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Die Regionalisierung der Versorgung von kranken Neugeborenen hat wesentlich zur Reduktion von Mortalität und Morbidität beigetragen. Die Swiss-DRGs setzen falsche finanzielle Anreize, die sich nachteilig auf die Versorgungsqualität auswirken können.
Hintergrund
Seit den Anfängen der modernen Neonatologie in den 1960er Jahren hat die Regionalisierung in diesem Fachgebiet stets eine wichtige Rolle gespielt. Der Aufbau neonatologischer Intensivstationen mit ihren speziellen Anforderungen auf personeller, technischer und infrastruktureller Ebene wurde in der Schweiz schon früh limitiert auf Universitäts- und grössere Kantonsspitäler, die mit den umliegenden Geburtskliniken und Pädiatrieabteilungen regionale Netzwerke bilden. Hauptmerkmale solcher perinatalen Netzwerke sind spezifische Transportequipen für Neugeborenentransporte, eine enge Zusammenarbeit mit den Geburtshelfern betreffend vorgeburtlichen Verlegungen und das Festlegen von Rückverlegungsmodalitäten in die regionalen Pädiatrieabteilungen nach beendeter intensivmedizinischer Therapie.
Da die Betreuung von Neugeborenen ganz spezifische Anforderungen stellt, ist bei Versorgungsengpässen ein Ausweichen auf andere Disziplinen im selben Spital nicht möglich und Verlegungen in Zentrumsspitäler anderer Regionen werden erforderlich. Die seit rund 20 Jahren bestehende, internetbasierte Bettenbelegungsplattform, die jederzeit Auskunft über freie neonatologische Intensivplätze in der Schweiz gibt, ist nur ein Hinweis auf die enge Zusammenarbeit unter den Schweizer Neonatologieabteilungen. Diese gut funktionierende nationale und regionale Vernetzung wird aber in jüngster Zeit durch neue Herausforderungen bedroht, auf die in diesem Artikel eingegangen werden soll.
Zunahme der Geburtenzahl – Mangel an Neonatologiepflegeplätzen
Laut den Prognosen des Bundesamtes für Statistik ist in den nächsten Jahren mit einer Zunahme der Geburten zu rechnen [1]. So soll die Geburtenzahl bis 2025 auf über 90 000/Jahr oder bis 2030 sogar auf 103 000/Jahr ansteigen. Gemäss internationalen Standards werden pro 1000 Lebendgeburten pro Jahr ein neonatologischer Intensivpflegeplatz und drei weitere neonatologische Patientenplätze gefordert. In der Schweiz sollte demnach für die nächsten 12 Jahre eine Zunahme des Bettenbestandes um rund 15% erfolgen. Schon heute können aber aufgrund eines Mangels an spezialisierten Pflegefachkräften rund 10% der vorhandenen Intensivpflegeplätze nicht betrieben werden.
Neugeborenentransporte: eine Herausforderung für Zentrumsspitäler
Alle Perinatalzentren in der Schweiz betreiben einen Transportdienst für Neugeborenennotfälle. Diese Aktivität besteht darin, innert kürzester Frist medizinisch-pflegerisches Know-how und hochspezialisiertes Material an den Geburtsort zu bringen, um alle intensivmedizinischen Massnahmen vor Ort durchführen zu können. Die Anzahl der Notfalltransporte pro Zentrum in der Schweiz liegt bei wenigen Dutzend bis zu 300 Einsätzen pro Jahr. Die Transportequipen sind Teil einer neonatologischen Intensivstation und das notwendige Personal ist entweder im Pikettdienst engagiert oder wird von der effektiven Schicht abgezogen und schränkt dadurch die Betreuungsmöglichkeiten der hospitalisierten Intensivpatienten für die Dauer des Transportes ein. Unabhängig von Spitälern operierende Transportequipen lohnen sich erst ab einem Volumen von über 1000 Notfalltransporten pro Jahr [2].
Nationale Standards
Während die regionale Zusammenarbeit zwischen Zentrums- und Regionalspitälern über viele Jahrzehnte mit bilateralen Abkommen geregelt war, wurde von verschiedener Seite das Anliegen an die Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie (SGN) herangetragen, auf gesamtschweizerischer Ebene eine Level-Einteilung der Neonatologieabteilungen zu definieren. Der Vorstand der SGN hat kürzlich die neueste Version der «Standards for Levels of Neonatal Care» gutgeheissen, die von der Akkreditierungskommission, der «Commission for the Accreditation of Neonatal Units» (CANU) ausgearbeitet wurde (www.neonet.ch). Dieses Dokument, das medizinische, personelle, infrastrukturelle sowie aus- und weiterbildungsbezogene Standards fordert (Tab. 1), wurde im Einklang mit den Anforderungen des Schweizerischen Institutes für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) ausgearbeitet. Diesem Dokument wird zunehmende Bedeutung beigemessen, nicht nur auf klinischer, sondern auch auf ökonomischer und gesundheitspolitischer Ebene, was eigentlich nicht dem initialen Ziel der SGN entspricht, nämlich der Ausarbeitung klinischer neonatologischer Standards.
Tabelle 1: Charakteristika der «Levels of Neonatal Care». | |||
Level | Definition | Type of care | Gestational age / birth weight at delivery |
I | Neonatal Basic Care | Care for healthy infants | Postnatal care for infants born ≥35 0/7 weeks of gestation with a birth weight ≥2000 g |
II A | Neonatal Special Care | Care for moderately ill infants | Postnatal care for infants born ≥34 0/7 weeks of gestation with a birth weight ≥1500 g |
II B | Neonatal lntermediate Care | • Care for moderately ill infants • Non-invasive respiratory support | Postnatal care for infants born ≥32 0/7 weeks of gestation with a birth weight ≥1250 g |
III | Neonatal Intensive Care | Care of infants with all entities of neonatal diseases until 28 postnatal days or completed 44 postmenstrual weeks for preterm infants | No limit of gestational age or birth weight |
Quelle: Standards for Levels of neonatal care in Switzerland (www.neonet.ch) |
Fallpauschalen könnten neonatologische Netzwerke destabilisieren
Perinatale Netzwerke funktionieren nur dann effizient, wenn die Aufgaben und Kompetenzen aller Netzwerkpartner ideal genutzt werden. Dies beinhaltet, dass notfallmässig in die Intensivstation des Zentrumsspitals verlegte Patienten wieder in das wohnortnahe Regionalspital zurückverlegt werden, sobald sie nicht mehr einer intensivmedizinischen Betreuung bedürfen. Dies verschafft dem Zentrumsspital freie Aufnahmekapazitäten für Notfälle und ermöglicht dem Regionalspital eine gute Bettenauslastung, verkürzt die Anfahrtswege für die Familien und ermöglicht so eine familienzentrierte Betreuung. Mit der Einführung der Fallpauschalen im Rahmen der Swiss-DRGs und dem zunehmend spürbaren wirtschaftlichen Druck besteht die Gefahr, dass diese netzwerkinterne Zusammenarbeit durch ökonomische Überlegungen bedroht wird.
Dies soll durch verschiedene Szenarien eines Fallbeispiels illustriert werden (siehe auch Tab. 2):
Fallbeispiel:
Ein frühgeborenes Kind der 33 6/7 Schwangerschaftswoche (SSW) mit 1980 g Geburtsgewicht weist ein Atemnotsyndrom auf und benötigt eine nichtinvasive Atemunterstützung durch kontinuierlichen positiven Atemwegsdruck (CPAP) für 48 Stunden. Am Tag 10 wird es entlassen.
Szenario 1
Szenario 1: Erfolgt die ganze Hospitalisation in einer Level-IIB- oder Level-III-Neonatologieabteilung, so wird gemäss Fallpauschalenkatalog (SwissDRG System 7.0/2018) ein effektives Kostengewicht von 3,955 Punkten errechnet (P65A).
Szenario 2
Wird derselbe Patient, da er nur 48 Stunden eine Atemunterstützung braucht, am Tag 4 in ein Regionalspital verlegt, so wird er infolge seiner kurzen Hospitalisationszeit im Primärspital in eine andere DRG-Gruppe (P60B) eingeteilt, mit einem Kostengewicht von 1,091 Punkten. Eine Reduktion des Kostengewichtes ist sicherlich angezeigt, da der Patient ja nur 3 anstelle der 10 Tage (Szenario 1) im Zentrumsspital hospitalisiert ist. Im Regionalspital, wo er von Tag 4–10 hospitalisiert wird, gilt er als Patient mit DRG P65C, da er keine respiratorische Unterstützung mehr braucht (Kostengewicht 1,472). Da er aber ein verlegter Patient ist und nur eine Hospitalisationszeit von 6 Tagen aufweist, erfolgt seine Entlassung 5,5 Tage vor der mittleren Verweildauer (MVD) für diese DRG-Gruppe, was mit einem externen Verlegungsabschlag von 0,6435 Punkten einhergeht. Das totale Kostengewicht für beide Spitalaufenthalte zusammen wird nun aber trotz deutlichem Mehraufwand (Betreuung durch zwei Equipen, Ambulanztransport vom Zentrumsspital in das Regionalspital) nur noch mit 1,9195 Punkten beziffert, was 48% des Szenario 1 entspricht.
Szenario 3
Wird derselbe Patient anstelle von 10 (Szenario 1) respektive 3 Tagen (Szenario 2) während 6 Tagen im Zentrumsspital betreut, mit Verlegung ins Regionalspital für die restliche Hospitalisationsdauer von Tag 7–10, so wird das totale Kostengewicht nochmals tiefer berechnet (1,565 Punkte oder 39,6% des Kostengewichtes von Szenario 1), da die Abschläge nochmals gewichtiger ausfallen, und dies kann nun definitiv nicht mehr logisch nachvollzogen werden.
Tabelle 2: Finanzielle Auswirkungen von drei verschiedene Szenarien der Betreuung eines Frühgeborenen (FG) mit Atemproblemen. | ||||||||||
GA/GG (AG) | Problem | Hospitalisation | DRG | Kosten-Gewicht | Mittlere Verweildauer (MVD) [Tage] | 1. Tag mit Abschlag | 1. Tag Zusatzentgelt | Externe Verlegung: Abschlag pro Tag | Effektives Kostengewicht | |
1 | FG 33 6/7 SSW GG 1980 g | CPAP 48 h | ZS Tag 1–10: = 9 Tage hosp. | P65A | 3,955 | 24,5 | 7 | 42 | 0,155 | 3,955 |
P65A: | Neugeborenes, Aufnahmegewicht 1500–1999 g, mit Beatmung >24 und <96 Stunden oder mit schwerem Problem | |||||||||
Totales Kostengewicht (9 Tage Hospitalisation im Zentrumsspital): 3,955 (100%) | ||||||||||
2 | FG 33 6/7 SSW GG 1980 g | CPAP 48 h | ZS Tag 1–4: = 3 Tage hosp. | P60B | 1,091 | 2 | 1,091 | |||
P60B: | Neugeborenes, verstorben oder verlegt <5 Tage nach Aufnahme ohne signifikante OR-Prozedur, oder mit Beatmung >24 und <96 Stunden | |||||||||
FG 34 2/7 SSW AG 1900 g | keine | RS Tag 4–10: = 6 Tage hosp. 5,5 vor MVD | P65C | 1,472 | 11,5 | 3 | 23 | 0,117 | 1,472 – (5,5 × 0,117) = 0,8285 | |
P65C: | Neugeborenes, Aufnahmegewicht 1500–1999 g | |||||||||
Totales Kostengewicht (3 Tage Hospitalisation in Zentrumsspital, 6 Tage in Regionalspital): 1,9195 (48,5%) | ||||||||||
3 | FG 33 6/7 SSW GG 1980 g | CPAP 48 h | ZS Tag 1–7: = 6 Tage hosp. | P65A | 3,955 | 24,5 | 7 | 42 | 0,155 | 3,955 – (18,5 × 0,155) = 1,0875 |
P65A: | Neugeborenes, Aufnahmegewicht 1500–1999 g, mit Beatmung >24 und <96 Stunden oder mit schwerem Problem | |||||||||
FG 34 6/7 SSW AG 1950 g | keine | RS Tag 7–10: = 3 Tage hosp. | P65C | 1,472 | 11,5 | 3 | 23 | 0,117 | 1,472 – (8,5 × 0,117) = 0,4775 | |
P65C: | Neugeborenes, Aufnahmegewicht 1500–1999 g | |||||||||
Totales Kostengewicht (6 Tage Hospitalisation in Zentrumsspital, 3 Tage in Regionalspital): 1,565 (39,6%) | ||||||||||
GA: Gestationsalter; GG: Geburtsgewicht; AG: Aufnahmegewicht; SSW: Schwangerschaftswoche; OR: «operating room»; ZS: Zentrumsspital; RS: Regionalspital. |
Auch wenn solche Berechnungen in der Schweiz glücklicherweise noch nicht generellen Eingang in den klinischen Alltag gefunden haben, so besteht dennoch die Gefahr, dass bei zunehmendem ökonomischen Druck die Zusammenarbeit in neonatologischen Netzwerken immer mehr durch pekuniäre als durch patientenorientierte Überlegungen geprägt werden.
Diskussion
Die Neonatologie ist als Subspezialität der Pädiatrie geprägt durch eine Zusammenarbeit in kantonsübergreifenden Netzwerken. Es erfolgen regelmässige organisatorische und administrative Sitzungen aller Leiter von Neonatologieabteilungen der Schweiz (SwissNeoNet). Eine gemeinsame Datenbank («Minimal Neonatal Data Set») dient der Qualitätskontrolle von Hochrisikopatienten und dem internationalen Benchmarking durch Mitarbeit im Vermont-Oxford-Netzwerk. Ein weiterer Ausdruck der intensiven, interregionalen Zusammenarbeit ist die webbasierte, täglich aktualisierte nationale Liste der verfügbaren Intensivplätze.
In Anbetracht der prognostizierten Geburtenzunahme der nächsten Jahre und des zunehmenden Mangels an spezialisiertem Pflegepersonal wird diese erfolgreiche Kollaboration durch einen sich verschärfenden Mangel an neonatologischen Intensivpflegeplätzen gefährdet.
Die Einführung der Fallpauschalen hat ausserdem zu einer Untervergütung der realen Kosten vieler neonatologischer Patientengruppen geführt und gefährdet durch ökonomischen Druck die bisher gut funktionierenden Netzwerke zusätzlich.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Prof. Dr. med.
Matthias Roth-Kleiner
Service de Néonatologie
Centre Hospitalier
Universitaire Vaudois
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CH-1011 Lausanne
matthias.roth[at]chuv.ch
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