Eine vermeintliche Addison-Krise
Labordaten geben den entscheidendem Hinweis

Eine vermeintliche Addison-Krise

Der besondere Fall
Ausgabe
2019/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08071
Swiss Med Forum. 2019;19(2930):489-491

Affiliations
Kantonsspital Münsterlingen
a Klinik für Innere Medizin; b Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin; c ­Klinik für ­Innere Medizin, Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährung

Publiziert am 17.07.2019

Der Befund mit symptomatischer Hypotonie, sehr hohen Serum-Reninspiegeln bei tiefnormalem Serum-Aldosteron liess eine primäre Nebenniereninsuffizienz vermuten. Doch die Labordaten lieferten einen weiteren Hinweis.

Hintergrund

Für eine symptomatische Hypotonie ist eine Vielzahl an Differentialdiagnosen zu beachten. In einem Notfallsetting stehen am Anfang der Überlegungen meist eine kardiologische oder septische Genese, eine Hypovolämie durch akute Blutung oder Dehydratation, eine medikamentöse Verwechslung oder Überdosierung sowie eine Anaphylaxie. Nach Ausschluss dieser Ur­sachen und insbesondere bei jungen Patienten muss auch an eine Intoxikation, eine neurologische Ursache oder eine Endokrinopathie gedacht werden.
Dabei sollte vor allem eine Nebennierenrindeninsu­ffizienz ausgeschlossen werden, die im Rahmen einer Addison-Krise letal verlaufen kann.

Fallbericht

Anamnese

Eine 37-jährige Patientin, bei der im Jahr 2015 eine Sleeve-Gastrektomie und 2017 eine Umwandlung in einen proximalen Magenbypass bei morbider Adipositas ­erfolgt waren, wurde aus der psychiatrischen Klinik bei anhaltender Hypotonie zugewiesen.
Als Folge der bariatrischen Operationen hatte sie insgesamt ca. 80 kg abgenommen, sodass die zuvor bestehende arterielle Hypertonie nicht mehr behandlungsbedürftig war. Der aktuell konstante Body-Mass-Index (BMI) lag bei 31,5 kg/m² Als Nebendiagnosen waren eine rheumatoide Arthritis und eine Gicht bekannt. Sie wurde deswegen mit 15 mg Prednisolon 1× täglich, ­Methotrexat und Golimumab (Tumornekrosefaktor [TNF] α-Inhibitor) behandelt.
Der Eintritt in die Psychiatrie erfolgte aufgrund einer mittelschweren depressiven Episode und rezidivierenden dissoziativen Anfällen. Wegen zunehmender Hypotonie und Vigilanzminderung wurde die Patientin der Notfallstation zugewiesen.

Status und Befunde

Bei Aufnahme präsentierte sich eine somnolente Person mit fluktuierender Vigilanz (Glasgow-Coma-Scale [GCS] im Nadir 5 Punkte), einer intermittierenden Tachydyspnoe und mit hypotonen Blutdruckwerten (82/44 mm Hg, Herzfrequenz 58/min). Die körperliche Untersuchung der adipösen Patientin fiel im Übrigen unauffällig aus. Auf Nachfrage berichtete sie über intermittierende Oberbauchschmerzen, für die sich kein klinisches Korrelat ergab.
Elektrokardiographisch zeigte sich ein bradykarder ­Sinusrhythmus bei ansonsten unauffälliger De- und Repolarisation. Auch das konventionelle Röntgenbild des Thorax und der Urinstatus waren unauffällig. Laborchemisch war eine akute Niereninsuffizienz auffällig (Tab. 1).
Tabelle 1: Die Labordaten.
Serum ReferenzwertTag 1Tag 24
Natriummmol/l 136–145138 
Kalium mmol/l 3,4–5,05,0 
Calcium mmol/l 2,1–2,62,13 
Kreatinin*µmol/l 44–80 180 
Harnstoffmmol/l1,7–8,313,2 
eGFR (CKD-EPI) ml/min/1,73 m2≥90 31 
Glukose venös mmol/l3,9–6,48,2 
C-reaktives Protein mg/l<51 
Aldosteronng/l7–236 39,3 119
ReninmU/l8–39,9 4031 171,3
Aldosteron-Renin-Quotientng/mU<11,5 0,0 0,7
ACTHng/l10–46 ng/l14 ng/l 
Urin
Natriummmol/l 36 
Osmolalität mmol/kg50–1400184 
Toxikologie-ScreeningBisoprolol und Metaboliten positiv
Lisinopril positiv
Diuretika negativ
* Kapillarblut
eGFR (CKD-EPI): Errechnete glomeruläre Filtrationsrate gemäss Formel der «Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration».
Die Befundkonstellation mit einer symptomatischen Hypotonie, einem sehr hohen Serum-Re­ninspiegel bei tiefnormalem Serum-Aldosteron, die uns aus den ­ambulanten Voruntersuchungen drei Tage zuvor zur Verfügung stand, liess eine primäre Nebenniereninsuffizienz vermuten.

Therapie und Verlauf

Es wurde deshalb eine hochdosierte Hydrocortison-Substitution mit Solu-Cortef® 100 mg intravenös als Bolus begonnen und an den darauffolgenden Tagen mit kontinuierlich 100 mg/24 h fortgesetzt. Eine fehlende Hyperpigmentierung war durch eine Dauersteroidtherapie und die damit ausbleibende Adrenocortikotropes-Hormon (ACTH)-Erhöhung erklärbar (Tab. 1).
Wegen der Klage über Bauchschmerzen wurde eine Computertomographie des Oberbauchs durchgeführt. Es ergaben sich keine Hinweise auf eine akute Ein­blutung oder Raumforderung der Nebennierenrinden. Bei negativen Autoantikörpern (Anti-Nebenniere-­Antikörper und Anti-α21-Hydroxylase) sowie bei normalen Entzündungsparametern gab es auch keine Hinweise auf eine autoimmune oder infektiöse Genese der Symptome.
Da trotz einer forcierten intravenösen Flüssigkeitsgabe eine initiale Besserung der Vitalparameter ausblieb und eine akute Suizidalität bestand, erfolgte die Aufnahme auf die Intensivstation. Hier musste der Blutdruck bei weiterhin hypotonen Werten mit niedrig ­dosierten Katecholaminen intravenös stabilisiert werden, zumal der Blutdruck während den dissoziativen Anfällen bis auf Werte von 70/40 mm Hg abfiel. Die Nierenreten­tions­werte normalisierten sich bereits am Folgetag unter Volumengabe, der Blutdruck blieb jedoch hypoton und der Puls bradykard.
Aufgrund der akuten Suizidalität der Patientin, die ­zudem wegen der bariatrischen Operation eine anti­hypertensive Therapie mit einem ACE-Hemmer und ­einem Beta-Blocker einnahm, wurde auch eine Tablettenintoxikation in Betracht gezogen. Prompt gelang der qualitative Nachweis von Lisinopril sowie Bisoprolol und seinen Metaboliten im Urin. Nach Konfrontation mit den neu gewonnenen Erkenntnissen gab die Patientin die Einnahme dieser Substanzen zu. Es stellte sich heraus, dass sie noch während der stationären psychiatrischen Behandlung diese Medikamente erneut und vermehrt in suizidaler Absicht heimlich eingenommen hatte.
Nach weiteren 24 Stunden unter intensivmedizi­nischer Betreuung konnten die Katecholamine ausgeschlichen werden und die Patientin blieb auch während des notwendigen Einsatzes von Sedativa jederzeit kreislaufstabil. Die Herzfrequenz normalisierte sich. Der Elektrolythaushalt zeigte sich im Verlauf ebenfalls stabil, und die Gabe von Prednisolon konnte in der ursprünglichen Dosierung weitergeführt werden.
Klinisch standen mehr und mehr die dissoziativen ­Anfälle und eine akute Suizidalität im Vordergrund, so dass die Patientin nach sechs Tagen intensivstationären Aufenthaltes wieder in die psychiatrische Behandlung zurückverlegt werden konnte.

Diskussion

Die Diagnose oder der Ausschluss einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz (Morbus Addison) kann insbesondere bei Patienten mit einer vorbestehenden Steroidmedikation sehr anspruchsvoll sein. Durch Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems kommt es bei einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz zu einer deutlichen Erhöhung des Serum-­Renins bei einem Serum-Aldosteron im tiefnormalen oder erniedrigten Bereich [1], da auch die Aldosteronproduktion in der Nebennierenrinde nicht adäquat ­gesteigert werden kann. Bei einer sekundären Nebennierenrindeninsuffizienz (etwa bei Steroidtherapie) bleibt das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) intakt, das heisst, das endogene Aldosteron kann bei Bedarf gesteigert werden, das ACTH jedoch ist supprimiert. Bei einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz unter gleichzeitiger Steroidtherapie wäre also ein supprimiertes ACTH bei erhöhtem Renin und tiefnormalem oder erniedrigtem Aldosteron zu erwarten. Eine ähnliche Konstellation lässt sich auch bei ­einer Intoxi­kation mit einem «Angiotensin Converting Enzyme» (ACE)-Hemmer (oder einem Sartan) feststellen, wie wir es in unserem Fall postulieren. Für einen Morbus Addison konnte keine Ursache gefunden werden, und auch der Verlauf mit rascher Regredienz der Hypotonie und des Renin-Spiegels im ­Serum sprachen da­gegen. Ein ACTH-Stimula­tionstest hätte aufgrund der Steroiddauertherapie keine weiteren Erkenntnisse ­gebracht [2]. Das relativ tiefe ACTH kann durch die vorbestehende Steroidtherapie erklärt werden, wobei die Dosis von 15 mg Prednisolon für eine derartige Stresssituation möglicherweise nicht ausreichend gewesen wäre. In unserem Fall lag keine Hyponatriämie vor, was gegen einen Mineralokortikoidmangel sprach [1]. Die zusätzliche Einnahme des Betablockers verstärkte die Hypotonie und erklärt zudem die initiale Bradykardie trotz der ausgeprägten Dehydratation.
Zusammenfassend zeigte sich im diesem Fall eine schwere Hypotonie als Folge einer ACE-Hemmer- und Beta-Blocker-Intoxikation [3, 4] als Ursache der vermeintlichen primären Nebenniereninsuffizienz mit einem stark erhöhten Reninspiegel und einem tiefnormalen Aldosteronwert (beides im Serum) durch die Blockade des ACE. Auch weitere Symptome wie die Vigilanzminderung und Oberbauchschmerzen hätten zur Verdachtsdiagnose einer Addison-Krise gepasst.
Nach genauerer Betrachtung und akribischer Aufarbeitung der Vordokumentation und Vorbehandlung konnte die letztendliche Diagnosesicherung durch den qua­litativen Nachweis der verursachenden Substanzen im Urin erfolgen.
Wie dieses Beispiel zeigt, lohnt sich ein sorgfältiges und kritisches Hinterfragen der initialen Verdachts­diagnose, so dass teilweise überraschende Wendungen aufzudecken sind.

Das Wichtigste für die Praxis

• Bei einer schweren Hypotonie sollte immer auch an eine Intoxikation mit Antihypertensiva gedacht werden, insbesondere wenn keine Hinweise für einen Infekt, eine kardiale Genese oder eine Hypovolämie vorliegen.
• Die Diagnosestellung einer Intoxikation kann sehr schwierig sein und erfordert bei mangelnder Kooperation seitens des Patienten ein besonderes Fingerspitzengefühl und sorgfältige Aufarbeitung.
• Bei einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz zeigt sich im Blut erhöhtes Renin bei Aldosteron im tiefnormalen oder erniedrigten Bereich. Bei einer sekundären Nebennierenrindeninsuffizienz hingegen sind das Renin und Aldosteron meist normal, da das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System nicht beeinträchtigt wird.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Martin Walter
Klinik für Innere Medizin
Kantonsspital ­Münsterlingen
Spitalcampus 1
CH-8596 Münsterlingen
martin.walter[at]stgag.ch
1 Charmandari E, Nicolaides NC, Chrousos GP. Adrenal Insufficiency. Lancet. 2014;383(9935):2152–67.
2 Ospina NS, Al Nofal A, Bancos I, Javed A, Benkhadra K, Kapoor E, et al. ACTH Stimulation Test for the Diagnosis of Adrenal Insufficiency: Systematic Review and Meta-Analysis. J Clin Endocrinol Metab. 2016;101(2):427–34.
3 Izzo JL Jr, Weir MR.Angiotensin-Converting Enzyme Inhibitor. J Clin Hypertens (Greenwich). 2011;13:667–75.
4 Lip GY, Ferner RE. Poisoning with anti-hypertensive drugs: angiotensin converting enzyme inhibitors. J Hum Hypertens. 1995;9(9):711.