Früherkennung von Psychosen
Zur Bedeutung der Gestalt

Früherkennung von Psychosen

Editorial
Ausgabe
2019/0708
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08032
Swiss Med Forum. 2019;19(0708):107-108

Affiliations
a Spezialsprechstunde Bruderholz für psychotische Frühphasen, Ambulatorium Bruderholz, Psychiatrie Baselland
b Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Universität Bern

Publiziert am 13.02.2019

Kaum eine andere Gruppe psychischer Störungen hat in den letzten zwei Jahrzehnten so viel Aufmerksamkeit und Interesse auf sich gezogen wie die Gruppe der Psychosen. Der Beitrag von Andreou et al. in der vorliegenden Ausgabe des Swiss Medical Forum [1] fasst die Errungenschaften der psychometrischen Operationalisierung von Frühphasen der Psychosen und die wissenschaft­lichen Erkenntnisse zu Übergängen in manifeste psychotische Erkrankungen zusammen.
Welche Erkenntnisse für den klinischen Alltag sind darüber hinaus zu erwähnen? Begriffe wie psychotische Frühphase, Psychoserisiko und psychotische Erstepisode werden schon längst als Entitäten verwendet. Die Früherkennung und -behandlung von Psychosen bezogen sich in ihren Ursprüngen hauptsächlich aber auf die spezifische Untersuchung von Frühphasen schizophrener Erkrankungen [2], während aber im klinischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch schon längst nicht mehr von schizophrenen Frühphasen, Schizophrenie-Risiko oder schizophrener Erstepisode die Rede ist. Diese unterschiedliche Begriffsverwendung mag als unwesentliches Detail erscheinen, ist jedoch sowohl in der klinischen als auch in der wissenschaftlichen Psychiatrie von zentraler Relevanz. Beispielsweise wurden in der 5. Ausgabe des «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM-5) [3] die Subtypen schizophrener Psychosen, die in den früheren DSM-Ausgaben über Jahrzehnte hinweg noch separat beschrieben worden waren, zusammengelegt. Als Grundlage diente eine Untersuchung der wissenschaftlichen Literatur über den Zeitraum von 1990 bis 2010, die zum Schluss kam, dass zwischen schizophrenen Subtypen immer weniger unterschieden wurde [4]. Durch solches «lumping» werden die psychopathologischen Feinheiten, durch die sich die diagnostischen Subsyndrome unterscheiden und die zum Erbe der Psychiatriegeschichte gehören [5], aufgehoben. Damit verliert das Ziel der Untersuchungen an Schärfe.
In der Früherkennung muss dennoch der allgemeine Psychose-Begriff favorisiert werden, um einer unnötigen Stigmatisierung vorzubeugen, da Psychosen eine breit gefächerte Gruppe von Krankheitsbildern darstellen, die sich hinsichtlich Verlauf und Prognose deutlich unterscheiden. Eine Psychose kann daher ebenso gut einer der diversen Subtypen schizophrener Krankheiten sein wie auch einer der Subtypen akuter vorübergehender psychotischer Störungen. Da letztere per definitionem eine ausgezeichnete Prognose haben [5], wird deren Subsummierung unter einen allgemeinen Psychosebegriff Resultate zu Transitionsraten und Behandlungserfolgen relevant verändern und deutlich günstiger erscheinen lassen. Bestünde die untersuchte Psychose ausschliesslich aus hebephrenen Schizophrenien, wäre die Prognose per definitionem schlecht [6].
Auch die Ursprünge einzelner Symptomformationen, die nosologisch den Psychosen zugeordnet werden können, sind ebenso vielfältig wie das klinische Bild und der Verlauf von Psychosen. Gerade Patienten mit Belastungen in frühen Lebensabschnitten oder mit Psychotraumatisierungen neigen mit Eintritt in die Adoleszenz zur Entwicklung von Symptomformationen; so beispielsweise zu halluzinatorischen Phänomenen, die psychometrisch zwar als psychotisch erfasst werden können, jedoch keine zugrundeliegende Psychose, sondern eine dissoziative Abwehr abbilden [7].
Die seit vielen Jahren zur Verfügung stehenden psychometrischen Instrumente zur Operationalisierung eines Psychoserisikos erfassen diese grundlegenden Unterschiede und somit die eigentliche Gestalt einer Symptomformation nicht, sondern lassen einzig Rückschlüsse über deren allfälliges Vorliegen zu. Zur Festlegung, ob eine Symptomformation tatsächlich einem Psychoserisiko zugeordnet werden kann, ist ein Verständnis der Gestalt dieser Symptomformation unerlässlich [8]. Das Verständnis der Gestalt ergibt sich aus einer Zusammenschau der verschiedenen in der psy­chiatrischen Medizin zur Verfügung stehenden unentbehrlichen «Instrumente», die objektive Befunde und unser Erleben des Patienten einschliesslich unserer Gegenübertragung umfassen. Ebenso gewürdigt werden müssen hierbei das subjektive Erleben des Patienten sowie seine anamnestischen Beziehungsgestaltungen und frühen systemischen Verhältnisse.
Das Verständnis der Gestalt ermöglicht uns die dia­gnostische Einordnung psychoseähnlicher Symptomformationen. Die Gestalt ermöglicht uns, zwischen psychotischen und dissoziativen halluzinatorischen Phänomenen zu unterscheiden. Sie erlaubt uns, ein Derealisationserleben als eigentliche psychotische Ich-Störung oder als nicht-psychotische Wahrnehmungsveränderung zu erfassen. Sie beantwortet unsere Frage, ob soziale Isolation, die uns in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter immer beunruhigt, Ausdruck einer beginnenden Psychose ist, ein Epiphänomen einer selbstunsicheren Persönlichkeit oder gar einer autistischen Störung abbildet oder aber ein transitorisches und daher prognostisch unbedenkliches Phänomen im Rahmen einer normativen lebensgeschichtlichen Entwicklung und Persönlichkeitsnachreifung darstellt.
Sie ermöglicht uns, die Patienten und ihre Angehö­rigen über die Ursachen psychoseähnlicher Symptomformationen aufzuklären und bei Bedarf individuell angepasste Behandlungen zu empfehlen.
Diese ergänzenden Erkenntnisse basieren auf Abklärungen von 801 vorwiegend adoleszenten und jungen erwachsenen Patienten in der Spezialsprechstunde Bruderholz für psychotische Frühphasen im Zeitraum zwischen Juli 2002 und Januar 2019. In der überwiegenden Mehrheit aller Abklärungen konnte bei ­diesen Patienten eine beginnende Störung aus der Gruppe der Psychosen ausgeschlossen werden.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med. Andor E. Simon
Ärztlicher Leiter Spezialsprechstunde Bruderholz ­
für psychotische Frühphasen
Ambulatorium Bruderholz
Psychiatrie Baselland
CH-4101 Bruderholz
andor.simon[at]pbl.ch
1 Andreou C, Bailey B, Borgwardt S. Psychotische Störungen: Früherkennung und -intervention. Schweiz Med Forum. 2019;19(0708);117–23.
2 Häfner H, Löffler W, Maurer K, Hambrecht M, an der Heiden W. Depression, negative symptoms, social stagnation and social decline in the early course of schizophrenia. Acta Psychiatr Scand. 1999;100:105–18.
3 American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th ed. Washington, DC: APA;2013.
4 Braff DL, Ryan J, Rissling AJ, Carpenter WT. Lack of use in the literature from the last 20 years supports dropping traditional schizophrenia subtypes from DSM-5 and ICD-11. Schizophren Bull. 2013;39:751–3.
5 Leonhard K. Aufteilung der endogenen Psychosen und ihre differenzierte Ätiologie. 1. Auflage. Berlin: Akademie-Verlag; 1957.
6 Bleuler E. Dementia praecox und die Gruppe der Schizophrenien. Leipzig/Wien: Franz Deuticke; 1911.
7 Moskowitz A, Schäfer I, Dorahy MJ. Psychosis, trauma and dissociation. Chichester: John Wiley & Sons, Ltd; 2008.
8 Simon AE. In: Early detection and intervention in psychosis. State of the art and future perspectives. Editors: Riecher-Rössler A, McGorry PD. Basel: Karger Verlag; 2016.