Polyglobulie bei Missbrauch von androgenen anabolen Steroiden
Was hat «Das Schwarze Buch» mit Aderlass zu tun?

Polyglobulie bei Missbrauch von androgenen anabolen Steroiden

Der besondere Fall
Ausgabe
2019/3940
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08264
Swiss Med Forum. 2019;19(3940):655-658

Affiliations
Kantonsspital St. Gallen
a Allgemeine Innere Medizin/Hausarztmedizin, b Klinik für Endokrinologie, Diabetologie, Osteologie und Stoffwechselerkrankungen

Publiziert am 25.09.2019

Ein Mann wurde notfallmässig vom Hausarzt zugewiesen wegen Kopfschmerzen, verminderten Antriebs sowie wiederholter Schwächeanfälle. Aufgrund des muskulösen Körperbaus bestand der Verdacht des Anabolikamissbrauchs.

Hintergrund

Die Polyglobulie ist nicht nur eine typische Nebenwirkung einer supraphysiologischen Testosterontherapie, sondern tritt recht häufig bei der physiologischen ­Ersatztherapie auf. Weniger bekannt, aber ebenso klinisch relevant ist die Polyglobulie bei Missbrauch von androgenen anabolen Steroiden (AAS). Nicht nur im Profi-Bodybuilding, sondern zunehmend auch bei ­ambitionierten Hobby-Bodybuildern werden AAS, oft in Kombination mit weiteren Substanzen, eingenommen. Neben Potenz- und Schlankheitsmitteln sind AAS gemäss Antidoping Schweiz die am dritthäufigsten ­illegal konsumierten Substanzen.

Fallbericht

Anamnese

Ein 55-jähriger Mann wurde notfallmässig vom Hausarzt zur weiteren Abklärung zugewiesen wegen seit drei Wochen bestehender Kopfschmerzen, allgemeiner Schwäche, vermindertem Antrieb ­sowie wiederholten Schwächeanfällen ohne Bewusstlosigkeit.

Status und Befunde

Bei Eintritt war der Patient afebril, kardiopulmonal kompensiert mit hypertensiven Blutdruckwerten (169/102 mm Hg), und es imponierte ein muskulöser Habitus bei einem Body-Mss-Index (BMI) von 33,2 kg/m2. Im Hautstatus zeigten sich mehrere deutlich über dem Hautniveau erhobene Akneläsionen im oberen Rücken und Schulterbereich, eine Sternoto­mienarbe und dellenförmige Einziehungen an beiden Mamillen.
Laborchemisch zeigte sich ein Hämoglobin von 210 g/l, ein Hämatokrit von 0,59 sowie eine eingeschränkte Nierenfunktion mit einer eGFR von 52 ml/min (Tab. 1).
Tabelle 1: Pathologische Laborbefunde bei der Aufnahme.
LaborparameterResultatNormwert
Hämatokrit0,597 0,40–0,54
Hämoglobin210 g/l140–180 g/l
Erythrozyten6,7 T/l4,6–6,4 T/l
Thrombozyten122 G/l150–300 G/l
Harnstoff 8,5 mmol/l2–8 mmol/l
Creatinin132 µmol/l<115 µmol/l
eGFR (CKD-EPI)52 ml/min93 ml/min 
(50–59 Jahre)
Gesamtcholesterin4,6 mmol/l<5,0 mmol/l
Triglyceride3,4 mmol/l<1,7 mmol/l
LDL-Cholesterin2,7 mmol/l
(unter 40 mg ­Atorvastatin)
2,6 mmol/l
HDL-Cholesterin1,0 mmol/l>1,0 mmol/l
FSH1,82 U/l1–9 U/l
LH0,25 U/l1–9 U/l
Testosteron frei17,1 pmol/l31–142 pmol/l
Referenzwerte Zentrum für Labormedizin (ZLM), Kantonsspital St. Gallen
Die arterielle Blutgas-Analyse ergab keine Hinweise auf eine Hypoxämie. In der persönlichen Anamnese des Patienten zeigte sich eine koronare Herzkrankheit (KHK) mit einer vor vier Jahren durchgeführten zweifachen aortokoronaren Bypass-Operation bei Hauptstamm- und RIVA-Stenosen. Retro­spek­tiv war bereits zu diesem Zeitpunkt eine Polyglobulie mit einem Hämoglobin von 208 g/l und einem Hämatokrit von 0,61 auffällig.
Die vor Spitaleintritt durch den Hausarzt durchgeführte Bestimmung des Erythropoetin-Spiegels war im Normbereich, bei einem fehlenden Nachweis einer Mutation im JAK2-Gen fanden sich keine Hinweise auf eine Polycythaemia vera.
Aufgrund des muskulösen Körperbaus und Bodybuildings bestand der Verdacht eines Anabolikamissbrauchs. Auf Nachfrage bestätigte der Patient, bis vor einem Monat als Wettkampfvorbereitung wöchentlich 2 × 200 mg Testosteronproprionat im Drei-Tagesintervall zur Leistungssteigerung und zum Muskelaufbau intramuskulär gespritzt zu haben. Dieses Depotprä­parat ist in seiner Wirkung vergleichbar mit dem in der Schweiz zugelassenen Testosteronenantat. Somit wurde bei fehlenden Hinweisen auf eine alternative Ätiologie – insbesondere keine Anhaltspunkte für chronische Hypoxämie, Malignome oder Polycythaemia vera – die Diagnose ­einer Polyglobulie als Folge der wiederholten An­wendung von AAS gestellt. Als weitere biochemische Zeichen des zurückliegenden Anabolikamissbrauchs zeigten sich ein tief normwertiges follikelstimulierendes Hormon (FSH) 1,82 U/l und reduziertes luteinisierendes Hormon (LH) 0,25 U/l bei pathologisch erniedrigtem freien Testosteron mit 17,1 pmol/l (Tab. 1).

Therapie

Zur Verhinderung einer thromboembolischen Komplikation wurde ein dreimaliger Aderlass (jeweils 450 ml mit Flüssigkeitssubstitution) durchgeführt sowie eine prophylaktisch antithrombotische Therapie mit niedermolekularem Heparin begonnen. Der Patient konnte nach sechs Tagen mit einem Hämoglobin von 192 g/l beschwerdefrei nach Hause entlassen werden. Die Nebenwirkungen des AAS-Missbrauchs wurden mit dem Patienten eingehend besprochen.

Diskussion

Die Polyglobulie wird als eine Zunahme der roten Blutkörperchen mit einem Anstieg des Hämatokrits und/oder Hämoglobins über die geschlechtsspezifischen Normwerte definiert (0,52 Hämatokrit, 185 g/l Hämoglobin beim Mann, respektive 0,48 und/oder 165 g/l bei der Frau) [1]. Je nach Ätiologie wird die Polyglobulie in primäre, ­sekundäre und kombinierte Formen unterteilt. Eine ­Sonderform stellt die relative Polyglobulie im Rahmen eines verminderten Plasmavolumens, auch Pseudoglobulie genannt, dar. Häufige Ursachen einer Polyglobulie sind chronische Hypoxie (Rauchen, pulmonal- oder kardialbedingte Hypoxämie inklusive Schlaf-Apnoe-Syndrom), Medikamente (Erythropoietin, Testosteron oder AAS, Diuretika) oder seltener eine Polycythaemia vera oder Erythropoietin-produzierende Neoplasien (Nierenzell-Karzinom, Hepatozel­luläres Karzinom, Hämangioblastom und anderes) (Abb. 1) [1].
Abbildung 1: Abklärungsalgorithmus und die häufigsten Ursachen der Polyglobulie. 
* Die Erythrozytenmasse wird maschinell gezählt; es ist die Anzahl der Erythrozyten pro Mikroliter (Referenzwert: 4,6–6,4 T/l).
Unabhängig von der zugrunde liegenden Ätiologie können sich aufgrund der resultierenden Hyperviskosität folgende Beschwerden zeigen: Müdigkeit, Kopfschmerzen, Sehstörungen bis hin zu kurzzeitigem Visusverlust, Myalgien, Schwäche, Parästhesien sowie eine mentale Verlangsamung als Zeichen einer beeinträchtigten Sauerstoffversorgung des Zentralnervensystems. Im Extremfall kann es zu thrombembolischen Komplikationen mit dem klinischen Bild einer tran­sitorischen ischämischen Attacke oder eines Schlag­anfalls kommen (Tab. 2).
Tabelle 2: Häufigste Nebenwirkungen des Testosteron- und ASS Missbrauchs.
Herz-­Kreislauf-SystemErhöhtes Risiko für KHK, plötzlichen Herztod und Schlaganfall
Kardiomyopathie
Dyslipidämie (HDL-C ↓↓, LDL-C ↑)
Arterielle Hypertonie
Polyglobulie
HormonsystemHodenatrophie und gestörte Spermio­genese
Erektionsstörungen
Gynäkomastie
Akne
Virilisierung bei Frauen
Prostatahyperplasie, eventuell erhöhtes ­Risiko für Prostata­karzinom
LeberSteatosis hepatis und Lebertumore (17-alpha-alkylierte ­Substanzen)
Neuropsychische ­StörungenDepression und beim Absetzen ­Antriebsmangel und ­Lustlosigkeit, ­Stimmungsschwankungen
Verstärkte Aggression
MuskuloskelettalSehnenruptur
Adaptiert nach [6].
Klinik, Laborbefunde und vor allem die Angaben des Patienten waren wegweisend für die Diagnose einer AAS-induzierten Polyglobulie. Es fanden sich keine Anhaltspunkte für alternative Ursachen der Polyglobulie.
Das kardiovaskuläre Risiko ist bei AAS-Missbrauch deutlich erhöht. Plötzlicher Herztod, Myokardinfarkte und Schlaganfälle sind typische, teiweise fatale Komplikationen. Wichtige Risikofaktoren sind neben der Polyglobulie eine Dyslipidämie mit einer oft ausgeprägten Erniedrigung des «High Density»-Lipoprotein-Cho­lesterins (HDL-C) und einer «Low Density»-Lipoprotein-Cholesterin(LDL-C)-Erhöhung sowie die linksventrikuläre Hypertrophie. Somit muss auch die beim Patienten bekannte koronare Herzkrankheit in Zusammenhang mit dem AAS-Missbrauch gesehen werden.
Die Polyglobulie ist eine bekannte, häufige und linear dosisabhängige Nebenwirkung von Testosteron respektive AAS. Auch bei einer Testosteronsubstitutionsbehandlung bei Hypogonadismus sind in den ersten Monaten regelmässige Blutbildkontrollen indiziert [2]. In randomisierten Studien zur Testosteronersatztherapie bei Hypogonadismus konnte gezeigt werden, dass das Risiko der Polyglobulie mit steigender Dosierung signifikant zunimmt, dies mehrheitlich bei Männern ab dem 60. Lebensjahr [3]. Pathophysiologisch liegt der Polyglobulie eine Suppression der Bildung von Hepcidin, eines wichtigen Regulators des Eisenstoffwechsels, und eine Stimulation der Erythropoetinbildung zugrunde. Es resultiert einerseits eine Rekalibrierung des «Setpoints» der Erythropoese für Erythropoetin und andererseits eine gesteigerte Eisenverwertung respektive intestinale Eisenresorption (Abb. 2) [4].
Abbildung 2: Pathogenetische Mechanismen der anabolikainduzierten Polyglobulie.
A: Testosteron führt zur Hemmung der hepatischen Hepcidinsynthese und somit zu ­vermehrter intestinaler Eisenverwertung ⇒ Polyglobulie.
B: Testosteron führt zur Stimulation der Erythropoetin(EPO)-Produktion in den Nieren und damit zur Änderung des EPO-Setpoints ⇒ Polyglobulie.
Auch bei Hobbyathleten ist der Anabolikamissbrauch ein häufiges Phänomen, wobei genaue Angaben zur ­Epidemiologie fehlen. Oft werden Testosteron und AAS gleichzeitig angewendet. Dosierungen bis 1000 mg Testosteron pro Woche sind durchaus üblich. Das sogenannte «Schwarze Buch» ist neben dem Internet eine bei interessierten Laien verbreitete Quelle, die detaillierte Hinweise zur Anwendung von AAS liefert [5].
Neben dem meist athletischen Habitus der Patienten sind Akne, Gynäkomastie und eine Hodenatrophie ­typische klinische Zeichen des Testosteron- und AAS- Missbrauchs. Nicht selten wird dieser im Rahmen einer Infertilitätsabklärung festgestellt. Psychische Veränderungen wie Depressionen bei allgemein vermindertem Antrieb werden vor allem beim Absetzen der Anabolika beobachtet, was mit dem langdauernd tiefen Testosteronspiegel bei noch fehlender endogener Synthese zu erklären ist. Gesteigerte Aggressivität bei Anabolikamissbrauch ist ein Phänomen, das in der medizinischen Literatur vermehrt beschrieben wird, aber nicht zwingend zu erwarten ist (Tab. 2).
Durch die exogene Testosteron- bzw. AAS-Applikation wird die Gonadotropinsekretion supprimiert und ­somit werden im Labor tiefe LH/FSH-Werte gemessen. Erfolgt die Laborkontrolle zeitnah zu einer Testosteron­applikation, sind die Testosteronwerte oft deutlich erhöht. Bei unserem Patienten hingegen lag die letzte Testosteron­injektion bereits mehrere Wochen zurück, was im Labor durch das tiefe freie Testosteron bei ­jedoch anhaltend tiefen LH-/FSH-Werten objektiviert werden konnte. Je nach Intensität und Dauer des Anabolikamissbrauchs kann es bis zur Erholung der körpereigenen Testosteronsynthese 12 bis 18 Monate dauern. In Einzelfällen kommt es zu einer irreversiblen Schä­digung der männlichen Hormonproduktion und Fertilität. Erhöhte Kreatinkinase (CK)-Werte können durch die intramuskulären Injektionen und das regelmässige intensive Training erklärt werden. Bei gleichzeitigem Gebrauch von Wachstumshormonen ist der IGF-1-Wert erhöht. Um den typischen Nebenwirkungen Gynäkomastie und Hodenatrophie und der Suppression der Gonadenachse vorzubeugen, nehmen die Athleten oft zusätzlich Antiöstrogene (Tamoxifen, Clomiphencitrat) oder Aromatasehemmer (Letrozol, Anastrozol) ein, ­seltener werden Gonadotropine angewendet. Um der Alopezie vorzubeugen, wird gelegentlich Finasterid angewendet. Wochen vor einem Wettkampf werden zur Reduktion des subkutanen Fettgewebes neben Diruetika auch sogenannte «fat-burner» zur Beschleunigung des Stoffwechsels und Erhöhung der Körpertemperatur ein­genommen. Aufgrund der potenteren Wirkung wird vorzugsweise das Schilddrüsenersatzhormon ­Lithothyroxin (T3), aber auch Ephedrin verwendet. Vor allem der unkontrollierte Einsatz von Diuretika führt zu Elektrolytstörungen und kann durch die resultierende Erhöhung der Viskosität des Blutes eine bereits bestehende Polyglobulie verstärken.
Gemäss unserer Erfahrung berichten Patienten über die Verwendung von AAS oft nur zögerlich und erst nach gezielter Nachfrage. Umso wichtiger ist es, sie hinsichtlich der regelhaft auftretenden und teilweise fatalen Nebenwirkungen zu informieren und sie beim Absetzen der Therapie zu unterstützen. Oft ist eine psychotherapeutische Begleitung indiziert.

Das Wichtigste für die Praxis

• Bei der Diagnose einer Polyglobulie sollte neben der Polyzythämia vera, einer chronischen Hypoxämie mit vermehrter Erythropoietin-Produktion oder Erythropoietin-Applikation auch ein Anabolikamissbrauch in Betracht gezogen werden.
• Auffällige Merkmale eines Anabolikamissbrauchs sind übermässige Muskelproportionen, Hodenatrophie, oft verbunden mit Akne im Schulter-, Nacken- und oberen Rückenbereich, Gynäkomastie sowie eine Inferti­lität. Plötzlicher Herztod, Myokardinfarkte und Schlaganfälle sind mög­liche fatale Nebenwirkungen.
• Laborchemisch sind supprimierte Gonadotropine, teilweise deutlich erhöhte Testosteronwerte bei der Verwendung von Testosteronpräparaten, eine Polyglobulie und eine typische Dyslipidämie mit deutlich erniedrigten HDL-C auffällig.
• Bei begründetem Verdacht sollte der Patient angesprochen und bezüglich der Nebenwirkungen des AAS-Missbrauchs informiert werden. Ihm sollte Unterstützung beim Absetzen der Substanzen angeboten werden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. univ. (A)
Michael ­Walter Kuhn
Praxisgemeinschaft
Filzfabrik
Lerchenfeldstrasse 9
CH-9500 Wil (SG)
michael.kuhn[at]hin.ch
1 Keohane C, McMullin MF, Harrison C. The diagnosis and management of erythrocytosis. BMJ. 2013;347.
2 Middleton T, Turner L, Fennell C, Savkovic S, Jayadev V, Conway J, et al. Complications of injectable testosterone undecanoate in routine clinical partice. Eur J Endocrinol. 2015;172(5):511–7.
3 Bachman E, Feng R, Travison T, Li M, Olbina G, Ostland V, at al. Testosterone suppresses hepcidin in men: a potential mechanism for testosterone-induced erythrocytosis. J Clin Endocrinol Metab. 2010;95(10):4743–7.
4 Bachman E, Travison TG, Basaria S, Davda MN, Guo W, Li M, et al. Testosterone induces erythrocytosis via increased erythropoietin and suppressed hepcidin: evidence for a new erythropoietin/hemoglobin set point. Gerontol A Biol Sci Med Sci. 2014;69(6):725–35.
5 Sinner D. Anabole Steroide. Das schwarze Buch. 3. Aufl. Gießen: BMS Verlag; 2010.
6 Snyder PJ. Use of androgens and other hormones by athletes. UpToDate 2018.