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Der demographische Wandel der Bevölkerung betrifft im Besonderen auch die Urologie: Ein Umdenken in der Therapieplanung ist nötig, um den Mehrbedarf an medizinischen Dienstleistungen gewährleisten zu können.
Hintergrund
Die demographische Entwicklung in der Schweiz und in den anderen industrialisierten Ländern mit zunehmender Alterung der Bevölkerung ist ein bekanntes und in den letzten Jahren oft beschriebenes Phänomen. Die Bevölkerungsgruppe im Alter von 75 Jahren oder mehr ist in der Schweiz der mit Abstand am schnellsten wachsende Bevölkerungsanteil [1] mit dem Effekt, dass aus der ehemaligen Bevölkerungspyramide künftig ein regelrechter Bevölkerungspilz wird (Abb. 1) [2].
Basierend auf dieser Bevölkerungsentwicklung beschreiben Dall TM et al. [3] einen deutlichen Mehrbedarf von medizinischen Dienstleistungen in gewissen spezialisierten Disziplinen, wobei die Urologie einen Spitzenplatz einnimmt.
Die Urologie wird hierdurch nicht nur in Einzelbereichen, sondern in grossen Teilen ihres Gesamtspektrums betroffen, da die Korrelation zwischen Alter und Inzidenz sowie auch Prävalenz in ausgeprägtem Masse für die Uro-Onkologie [4], die funktionelle Urologie [5, 6] sowie auch die Andrologie [7, 8] zutrifft. So betrug bereits um die Jahrtausendwende der Anteil der urologisch ausgeführten Gesamtdienstleistung in Bezug auf verschiedene Altersklassen weit über 60% in der Altersgruppe der über 65-jährigen Patientinnen und Patienten [9].
Eine interdisziplinäre geriatrisch-urologische Behandlung ist gefragt
Um den beschriebenen Mehrbedarf an medizinischen Leistungen für diese Altersgruppe in der Urologie abdecken zu können, wird ein Ausbau und Neuausrichtung der Angebote unumgänglich sein. Versorgungsstrukturen müssen dabei den speziellen medizinischen Bedürfnissen dieser Population Rechnung tragen. Neben dem «eindimensionalen» urologischen Problem spielt in dieser Population der Gesamtkontext, der sämtliche Gesundheitsdimensionen (körperlich, psychisch, kognitiv, funktionell und sozial) mit berücksichtigt, eine viel zentralere Rolle als bei einem jüngeren Kollektiv. Es geht hier also nicht nur um die Problematik der Multimorbidität alleine, sondern im Wesentlichen um deren Auswirkung auf die für ältere Menschen relevanten Gesundheitsdimensionen, die ihnen ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben ermöglichen.
Die besonderen Bedürfnisse älterer Menschen in der Urologie betreffen die gesamte Behandlungskette. So kann sich zum Beispiel die richtige Indikationsstellung für eine Intervention und die Therapieplanung nicht alleine auf eine klassische Risikostratifizierung abstützen. Es bedarf zwingend des Einschlusses weiterführender geriatrischer Syndrome wie zum Beispiel Kognition, «frailty» und Ernährung, die alle unabhängige Risikofaktoren für negative Outcomes nach Interventionen darstellen [10–13]. Geriatrische Assessment-Instrumente und geriatrische Expertise können hier die Urologinnen und Urologen sinnvoll im «case finding» ergänzen und sind neben den technischen Aspekten der Intervention wichtige Grundlage für eine oft zeitaufwändige Diskussion und Reflexion realistischer Behandlungsziele und -wünsche mit den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen [14].
Der Bedarf nach einer interdisziplinären geriatrisch-urologischen Behandlung dieser Population liegt also auf der Hand. Im Gegensatz zum Ausland [15] wurde dieser in der Schweiz aber erst in den letzten Jahren erkannt [16, 17] und entsprechende Versorgungsstrukturen nur vereinzelt umgesetzt [18]. Ziel der geriatrisch-urologischen Kooperation ist die optimale und individualisierte Festlegung eines Gesamtbehandlungskonzeptes, beginnend bei präoperativer Abklärung, Indikationsstellung sowie Planung eines Therapie- und Nachsorgekonzeptes, wobei Über- aber auch Unterbehandlung vermieden werden sollen.
Wie kann das aber konkret funktionieren? Die Triage beginnt in der urologischen Sprechstunde durch die Urologinnen und Urologen selbst, wenn immer eine interventionelle Massnahme bei älteren Patientinnen und Patienten infrage kommt. Unter Berücksichtigung der Literatur existieren in der geriatrischen Urologie leider keine einfach anwendbaren Triage-Instrumente, die für das einzelne Individuum verlässlich voraussagen können, wer für den Einschluss in die präoperative uro-geriatrische Sprechstunde respektive in einen gemeinsamen Behandlungspfad am besten qualifiziert. Dennoch geben Faktoren wie die Komplexität beziehungsweise das Risiko des Eingriffes, die globale Einschätzung des Allgemeinzustandes und der Funktionalität, die Selbständigkeit im Alltag, Komorbiditäten, Polypharmazie, Ernährungszustand, das Vorhandensein von kognitiven Störungen, die Anzahl Hospitalisationen in den letzten 12 Monaten und bereits durchgemachte Delirien wichtige Hinweise für eine adäquate Triage hinsichtlich eines weiterführenden geriatrischen Assessments [15]. Dieses präoperative Assessment ermöglicht das Aufzeigen von Risikofaktoren für Komplikationen im Behandlungsverlauf, aber auch von Ressourcen. Es können Gesundheitsprobleme erkannt werden, die vorgängig zum Eingriff korrigiert werden sollten. Die ergänzenden Informationen fliessen zudem in die auf technischen Grundlagen basierende Indikationsstellung mit ein und hinterfragen respektive stützen diese. Ein gemeinsam getragener Behandlungsplan kann erstellt werden, beinhaltend gegebenenfalls auch die Option, dass die angedachte urologische Intervention aufgrund eines unverhältnismässigen Risikos schlussendlich nicht durchgeführt wird und konservative Alternativen etabliert werden. Im Falle der Intervention sollte neben der Hospitalisation selber von Beginn weg die postoperative Phase mit einbezogen und mit allen Betroffenen vorbesprochen werden (z.B. geplanter Austritt nach Hause oder aber auch geriatrische Frührehabilitation). Die Population kann durch die geriatrische Vorabklärungen schliesslich auch in Leistungs- respektive Risikogruppe eingeteilt werden (gesund und rüstig; eingeschränkt und verletzlich; gebrechlich und schwach) [12]. Das Hauptaugenmerk aller geriatrischen perioperativen Aktivitäten richtet sich neben dem Erreichen eines einwandfreien urologischen Ergebnisses auf die Vermeidung von kardiovaskulärer Mortalität, Delirien, Infektionen und funktionellem Abbau. Während der Hospitalisation wird das präoperativ festgelegte Management unter Einbezug der Geriaterin / des Geriaters überprüft und bei Bedarf angepasst. Das geriatrisch-urologische Versorgungsmodell schliesst somit im Wesentlichen elektive Patientinnen und Patienten ein, ähnelt sonst aber von der Denk- und Handlungsweise her sehr den etablierten Versorgungsmodellen in der Alterstraumatologie. Diese ebenfalls kooperativ geführten Versorgungsmodelle konnten ihre positiven Effekte auf verschiedene Outcome-Parameter und auch auf die Kosteneffizienz zeigen [19]. Auch in unser eigenen Erfahrung hat sich die seit 2014 etablierte, sehr intensive Zusammenarbeit zwischen Urologie und Geriatrie in den Zürcher Stadtspitälern Triemli und Waid (beinhaltend u.a. interdisziplinäre, präoperative geriatrisch-urologische Sprechstunde, fachärztlich geriatrische Begleitung der Chefvisite im Rahmen der Hospitalisation und frühpostoperative Verlegung der Patienten in eine geriatrische Frührehabilitation) in der Behandlung hochbetagter Patienten als ausgesprochen hilfreich erwiesen.
Diskussion
Der demographische Wandel ist wie in anderen interventionellen Fächern auch in der Urologie eine Realität und betrifft dieses Fach im Besonderen. Es besteht nicht nur ein Bedarf an quantitativem Plus, sondern vor allem auch an einer qualitativen Optimierung. Den speziellen Bedürfnissen der Population von älteren Patientinnen und Patienten muss Rechnung getragen werden. Das zwingt auch Urologinnen und Urologen zu einem Umdenken in der Therapieplanung, die sowohl die Indikationsstellung, das perioperative Management und die Nachsorge mit einschliesst. Wie in der Alterstraumatologie bereits bewiesen, stellt die Altersmedizin einen wichtigen Partner dar, um das Ziel eines individualisierten und interdisziplinär abgestützten Behandlungsplanes zu erreichen. Eine begleitende Forschung zur Schaffung von fundierter Evidenz innerhalb dieses Patientengutes ist eine ebenso wichtige Aufgabe in den kommenden Jahren.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Korrespondenz:
Dr. med. Martin H. Umbehr
Klinik für Urologie
Stadtspital Triemli Zürich
Birmensdorferstrasse 497
CH-8063 Zürich
martin.umbehr[at]triemli.zuerich.ch
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