Schwere Komplikationen einer beta-Thalassaemia major
Geflüchtete Jugendliche mit in westlichen Ländern seltenen Krankheitsbildern

Schwere Komplikationen einer beta-Thalassaemia major

Der besondere Fall
Ausgabe
2019/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08327
Swiss Med Forum. 2019;19(4950):818-821

Affiliations
Inselspital, Universitätsspital Bern: a Pädiatrische Hämatologie/Onkologie, Medizinische Universitäts-Kinderklinik; b Pädiatrische Endokrinologie/Diabetologie/Metabolik, Medizinische Universitäts-Kinderklinik; c Universitätsinstitut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie; d Universitätsinstitut für Diagnostische, Interventionelle und Pädiatrische Radiologie
* Die beiden Autorinnen haben zu gleichen Teilen zu diesem Artikel beigetragen.

Publiziert am 04.12.2019

Bei Patienten mit unklarer mikrozytärer, hämolytischer Anämie aus der Mittelmeerregion, Asien, Afrika oder Lateinamerika sollte ein Thalass­ämiescreening durchgeführt werden.

Hintergrund

Eine beta-Thalassaemia major entsteht durch homozygote oder compound heterozygote Punktmutationen und Deletionen im beta-Globingen mit daraus resultierender verminderter, respektive fehlender Produktion von beta-Globinketten und einem Ungleichgewicht von ­alpha- und beta-Globinketten. Dies führt zur Bildung von pathologischen, mikrozytären Ery­throzyten mit einer auffälligen Morphologie («Targetzellen»), vermehrter Hämolyse und folglich Anämie. Komplikationen entstehen unter anderem durch Knochenmarksexpansion mit extramedullärer Hämatopoiese und erhöhter intestinaler Eisenabsorption mit konseku­tiver Eisenüberladung. Letzteres findet auch ohne Transfusionsbedarf statt. Schwere Komplikationen im Rahmen einer beta-Thalassaemia major sind in west­lichen Industrieländern selten geworden, durch regelmässige Ery­throzytentransfusionen, begleitet von Eisenentzugs­therapien (Chelat-Therapien) und der Möglichkeit einer kurativen Behandlung mit einer ­allogenen Stammzelltransplantation [1, 2, 5].

Fallberichte

Anamnese

Zwei weibliche und ein männlicher Jugendlicher mit bekannter homozygoter beta-Thalassämie sind mit ­ihren Familien aus dem Nahen Osten in die Schweiz geflüchtet. Während der Flucht aus ihrer Heimat hatten sie keine adäquate Therapie erhalten und präsentierten sich in den Jahren 2015 und 2017 an unserem Universitätsspital mit schweren Komplikationen.
Patientin 1: Sie stellte sich im Alter von 14 Jahren, Ende 2017, erstmals auf unserer Notfallstation vor. Sie präsentierte sich in extrem schlechtem Allgemeinzustand (AZ), war nicht mehr gehfähig, sass im Rollstuhl, klagte über Luftnot, Bauch- und massive Knochenschmerzen. Bei ihr war anamnestisch seit dem Alter von einem Jahr eine beta-Thalassaemia major bekannt, und wenn das Hämoglobin unter 40 g/l lag, erhielt sie alle drei bis vier Monate Erythrozytentrans­fusionen. Eine partielle – und daher wirkungslose – Chelat-Therapie mit Deferoxamin bekam sie jeweils intravenös direkt post transfusionem, orale Chelatoren waren nicht verfügbar.
Patientin 2: Die 17-jährige Schwester von Patientin 1, stellte sich zeitgleich in etwas besserem AZ vor. Auch sie litt anamnestisch an einer beta-Thalassaemia major. Seit dem Alter von sieben Jahren fanden alle 30 bis 35 Tage regelmässige Erythrozytentransfusionen mit anschliessender Gabe von intravenösem Deferoxamin statt. Sie berichtete vor allem über Luftnot, wenn das Hämoglobin tief sei, ansonsten hatte sie subjektiv keine Beschwerden.
Die Eltern der beiden Patientinnen sind konsanguin.
Patient 3: Er stellte sich Ende 2015 im Alter von 15 Jahren bei uns vor. Bei ihm bestand seit dem Alter von drei Jahren anamnestisch eine beta-Thalassaemia ­major und er erhielt alle drei bis vier Wochen Erythrozytentrans­fusionen ohne Chelat-Therapie. Bei ihm war zudem seit drei Jahren ein sehr schlecht eingestellter Diabetes mellitus bekannt, der mit Insulin subkutan behandelt wurde.

Status

Patientin 1: In der klinischen Untersuchung fielen neben dem sehr schlechten AZ, ein massiver Aszites und eine deutliche Dyspnoe auf. Klinisch zeigten sich zudem Fehlstellungen von mehreren Extremitäten, insbesondere des linken Vorderarms und linken Oberschenkels, die radiologisch unbehandelten, pathologischen Frakturen entsprachen. Zudem bestand ein Kleinwuchs mit einer Länge von 120 cm (–6,37 Standard Deviation Score [SDS]) und einem Gewicht von 26,3 kg (–3,75 SDS) (Abb. 1 und 2).
Abbildung 1: Klinische Befunde von Patientin 1 bei Eintritt. Auffällig sind das graue Hautkolorit und die reizlose Splenektomie­narbe (A), das ausladende Abdomen bei Hepatomegalie und Aszites (B), ebenso wie die Fehlstellung des linken Armes und ­Beines (C). Die Publikation erfolgt mit dem Einverständnis der Familie.
Abbildung 2: Röntgenbilder von Patientin 1. (A) Unterarm links, (B) Oberschenkel links und (C)Thorax a.p. bei Eintritt mit ­Nachweis von zahlreichen Frakturen, osteopener Knochenstruktur sowie Kardio- und Hepatomegalie.
Patientin 2: Sie zeigte ebenfalls einen Kleinwuchs mit einer Grösse von 139,7 cm (–3,56 SDS) und einem Gewicht von 42,3 kg (–1,89 SDS).
Patient 3: Er präsentierte sich in sehr schlechtem AZ, grün-grauem Hautkolorit und einem Kleinwuchs bei einer Länge von 133 cm (–4,37 SDS) und einem Gewicht von 31,2 kg (–3,65 SDS).
Weitere klinische- und Laborbefunde können Tabelle S1 des Online-Appendix des Artikels entnommen werden.

Diagnostik

In den bildgebenden und weiteren diagnostischen ­Untersuchungen zeigte sich bei allen Patienten eine schwere Eisenüberladung der Leber und des Herzens mit Leberzirrhose, Leberfunktionsstörung und Kardiomyopathie sowie kardialer Dysfunktion. Die Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels zeigte bei allen drei Patienten eine ausgeprägte Hämosiderose an diversen Lokalisationen (Abb. 3), insbesondere fanden sich bei allen drei Jugendlichen Ablagerungen in der Hypophyse, was zum Teil zu Wachstumshormonmangel und ausbleibender Pubertät führte.
Weitere Befunde sind in Tabelle S2 des Online-Appendix des Artikels zusammengefasst.
Abbildung 3: MRT von Patient 3. (A) Axiale suszeptibilitätsempfindliche (SWI-)Sequenz mit ausgeprägter Hypointensität im Plexus choroideus des 3. Ventrikels und der Seitenventrikel, vereinbar mit Siderose. Gemäss dem NHICP-Einstufungssystem [3] Grad-V-Eisenablagerungen des Plexus choroideus. (B) Axiale T2*-gewichtete Sequenz zeigt Signalabfall der Glandula lacrimalis beidseits, vereinbar mit Siderose. (C) Sagittale T2*-gewichtete Sequenz zeigt einen ausgeprägten Signalabfall der Adenohypophyse bei Eisenablagerung. ­Sichtbar sind auch die Verbreiterung der Schädelkalotte und die adenoide Hyperplasie.

Genetische Befunde

Die genetischen Befunde sind in Tabelle S3 des Online-Appendix des Artikels aufgeführt.

Therapie

Ein regelmässiges Erythrozytentransfusionsprogramm hatte die Unterdrückung der Eigenerythro­poiese zum Ziel, die Transfusionsvolumen und -abstände wurden an die kardiale Situation angepasst. Trotz des Risikos für Alloimmunisierung konnten die Ergebnisse der molekulargenetischen erweiterten Blutgruppenanalyse bei Patientin 1 – mit einem initialen Hämoglobin (Hb) von 56 g/l – aufgrund der möglichen kardialen Dekompensation nicht abgewartet werden. Sie musste direkt notfallmässig transfundiert werden.
Die Therapie wurde mit Bestimmung der Retikulozytenwerte kontrolliert, die möglichst tief gehalten ­werden sollten als Zeichen einer adäquaten Unter­drückung. Angepasst an die jeweiligen Ferritinwerte wurde eine orale Chelat-Therapie mit einer Kombi­nation aus Deferasirox und Deferipron begonnen. Details zu dieser sowie zu weiteren Therapien der verschiedenen Komplikationen sind in Tabelle S4 des Online-Appendix des Artikels aufgeführt.

Verlauf

Bei Patientin 1 und 2 zeigte sich im Oktober 2018 nach 11 Monaten und bei Patient 3 nach 35 Monaten ein ­erfreulicher Verlauf. Bei Patientin 1 und Patient 3 konnten signifikante Reduktionen der Ferritinkonzen­tra­tionen im Serum nachgewiesen werden. Unter den ­regelmässigen Erythrozytentransfusionen können ­inzwischen bei allen drei Patienten prätransfusionelle Hämoglobinwerte von >100 g/l gemessen werden, was im angestrebten Zielbereich liegt.
Patientin 1: Die Einstellung der verschiedenen Therapien gestaltet sich bei der Schwere der Erkrankung und zusätzlicher Malcompliance schwierig. Die Transfu­sionsintervalle werden, bei stabilem Hämoglobinwert seit fünf Monaten, deutlich verminderten Retikulo­zytenwerten und regredientem Ferritin auf aktuell 9751 µg/l (initial 19 790 µg/l), weiterhin dreiwöchentlich durchgeführt.
Es erfolgten ausführliche Instruktionen zur Diabetestherapie, es werden aber häufig nüchtern Blutzuckerwerte zwischen 10–15 mmol/l erreicht und die The­rapie muss regelmässig angepasst werden. Bei Hypothy­reose und Herzinsuffizienz wurde mit einer niedrig dosierten Substitutionstherapie begonnen, die im Verlauf deutlich gesteigert werden musste (Levothyroxinum Natricum 5 µg/kg/d). Aufgrund der Skelett­befunde wird eine Calcitrioltherapie durchgeführt, eine Bisphosphonattherapie wurde evaluiert und wird geplant, nachdem die Knochendensitometrie deutlich pathologische Werte zeigte, ebenso wie das pQCT (s. Tab. S2 im Online-Appendix des Artikels). Die Knochenschmerzen sind unter ­fixer Analgesie beherrschbar.
Patientin 2: Die Ferritinwerte sind unter der Erythrozytentransfusionstherapie angestiegen, das Hämoglobin liegt prätransfusionell über 100 g/l, aktuell sogar bei 120 g/l bei tiefen Retikulozytenwerten. Die Chelat-Therapie mit Deferipron und Deferasirox kann mit ­stetiger Anpassung der Dosierung weitergeführt werden. Klinisch geht es der Patientin gut und mittlerweile hat spontan die Pubertät eingesetzt. Eine Testung aller ­Hypophysen-Achsen zeigte keine Ausfälle, sodass auch eine Wachstumshormontherapie nicht indiziert war.
Patient 3: Erfreulicherweise ist der Ferritinwert von ­initial 8015 µg/l auf 344 µg/l zurückgegangen, so dass aktuell der orale Chelator Deferasirox pausiert werden konnte und eine Monotherapie mit Deferipron fortgesetzt wird. Die Retikulozytenwerte sind jedoch deutlich erhöht, weshalb zur Unterdrückung der eigenen Erythropoiese ein zwei-wöchentliches Transfusionsintervall eingehalten werden muss. Initial wäre aufgrund möglicher kardialer Dekompensation ein so engmaschiges Transfusionsschema nicht denkbar gewesen. Die kardiale Eisenüberladung in der T2*-MRT ist zwar ­regredient, aber weiterhin schwer. Erfreulicherweise zeigt sich eine Normalisierung der Eisenbelastung der Leber. Die Diabetestherapie gelingt unter wechselnder Compliance mässig gut, das Fructosamin bleibt aber im Verlauf hoch. Der Patient ist inzwischen unter Wachstumshormon- und Testosterontherapie, nachdem ein Ausfall ebendieser Achsen in Stimula­tionstests nachgewiesen werden konnte. Diese Therapie wird gut ­toleriert und zeigt einen erfreulichen Verlauf. Der Patient besucht mittlerweile die Schule, und es geht ihm klinisch sehr gut.
Bei bekannter Hepatitis-C-Virus (HCV)-Infektion kann nach Behandlung mit Elbasvir/Grazoprevir keine Hepatitis ­C-RNA mehr nachgewiesen werden, so dass von ­einer «sustained virological response» (SVR12) gesprochen werden kann und die HCV Infektion geheilt ist.

Diskussion

Patienten mit beta-Thalassaemia major, die als Flüchtlinge erstmalig an unserer Universitätsklinik vorstellig wurden, können ausserordentlich schwere klinische Veränderungen aufweisen, die in dieser ausgeprägten Form in westlichen Ländern nicht mehr zu sehen sind.
Die Ätiologie des Osteopenie-Osteoporosesyndroms ist komplex. Genetische Faktoren, erhöhter Knochenumsatz, Eisentoxizität, Knochenmarkexpansion, Wachstumshormonmangel, Hypogonadismus, Hypoparathyreoidismus und inadäquate Therapie spielen eine zentrale Rolle [6]. Eine Behandlung für genannte Komplikationen mit unter anderem Biphosphonaten wird empfohlen [7].
Alle drei Patienten zeigen eine Myokardsiderose mit hohem Mortalitätsrisiko. Neben dilatativen und restrik­tiven Kardiomyopathien, Peri- und Myokarditis treten im Rahmen der kardialen Dysfunktion auch Arrhyth­mien auf, wobei das Risiko hierfür proportional zur Schwere der kardialen Siderose steigt. Die chronische hämolytische Anämie verursacht eine links- und rechtsventrikuläre Dysfunktion sowie pulmonale Hypertonie. Die Eisenüberladung mit direkter Zellschädigung, führt zu linksventrikulärer, diastolischer Dysfunktion [8].
Die Therapie verlangt eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Spezialisten. Nebst der meist nicht vollständig geklärten Kostenübernahme muss bei wichtigen Entscheidungen, Abklärungen und Erklärungen immer ein Dolmetscher mit guten Sprachkenntnissen anwesend sein. Eine enge Zusammenarbeit mit den weiteren Familienangehörigen ist für eine gute Compliance und das Krankheitsverständnis von grosser Bedeutung. Die Therapie muss zudem beispielweise durch Visualisierung mittels Medikamentenbildern und Tablettenabbildungen vereinfacht dargestellt werden, damit die Patienten ihre Medikamente auch bei mangelnden Sprach- und Schriftkenntnissen selbständig einnehmen können.

Das Wichtigste für die Praxis

• Bei Patienten mit unklarer mikrozytärer, hämolytischer Anämie aus der Mittelmeerregion, Asien, Afrika oder Lateinamerika sollten ein Thalass­ämiescreening und je nach Herkunft eine Compound-Heterozygotie und Sichelzellkrankheit ausgeschlossen werden.
• Bezüglich hormoneller Folgeschäden kann in der Praxis bereits ein Diabetes-Screening (nüchtern Glukose und Fructosamin) durchgeführt und eine Hypothyreose gesucht werden.
• Bei Auffälligkeiten empfehlen wir die Zuweisung an ein spezialisiertes Zentrum zur Koordination aller notwendigen Spezialisten: Aufgleisung einer Behandlung mit regelmässigen Erythrozytentransfusionen, Beginn einer Chelat-Therapie, Hormonsubstitution und Supportivbehandlungen müssen interdisziplinär begonnen werden.
• Für Patienten mit Asplenie sollte ein Notfallausweis ausgestellt werden. Zudem wird die jährliche Durchführung der Grippeimpfung (gemäss ­aktuellen Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit) empfohlen sowie ein individuell angepasstes Nachholimpfschema, je nach bereits dokumentierten Impfungen der Patienten [4].
• Für eine adäquate Therapie ist die Schulung der Patienten mittels Visualisierung des Therapieplans bei ­initial meist mangelndem Sprachverständnis essentiell.
Der Online-Appendix ist als separates Dokument verfügbar unter: https://doi.org/10.4414/smf.2019.08327.
Die Autoren haben die Fallberichte im Rahmen von Posterpräsentationen am Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) 2018 in Lausanne vorgestellt («Severe haemochromatosis in three refugee adolescents with B-Thalass­aemia») sowie am Kongress der «European Society for Paediatric Endocrinology» (ESPE) 2018 in Athen, Griechenland, («Endocrine challenges in patients with thalassaemia»).
Wir danken den Familien der Patientinnen und des Patienten für die Möglichkeit, die Daten zu veröffentlichen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Jochen Rössler
Inselspital
Pädiatrische Hämatologie
Freiburgstrasse 18
CH-3010 Bern
jochen.roessler[at]insel.ch