im median weitere 19 Tage weiterbehandelt wurde. Die Studie fand, dass die sequentielle Therapie nicht schlechter («non-inferior») als die rein intravenöse in Bezug auf Mortalität, ungeplante Herzoperationen, Kardioembolien oder Wiederauftreten einer Bakteriämie mit dem primären Erreger war (Nachbeobachtung: sechs Monate nach Absetzen der Anti­biose). Eine attraktive Alternative also, vor allem angesichts des Kostendrucks. Trotzdem (oder auch deswegen!) empfiehlt die Redaktion des Swiss Medical Forum das konkrete Vorgehen interdisziplinär vertieft zu analysieren und zu ­beschliessen.
N Engl J Med. 2018, doi:10.1056/NEJMoa1808312.

Nochmals diskutiert …

Die Redaktion möchte folgende Ergebnisse von Studien, die kurz und bündig schon vorgestellt wurden, nochmals wegen ihrer Relevanz auf das praktische Vorgehen in Erinnerung rufen:
Febuxostat (ein nicht purin-basierter Xanthinoxidase-Hemmer) führte bei Patient­(inn)en mit Gicht und kardiovaskulären Morbiditäten im Vergleich zu Allopurinol (ein purin-basierter Xanthinoxidase-Hemmer) zu einer erhöhten Gesamtmortalität und erhöhter Mortalität kardiovaskulärer Ursache [1].
Aspirin (100 mg enterisch verkapselt pro Tag) konnte bei durchschnittlich 70-jährigen Patient(inn)en ohne vorbestehende kardiovaskuläre Erkrankungen (Primärprophylaxe) im Vergleich zu Plazebo weder das Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen noch von Demenz senken. Die – überraschenderweise – vorwiegend Neoplasie-bedingte Mortalität war aber erhöht sowie auch das Risiko, klinisch relevante Blutungen zu erleiden [2].
Aspirin (100 mg enterisch verkapselt pro Tag) reduzierte bei diabetischen Patient­-(inn)en ohne vorbestehende kardiovaskuläre Erkankungen nach 7,4 Jahren die kardiovaskulären Ereignisse leicht («number needed to treat»: ca. 90 über mehr als 7 Jahre). Allerdings traten auch vermehrt schwerwiegendeBlutungskomplikationen («number needed to harm»: ca. 110 über mehr als 7 Jahre) im Vergleich zu Plazebo auf [3]. Nullsummenspiel?
Sauerstoffzufuhr bei akut erkrankten Patient­(inn)en erhöht gemäss einer Metaanalyse (25 randomisiert kontrollierte Studien mit mehr als 16 000 Patient(inn)en) die Morta­lität ohne zusätzlichen anderen Nutzen. Die negativen Effekte der Sauerstoffzufuhr scheinen sich über einem Grenzwert der Sauerstoffsättigung zwischen 94 und 96% zu realisieren [4].
1 N Engl J Med. 2018, doi:10.1056/NEJMoa1710895.
2 N Engl J Med 2018, doi:10.1056/NEJMoa1805819, resp. 1803955 und 1800722.
4 The Lancet 2018, 
 doi.org/10.1016/S0140-6736(18)30479-3.

Keine Wirksamkeitsstudie möglich: was tun?

Es gibt seltene, bedrohliche Infektionskrankheiten – wie die Pocken –, bei denen eine Wirksamkeitstestung einer Postexpositionsprophylaxe oder ­einer Therapie aus naheliegenden Gründen nicht möglich ist. Seit 2012 hat die «Food and Drug Administration» (FDA) aber mehrere Medikamente unter der sogenannten «animal rule» zugelassen. Dabei werden basierend auf einem Wirksamkeitsnachweis bei Tieren (mit klaren Vorgaben, welche die theoretisch vorhergesagte Wirksamkeit beim Menschen sicherstellen sollen) plazebokontrollierte Sicherheitsstudien beim Menschen mit ­Imitation der Dosisfindung (im Vergleich beispielsweise zu Primaten) durchgeführt. Seit 2012 wurden mit diesem Verfahren neben dem Tecovirimat folgende Medikamente zugelassen: zwei monoklonale Antikörper gegen den Milzbrand (Raxibacumab und Obiltoxaximab), ein Immunglobulin gegen Milzbrand sowie ein heptavalentes Botulinus-Antitoxin (BAT).