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Medikament: Fluimucil® (N-Acetylcystein)
Folgen der UAW: Überwachung
Verlauf: Ohne Schaden erholt
Kausalitätsbeurteilung: Wahrscheinlich
Der klinische Fall
Die 31-jährige Patientin (70 kg) erhielt wegen einer Paracetamol-Überdosierung Infusionen mit Fluimucil® (N-Acetylcystein) nach Prescott-Schema (Tab. 1). Die Verabreichung der ersten Dosis (9 g) erfolgte um 14.20 Uhr, die 2. Dosis wurde 2 Stunden später begonnen. Um 20 Uhr wurde bemerkt, dass die Dosisberechnung fehlerhaft war. Daraufhin wurde die Infusion sofort gestoppt. Anstelle der empfohlenen 3,5 g waren in der 2. Dosis 35 g N-Acetylcystein (NAC) enthalten. Diese waren fast vollständig verabreicht worden, bevor die Infusion unterbrochen wurde. Die Patientin litt in weiterer Folge unter Nausea und Erbrechen. Es erfolgte die Gabe von Clemastin bei Verdacht auf eine beginnende anaphylaktoide Reaktion. Die Beschwerden der Patientin besserten sich und waren schliesslich vollständig regredient. Das NAC wurde nicht weiter verabreicht. Die Patientin hat insgesamt ca. 37 g NAC in einem Zeitraum von 5,5 Stunden statt 21 g über 20 Stunden erhalten.
Bei Eintritt (17 Stunden nach Einnahme) lag der Paracetamol-Spiegel mit 33,3 mg/l gemäss Rumack-Matthew-Nomogramm im potenziell hepatotoxischen Bereich – womit die Indikation zur antidotalen Therapie mit NAC gegeben war. Die Transaminasen waren leicht erhöht (ASAT 99 U/l, ALAT 85 U/l), weshalb eine 6-stündliche Kontrolle erfolgte. Der Peak war am nächsten Tag mit ASAT 659 U/l und ALAT 679 U/l erreicht. Im weiteren Verlauf sanken die Transaminasen und waren bei Austritt fast wieder normalisiert. Die Syntheseleistung der Leber war nie beeinträchtigt, der Faktor V lag immer im Normbereich. Der INR lag bei Eintritt mit 1,2 im Normbereich. Nach der Verabreichung von NAC stieg er auf 1,5 an, normalisierte sich aber bis zum Folgetag wieder.
Klinisch toxikologische Beurteilung
N-Acetylcystein (NAC) ist ein Cystein-Derivat mit einer freien SH-Gruppe. Es wird als Mukolytikum und in deutlich höheren Dosen als Antidot bei Paracetamol-Vergiftungen eingesetzt: NAC erhöht die Synthese und Verfügbarkeit von Glutathion und entgiftet den hepatotoxischen Metaboliten von Paracetamol, N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI). NAC ist höchst effektiv, Paracetamol-induzierte Leberschäden zu vermeiden, wenn es in der frühen Phase der Intoxikation eingesetzt wird, kann aber bei Überdosis schwerwiegende Folgen haben.
NAC ist erhältlich in galenischer Formulierung von Brausetabletten, löslichen Tabletten, Pulver zur Einnahme und Sirup zur Therapie von Atemwegserkrankungen mit Schleimbildung. Hierbei liegen die Dosierungen bei 100, 200 und 600 mg pro Dosiereinheit.
Da bei der Paracetamol-Vergiftung höhere NAC-Dosen notwendig sind, werden als Antidot-Präparate z.B. die Infusionslösungen Fluimucil® 20% (in 25-ml-Durchstechflaschen) oder Solmucol® 20% Antidot mit 200 mg/ml (in 20-ml-Durchstechflaschen) eingesetzt. Jedoch ist für die Indikation einer Paracetamol-Vergiftung ebenfalls eine 10%-Lösung mit 100 mg/ml in 3-ml-Ampullen in der Schweiz zugelassen. NAC wird gemäss Prescott (Tab. 1) nach Körpergewicht dosiert. Maximal werden für das ganze Schema 165 ml NAC 20% benötigt. Auf Grund der unterschiedlichen Volumina der Durchstechflaschen sind auch verschieden viele Ampullen je nach Hersteller dazu nötig: also 7 (bzw. 6,6) Ampullen Fluimucil® 20% oder 9 (bzw. 8,25) Ampullen Solmucol® 20% Antidot.
Tabelle 1: Intravenöse NAC-Dosierung gemäss Prescott-Schema über 20 Stunden. Dosisberechnungen, Dauer, Berechnungsbeispiel für Patientin mit 70 kg Körpergewicht. | ||||
Phase | NAC-Dosierung nach Prescott (mg/kg) | Dosierung von NAC 20% = 200 mg/ml (z.B. Fluimucil® 20% oder Solmucol® 20%) in ml/kg | Berechnung für die Patientin mit 70 kg KG | Applikationsdauer über |
1. | 150 mg/kg | 0,75 ml/kg | 10 500 mg | 15 bis 60 Minuten |
2. | 50 mg/kg | 0,25 ml/kg | 3 500 mg | 4 Stunden |
3. | 100 mg/kg | 0,5 ml/kg | 7 000 mg | 16 Stunden |
Gesamt | 300 mg/kg | 1,5 ml/kg | 21 000 mg | 20,25 bis 21 Stunden |
Höhere Dosen in der 3. Phase des Prescott-Schemas oder eine Verlängerung der Therapie sind nur bei sehr hohen Paracetamol-Überdosierungen indiziert. Im vorliegenden Fall kam es zu einer 10-fach höheren als der geplanten Dosis.
Die HWZ von NAC mit 5,7 Stunden ist kurz, wobei etwa 30% der verabreichten Dosis renal ausgeschieden wird. Die Hauptmetaboliten sind Cystin und Cystein.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) treten unter der NAC-Antidot-Therapie relativ häufig auf. Am häufigsten kommt es zu Übelkeit und Erbrechen (bis 12%). Labormässig beobachtet man eine Erhöhung des INR [1], differentialdiagnostisch jedoch schwierig abgrenzbar zu Symptomen der Paracetamol-Intoxikation. Seltener kommt es zu anaphylaktoiden Reaktionen mit Pruritus, Rush, Flush und Urtikaria (1–5%). Diese Symptome werden gerade bei schneller intravenöser Verabreichung beobachtet. Dabei kommt es zu einer nicht IgE-vermittelten Ausschüttung von Histamin, am ehesten der basophilen Granulozyten [2]. Schwere Symptome wie Bronchospasmus und kreislaufrelevante Hypotonie sind selten [3, 4]. Reaktionen können reduziert werden, indem die Ladedosis über einen längeren Zeitraum, mindestens 60 Minuten, in einer verdünnten Lösung (3–4%) verabreicht wird. Zu spezieller Vorsicht wird bei Patienten mit allergischem Asthma geraten, die auch von einer Antihistaminika-Vorbehandlung profitieren können [5].
Das Auftreten der anaphylaktoiden Reaktionen ist nicht direkt dosisabhängig, wird aber häufiger bei rasch verabreichtem Bolus [4] und auch bei tiefem Paracetamol-Spiegel beobachtet [2, 6].
Bisherige Berichte zu leichten NAC-Überdosierungen und Toxizität zeigen teilweise auch Symptome, die als UAW bekannt sind. Allerdings sind bei massiven Überdosierungen auch Reaktionen von Hirnödem mit Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit beschrieben. 150 g NAC i.v. über 32 Stunden führten bei einer 21-jährigen Patientin zu einem Hirnödem und persistierendem vegetativen Zustand [7]. Eine Überdosierung mit 70 g NAC über 5 Stunden äusserten sich klinisch durch Hämolyse und Niereninsuffizienz [8]. Ein anderer Fall mit 38 g über 14 Stunden verlief gutartig mit Nausea, Erbrechen sowie einer laborchemisch festgestellten Hämolyse [9]. Im vorliegenden Fall wurde die Überdosierung von 37 g innerhalb von 5,5 Stunden bis auf gastrointestinale Symptome ebenfalls gut vertragen. Bei einem 30-Monate alten Kind mit 16 kg kam es aber nach intravenöser Verabreichung von 39 g (2,4 g/kg) zu einem Hirnödem mit Status epilepticus und Exitus [10]. Die Schweizer Fachinformation der NAC-Antidot-Produkte macht hierzu aber keine spezifischen Aussagen. In der Fachinformation von Solmucol® 10% wird darauf verwiesen, dass keine Überdosierungen beobachtet wurden und Hochdosierungen gut vertragen werden. Die oben genannten Aspekte und Fallberichte würden eine Aktualisierung der Fachinformationen im Abschnitt «Überdosierungen» rechtfertigen.
Wie hier gezeigt, ist die Dosisberechnung von NAC bei der antidotalen Therapie fehleranfällig. Beim NAC kommt erschwerend hinzu, dass je nach Indikation grosse Unterschiede in der Dosierung bestehen und viele galenisch unterschiedliche Formulierungen mit verschiedenen Konzentrationen und auch Packungsgrössen bzw. Volumina verfügbar sind. Risikominimierende Massnahmen und Verbesserung der Arzneimittelsicherheit zur Reduktion von Medikationsfehlern erfordern oft einen Systemansatz, in dem auch die Behörde auf europäischer Ebene aktiv involviert ist [11].
Zusammenfassung
Bei der antidotalen Therapie mit NAC treten häufig leichte UAW wie Übelkeit und Erbrechen auf. Gelegentlich werden auch Flush, Urtikaria und selten Atemnot und Hypotonie beobachtet. Die gleichen Symptome stehen auch im Vordergrund bei Überdosierungen. Schwere Vergiftungen mit NAC treten nur bei massiven Überdosierungen auf – können aber sogar letal verlaufen.
SW ist auch Mitglied des «Pharmacovigilance Risk Assessment Committee» (PRAC) der Europaischen Arzneimittel-Agentur EMA. Die dargestellten Aspekte und Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und können nicht so verstanden oder zitiert werden, dass sie im Namen des PRAC gemacht werden oder die Position des PRAC widerspiegeln. Die Autoren erklären, dass kein Interessenskonflikt besteht.
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PD Dr. med. Stefan Weiler, PhD, MHBA
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