Ungewollte Medikamentenüberdosierung
Unglückliche Umstände

Ungewollte Medikamentenüberdosierung

Der besondere Fall
Ausgabe
2019/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08090
Swiss Med Forum. 2019;19(2324):397-399

Affiliations
a Hirslanden Klinik Birshof, Münchenstein; b Departement klinische Pharmakologie, Universitätsspital Basel; c Operative Intensivbehandlung, ­Universitätsspital Basel

Publiziert am 05.06.2019

Nach drei Tagen intermittierender abdomineller Schmerzen wachte eine 74-jährige Patientin nachts mit stärksten abdominellen Schmerzen auf. Sie klagte weder über Nausea noch Diarrhoe, hatte kein Fieber.

Hintergrund

Eine ungewöhnliche, nicht auf den ersten Blick ersichtliche Ätiologie war ursächlich für die akute schwere ­Erkrankung einer Patientin. Nur durch eine ­genaue Anamnese konnte, wie schon zu Aeskulaps ­Zeiten, die Ursache der Erkrankung ermittelt und die Patientin der adäquaten Therapie zugeführt werden, nebst der Behandlung einer Mesenterialischämie. Mit diesem Fallbericht möchten wir darstellen, dass es unter unglücklichen Umständen trotz genauer Anweisungen immer wieder zu ungewollten Medikamentenüberdosierungen und -intoxikationen kommt. In der Regel verlaufen sie glimpflich, in diesem Fall jedoch leider nicht. Er wurde dem Schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic gemeldet und hat eine Änderung in der Medikamentenabgabe des betroffenen Medikaments bewirkt.

Fallbericht

Anamnese und Befunde

Nach drei Tagen intermittierender abdomineller Schmerzen wachte eine 74-jährige Patientin nachts mit stärksten abdominellen Schmerzen auf. Sie klagte weder über Nausea noch Diarrhoe, hatte kein Fieber. Die herbeigerufene Sanität fand eine hypotensive, tachy­karde Patientin vor und brachte sie mit Verdacht auf eine Aortendissektion in den Schockraum der Notfallstation.
Computertomographisch konnte diese Verdachtsdia­gnose nicht bestätigt werden. Hingegen fand sich ein ödematös verändertes Zökum mit angrenzender Fett­gewebsimbibierung. Differentialdiagnostisch kam eine ischämische Kolitis bei filiformer Darstellung der Arteria mesenterica superior in Frage, sodass bei Verdacht auf einen septischen Schock im Rahmen einer mesenterialen Ischämie die Indikation zur explorativen Laparotomie gestellt wurde. Auffallend im Labor war eine aus­geprägte Panzytopenie mit einer Aplasie zu diesem Zeitpunkt noch unklarer Genese (Leukozyten 0,31 × 109/l mit 15,8% Neutrophilen, Thrombozyten 99 × 109/l, Hb 66 g/l) und eine errechnete ­Kre­a­tinin-Clearance (CCL) von 34 ml/min.

Therapie und Verlauf

Trotz Beginn einer antibiotischen Therapie auf der Notfallstation und grosszügiger Volumengabe kam es bereits präoperativ zu einem rasch progredienten Noradrenalinbedarf. Unter der Anästhesieeinleitung musste die Patientin schliesslich im Rahmen einer pulslosen elektrischen Aktivität kurzzeitig mechanisch und medikamentös reanimiert werden.
Intraoperativ fand sich ein livide verfärbtes Colon ­ascendens im Sinne einer transmuralen Ischämie. Es wurde eine Hemikolektomie rechts mit Anlage eines doppelläufigen Stomas durchgeführt. Postoperativ wurde die Patientin hämodynamisch instabil mit hochdosiert Vasoaktiva auf die Intensivstation verlegt. In der fokussierten transthorakalen Echokardiographie fand sich bei Status nach Mitralklappenersatz neu ein dilatierter rechter Ventrikel mit einer mittelschweren Trikuspidalklappeninsuffizienz und eine eingeschränkte rechtsventrikuläre Funktion, sodass eine ­inotrope Therapie und eine Nachlastsenkung im kleinen Kreislauf mit Iloprost und Stickstoffmonoxid ­inhalativ begonnen wurde. Der nach Einlage eines ­Pulmonaliskatheters gemessene «cardiac index» lag in der Initialphase bei <1,5l min/KOF. Im Rahmen des ­gemischten septisch-kardiogenen Schocks fand sich eine Multiorgandysfunktion mit einem interkurrenten akuten Leber- und Nierenversagen. Infolgedessen wurde eine kontinuierliche Hämodiafiltration (cvvHDF) begonnen. Im wei­teren Verlauf kam es zum einen zu wiederholten ­Blutungskomplikationen bei anhaltender, schwerer Thrombozytopenie und einem Mangel an Gerinnungsfaktoren im Rahmen des Leberversagens. Zum anderen musste die Patientin mehrmals relaparotomiert werden wegen wiederholter Dünn­darm­ischä­mien, ­sodass schliesslich nur noch 120 cm grenzwertig ­vitaler Dünndarm verblieben. Im Rahmen der Gesamt­sitution wurde nach ausführlichen Gesprächen mit dem Ehemann die Therapie eingestellt.
Die Ursache der Panzytopenie klärte sich einen Tag nach Einweisung der Patientin: In der erweiterten Anamnese berichtete der Ehemann, dass seine Frau wegen einer Polymyalgia rheumatica neue Medi­kamente ­erhalten habe. Im Verlauf sei eine «Verschlechterung der Blutwerte» aufgefallen. Ausserdem habe sie in den ­Tagen vor der Spitalaufnahme vermehrt orale und ­vaginale Bläschen entwickelt. Die Patien­tin nahm seit längerem Prednison und seit neun ­Tagen Methotrexat (MTX) ein. Ihre Schmerzen behandelte sie mit Diclofenac systemisch. Die detallierte Medikamentenanamnese ergab, dass sie MTX, statt einmal wöchentlich, versehentlich einmal täglich eingenommen hatte (10 mg/die), dies neun Tage lang. Da bereits in der Nacht vor Erhebung dieser Anamnese eine cvvHDF ­begonnen worden war, betrug der erste gemessenen MTX-Spiegel nur noch 0,06 µmol/l, sodass wir ­neben der bereits ­etablierten Hämodiafiltration eine Therapie mit Leucovorin (Folinsäure als Calciumfolinat) eingeleitet ­haben. Die Indikation zur Gabe von Carboxypeptidase war aufgrund des tiefen MTX-Spiegels nicht gegeben. Zusätzlich erhielt die Patientin 30 Mio E Filgrastim einmal täglich ab dem zweiten Hospitalisa­tionstag.

Diskussion

Die Wirkung von MTX beruht auf der intrazellulären Hemmung der Dihydrofolsäure-Reduktase, einem Schlüsselenzym in der Biosynthese der Tetrahydrofolsäure, die für die RNA- und DNA-Synthese benötigt wird. Hierdurch kommt es zu einem anti-inflammatorischen und proliferationshemmenden Effekt, der in der Onkologie zur Hemmung von Zellen mit hoher ­mitotischer Aktivität genutzt wird [1]. MTX wird zu 90% unverändert renal über den «human organic anion transporter-3» (hOAT-3) ausgeschieden, sodass jede Verschlechterung der Nierenfunktion zu einer vermehrten Akkumulation und somit Erhöhung der systemischen Toxizität mit Entstehung einer Niereninsuffizienz, Hepatotoxizität, Knochenmarkssuppression und Mukositis führt. «Low-dose»-MTX ist bei einer CCl <50 ml/min kontraindiziert; bei einer CCl 50–80 ml/min ist eine reduzierte Dosis erforderlich [2].
Pathogenetisch liegt der Nephrotoxizität primär ein Ausfällen von MTX und seinen Metaboliten im sauren Urin, wie auch eine direkte toxische Wirkung auf die Tubuli zugrunde. Des Weiteren kommt es durch die ­lokale Akkumulation von MTX in der Niere zu ­einer Vaso­konstriktion der afferenten Arteriole, was die ­glomeruläre Filtrationsrate weiter reduziert [3]. Somit führt die direkte nephrotoxische Wirkung von MTX zu einer Erhöhung der MTX-Halbwertszeit mit entsprechender Erhöhung der toxischen Wirkung auf das ­Knochenmark und auf die Schleimhaut [4]. Bei Gabe von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) entsteht ausser­dem eine Interaktion mit MTX, die auf eine ­Reduktion der glomerulären Filtrationsrate und eine Hemmung des hOAT-3 zurückzuführen ist. Durch die gleichzeitige Gabe eines NSAR (in diesem Fall Diclofenac), kann es zu einer erhöhten MTX-Exposition sowie auch zu einem additiven toxischen Effekt kommen (NSAR selbst können ebenfalls eine Niereninsuffizienz und sehr selten Zytopenien aus­lösen) [2, 5].
Eine Mukositis aufgrund von fehlendem Zell-Turnover durch den direkten toxischen Effekt nach ungefähr ­sieben Tagen und eine Panzytopenie nach fünf bis zehn Tagen sind die Folgen [1, 6]. Eine weitere relevante un­erwünschte Wirkung ist die Hepatotoxizität, deren genauer Mechanismus unklar ist. Einige Studien deuten jedoch darauf hin, dass oxidativer Stress mit ursächlich hierfür ist [7].
Bei noch erhaltener Restfunktion der Nieren besteht die Therapie einer MTX-Intoxikation in einer forcierten Hydrierung und einer Urin-Alkalinisierung mit Na­trium-Bikarbonat systemisch. Letztere soll helfen, die Präzipitation von MTX in den Nierentubuli zu reduzieren. Bei bereits etabliertem Nierenversagen muss die Elimination von MTX über ein Nierenersatzverfahren erfolgen. Des Weiteren ist die Gabe von Leucovorin empfohlen. Leucovorin ist die biologisch aktive Form der Folsäure und wirkt als Antidot, da es mit MTX um die Aufnahme in die Zelle konkurriert und die Folsäure-Depots erneuert. Bei einem MTX-Spiegel von >1 µmol/l und Niereninsuffizienz ist zudem die Gabe von Carboxypeptidase zu diskutieren. Dieses eliminiert das extra­zellulläre MTX, indem es durch Hydrolisierung inaktive Metaboliten des MTX produziert [8].
Wir hatten in unserem Fall mit der Mesenterialischämie und der MTX-Intoxikation zwei Probleme, die bereits einzeln und ohne begleitendes Multiorganversagen eine hohe Letalität aufweisen. Bei unserer Patientin gehen wir am ehesten von einer primären MTX-Intoxikation aus, bedingt durch die versehentlich tägliche statt wöchentliche Einnahme von 10 mg MTX. Daraufhin kam es zu den bekannten Komplikationen mit einer Panzytopenie, einer Hepato- und Nephrotoxizität sowie einer schweren Mukositis. Letztere führte mutmasslich zu ­einer bakteriellen Translokation (Nachweis von Esche­richia coli im tiefen abdominalen Abstrich aus erster ­Laparotomie) mit Sepsis und somit konsekutiver mesenterialer Ischämie bei bereits vorbestehender filiformer Stenose der Arteria mesenterica superior.
Die Toxizität von MTX wurde bei unserer Patientin poten­ziert durch die simultane Einnahme von Diclo­fenac, das ebenfalls über den hOAT-3 ausgeschieden wird, und durch die Niereninsuffizienz bereits bei Spital­eintritt. Dies wiederum führte zu einer weiteren Reduktion der renalen «clearance» von MTX und den ­toxischen Nebenwirkungen, die letztendlich leider ­letal waren.
In diesem Fall, wie in anderen in der Literatur berichteten Fällen zur täglichen statt wöchentlichen MTX-Einnahme, lag die Serum-MTX-Konzentration unterhalb der Grenze für eine Behandlung mit Carboxypeptidase [9]. Des Weiteren hatten in einer Fallserie sieben Pa­tienten mit erheblichen MTX-Toxizität (Panzytopenie, Pneumonitis) nicht nachweisbare Serum-MTX Kon­zentra­tionen. In Fällen, bei denen MTX nachweisbar war, korrelierte die Konzentration nicht mit dem Grad der Zytopenie. Grund hierfür ist die bei normaler Nierenfunktion ­relativ kurze Plasmahalbwertszeit (drei bis zehn Stunden), im Gegensatz zur langen intrazellulären Halbwertszeit der aktiven Polyglutamat-Meta­bolite (GluMTX), die sich im ­Gewebe bilden [2]. Diese nicht direkt messbaren intrazellulären Metabolite sind vermutlich verantwortlich für die Toxizität bei «low-dose»-MTX [9].
Der Fall wurde dem nationalen Pharmakovigilanz-Zentrum der Swissmedic gemeldet. Zwischenzeitlich wurden kleinere Packungsgrössen eingeführt (so etwa Packungen mit 10, respektive 20 anstelle von 100 Tabletten MTX 10 mg). Weitere Massnahmen waren auch eine Patientenkarte (Abb. 1) und «Boxed warnings» in den Fach- und Patienteninformationen, um solche Einnahmefehler zu reduzieren [10].
Abbildung 1: Patientenkarte zur Verhinderung von Einnahmefehlern.

Das Wichtigste für die Praxis

• Die Besprechung der korrekten Medikamenteneinnahme mit den Patienten ist essentiell und kann Fehler vermeiden.
• Methotrexat (MTX) wird zu 90% renal ausgeschieden – cave bei Niereninsuffizienz!
• Bei der kombinierten Einnahme von Methotrexat mit nichtsteroidalen Antirheumatika immer an die Möglichkeit einer erhöhten MTX-Exposition sowie den additiven ­toxischen Effekt denken!
• Mögliche Therapien einer MTX-Intoxikation sind:
– Leucovorin als biologisch aktiver Metabolit der Folsäure (Antidot);
– die forcierte Hydrierung und Urin-Alkalinisierung, gegebenenfalls ­Nierenersatzverfahren bei bereits etablierter Niereninsuffizienz;
– Carboxypeptidase.
• Bei Feststellung eines vermeidbaren Einnahme- oder Medikamenten­fehlers sollte immer eine Rückmeldung an Swissmedic erfolgen – es dient der Vermeidung ähnlicher Fälle in der Zukunft.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert
Dr. med. (H) Alexandra Nagy
Hirslanden Klinik Birshof
Reinacherstrasse 28
CH-4142 Münchenstein
alexandra.nagy[at]hirslanden.ch
 1 Yélamos O. et al. Acute severe methotrexate toxicity in patients with psoriasis: a case series and discussion, Dermatology. 2014;229(4):306–9.
 2 Fachinformation Methotrexat (www.swissmedicinfo.ch).
 3 Feinsilber D. Evaluation, Identification and Management of Acute Methotrexate Toxicity in High-dose Methotrexate Administration in Hematologic Malignancies. Cureus. 10(1):e2040.
 4 Kremer J. Toward a better understanding of Methotrexate, Arthritis and Rheumatism. 2004;50:1370–82.
 5 Svanström H, Lund M, Melbye M, Pasternak B. Concomitant use of low-dose methotrexate and NSAIDs and the risk of serious adverse events among patients with rheumatoid arthritis. Pharmacoepidemiol Drug Saf. 2018;24. doi:10.1002/pds.4555. [Epub ahead of print].
 6 Preet Singh Y, Aggarwal A, Misra R, Agarwal V. Low-dose methotrexate-induced pancytopenia. Clin Rheumatol. 2007;26(1):84–7.
 7 Uraz S. et al. Role of ursodeoxycholic acid in prevention of methotrexate-induced liver toxicity, Dig Dis Sci. 2008;53(4):1071–7.
 8 Fermiano M. et al. Glucarpidase for the management of elevated methotrexate levels in patients with impaired renal function. Am J Health Syst Pharm. 2014;71:793–8.
 9 Kivity S, Zafrir Y, Loebstein R, Pauzner R, Mouallem M, Mayan H. Clinical characteristics and risk factors for low dose methotrexate toxicity: a cohort of 28 patients. Autoimmun Rev. 2014;13(11):1109–13.