Überdosierung bei der Behandlung der Überdosierung
Aktuelles aus den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren und Tox Info Suisse

Überdosierung bei der Behandlung der Überdosierung

Aktuell
Ausgabe
2019/4142
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08364
Swiss Med Forum. 2019;19(4142):667-668

Affiliations
a Tox Info Suisse, Zürich, assoziiertes Institut der Universität Zürich;
b Departement Anästhesie, Universitätsspital, Basel;
c Institut für Pharmazeutische Wissenschaften, Departement Chemie und Angewandte Biowissenschaften, ETH, Zürich

Publiziert am 09.10.2019

Ein aktueller Fall aus den Regionalen Pharmacovigilance-Zentren und Tox Info Suisse.

Medikament: Fluimucil® (N-Acetylcystein)
Folgen der UAW: Überwachung
Verlauf: Ohne Schaden erholt
Kausalitätsbeurteilung: Wahrscheinlich

Der klinische Fall

Die 31-jährige Patientin (70 kg) erhielt wegen einer Para­cetamol-Überdosierung Infusionen mit Fluimucil® (N-Acetylcystein) nach Prescott-Schema (Tab. 1). Die Verabreichung der ersten Dosis (9 g) erfolgte um 14.20 Uhr, die 2. Dosis wurde 2 Stunden später begonnen. Um 20 Uhr wurde bemerkt, dass die Dosisberechnung fehlerhaft war. Daraufhin wurde die Infusion sofort gestoppt. Anstelle der empfohlenen 3,5 g waren in der 2. Dosis 35 g N-Acetylcystein (NAC) ­ent­halten. Diese waren fast vollständig verabreicht worden, bevor die Infusion unterbrochen wurde. Die Patientin litt in weiterer Folge unter Nausea und Erbrechen. Es erfolgte die Gabe von Clemastin bei Verdacht auf eine beginnende anaphylaktoide Reaktion. Die Beschwerden der Patientin besserten sich und ­waren schliesslich vollständig regredient. Das NAC wurde nicht weiter verabreicht. Die Patientin hat insgesamt ca. 37 g NAC in einem Zeitraum von 5,5 Stunden statt 21 g über 20 Stunden erhalten.
Bei Eintritt (17 Stunden nach Einnahme) lag der Para­cetamol-Spiegel mit 33,3 mg/l gemäss Rumack-Matthew-Nomogramm im potenziell hepatotoxischen Bereich – womit die Indikation zur antidotalen Therapie mit NAC gegeben war. Die Transaminasen waren leicht erhöht (ASAT 99 U/l, ALAT 85 U/l), weshalb eine 6-stündliche Kontrolle erfolgte. Der Peak war am nächsten Tag mit ASAT 659 U/l und ALAT 679 U/l erreicht. Im weiteren Verlauf sanken die Transaminasen und waren bei Austritt fast wieder normalisiert. Die Syntheseleistung der Leber war nie beeinträchtigt, der Faktor V lag immer im Normbereich. Der INR lag bei Eintritt mit 1,2 im Normbereich. Nach der Verabreichung von NAC stieg er auf 1,5 an, normalisierte sich aber bis zum Folgetag wieder.

Klinisch toxikologische Beurteilung

N-Acetylcystein (NAC) ist ein Cystein-Derivat mit einer freien SH-Gruppe. Es wird als Mukolytikum und in deutlich höheren Dosen als Antidot bei Paracetamol-Vergiftungen eingesetzt: NAC erhöht die Synthese und Verfügbarkeit von Glutathion und entgiftet den hepatotoxischen Metaboliten von Paracetamol, N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI). NAC ist höchst effektiv, Para­cetamol-induzierte Leberschäden zu vermeiden, wenn es in der frühen Phase der Intoxikation eingesetzt wird, kann aber bei Überdosis schwerwiegende Folgen haben.
NAC ist erhältlich in galenischer Formulierung von Brausetabletten, löslichen Tabletten, Pulver zur Einnahme und Sirup zur Therapie von Atemwegserkrankungen mit Schleimbildung. Hierbei liegen die Dosierungen bei 100, 200 und 600 mg pro Dosiereinheit.
Da bei der Paracetamol-Vergiftung höhere NAC-Dosen notwendig sind, werden als Antidot-Präparate z.B. die Infusionslösungen Fluimucil® 20% (in 25-ml-Durchstechflaschen) oder Solmucol® 20% Antidot mit 200 mg/ml (in 20-ml-Durchstechflaschen) eingesetzt. Jedoch ist für die Indikation einer Paracetamol-Vergiftung ebenfalls eine 10%-Lösung mit 100 mg/ml in 3-ml-Ampullen in der Schweiz zugelassen. NAC wird gemäss Prescott (Tab. 1) nach Körpergewicht dosiert. Maximal werden für das ganze Schema 165 ml NAC 20% benötigt. Auf Grund der unterschiedlichen Volumina der Durchstechflaschen sind auch verschieden viele Ampullen je nach Hersteller dazu nötig: also 7 (bzw. 6,6) Ampullen Fluimucil® 20% oder 9 (bzw. 8,25) Ampullen Solmucol® 20% Antidot.
Tabelle 1: Intravenöse NAC-Dosierung gemäss Prescott-Schema über 20 Stunden. Dosisberechnungen, Dauer, ­Berechnungsbeispiel für Patientin mit 70 kg Körpergewicht.
PhaseNAC-Dosierung
nach Prescott (mg/kg)
Dosierung von NAC 20% =
200 mg/ml (z.B. Fluimucil®
20% oder Solmucol® 20%) in ml/kg
Berechnung für die
Patientin mit 70 kg KG
Applikationsdauer
über
1.150 mg/kg0,75 ml/kg10 500 mg15 bis 60 Minuten
2.50 mg/kg0,25 ml/kg3 500 mg4 Stunden
3.100 mg/kg0,5 ml/kg7 000 mg16 Stunden
Gesamt300 mg/kg1,5 ml/kg21 000 mg20,25 bis 21 Stunden
Höhere Dosen in der 3. Phase des Prescott-Schemas oder eine Verlängerung der Therapie sind nur bei sehr hohen Paracetamol-Überdosierungen indiziert. Im vorliegenden Fall kam es zu einer 10-fach höheren als der geplanten Dosis.
Die HWZ von NAC mit 5,7 Stunden ist kurz, wobei etwa 30% der verabreichten Dosis renal ausgeschieden wird. Die Hauptmetaboliten sind Cystin und Cystein.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) treten unter der NAC-Antidot-Therapie relativ häufig auf. Am häufigsten kommt es zu Übelkeit und Erbrechen (bis 12%). Labormässig beobachtet man eine Erhöhung des INR [1], differentialdiagnostisch jedoch schwierig abgrenzbar zu Symptomen der Paracetamol-Intoxikation. Seltener kommt es zu anaphylaktoiden Reaktionen mit Pruritus, Rush, Flush und Urtikaria (1–5%). Diese Symptome werden gerade bei schneller intravenöser Verabreichung beobachtet. Dabei kommt es zu einer nicht IgE-vermittelten Ausschüttung von Histamin, am ehesten der basophilen Granulozyten [2]. Schwere Symptome wie Bronchospasmus und kreislaufrelevante Hypotonie sind selten [3, 4]. Reaktionen können reduziert werden, indem die Ladedosis über ­einen längeren Zeitraum, mindestens 60 Minuten, in einer verdünnten Lösung (3–4%) verabreicht wird. Zu spezieller Vorsicht wird bei Patienten mit allergischem Asthma geraten, die auch von einer Antihistaminika-Vorbehandlung profitieren können [5].
Das Auftreten der anaphylaktoiden Reaktionen ist nicht direkt dosisabhängig, wird aber häufiger bei rasch verabreichtem Bolus [4] und auch bei tiefem Paracetamol-Spiegel beobachtet [2, 6].
Bisherige Berichte zu leichten NAC-Überdosierungen und Toxizität zeigen teilweise auch Symptome, die als UAW bekannt sind. Allerdings sind bei massiven Überdosierungen auch Reaktionen von Hirnödem mit Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit beschrieben. 150 g NAC i.v. über 32 Stunden führten bei einer 21-jährigen Patientin zu einem Hirnödem und persistierendem vegetativen Zustand [7]. Eine Überdosierung mit 70 g NAC über 5 Stunden äusserten sich klinisch durch Hämolyse und Niereninsuffizienz [8]. Ein anderer Fall mit 38 g über 14 Stunden verlief gutartig mit Nausea, Erbrechen sowie einer laborchemisch festgestellten Hämolyse [9]. Im vorliegenden Fall wurde die Über­dosierung von 37 g innerhalb von 5,5 Stunden bis auf gastr­ointestinale Symptome ebenfalls gut vertragen. Bei einem 30-Monate alten Kind mit 16 kg kam es aber nach intravenöser Verabreichung von 39 g (2,4 g/kg) zu einem Hirnödem mit Status epilepticus und Exitus [10]. Die Schweizer Fachinformation der NAC-Antidot-Produkte macht hierzu aber keine spezifischen Aussagen. In der Fachinformation von Solmucol® 10% wird darauf verwiesen, dass keine Überdosierungen beobachtet wurden und Hochdosierungen gut vertragen werden. Die oben genannten Aspekte und Fallberichte würden eine Aktualisierung der Fachinformationen im Abschnitt «Überdosierungen» rechtfertigen.
Wie hier gezeigt, ist die Dosisberechnung von NAC bei der antidotalen Therapie fehleranfällig. Beim NAC kommt erschwerend hinzu, dass je nach Indikation grosse Unterschiede in der Dosierung bestehen und viele galenisch unterschiedliche Formulierungen mit verschiedenen Konzentrationen und auch Packungsgrössen bzw. Volumina verfügbar sind. Risikominimierende Massnahmen und Verbesserung der Arzneimittelsicherheit zur Reduktion von Medikationsfehlern erfordern oft einen Systemansatz, in dem auch die Behörde auf europäischer Ebene aktiv involviert ist [11].

Zusammenfassung

Bei der antidotalen Therapie mit NAC treten häufig leichte UAW wie Übelkeit und Erbrechen auf. Gelegentlich werden auch Flush, Urtikaria und selten Atemnot und Hypotonie beobachtet. Die gleichen Symptome stehen auch im Vordergrund bei Überdosierungen. Schwere Vergiftungen mit NAC treten nur bei massiven Überdosierungen auf – können aber sogar letal verlaufen.
SW ist auch Mitglied des «Pharmacovigilance Risk Assessment Committee» (PRAC) der Europaischen Arzneimittel-Agentur EMA. Die dargestellten Aspekte und Ansichten geben die Meinung der Autoren ­wieder und können nicht so verstanden oder zitiert werden, dass sie im Namen des PRAC gemacht werden oder die Position des PRAC ­widerspiegeln. Die Autoren erklären, dass kein Interessenskonflikt besteht.
PD Dr. med. Stefan Weiler, PhD, MHBA
Tox Info Suisse
Freiestrasse 16
CH-8032 Zürich
Stefan.Weiler[at]toxinfo.ch
1 Owens KH, Medlicott NJ, Zacharias M, Whyte IM, Buckley NA, Reith DM. Population pharmacokinetic-pharmacodynamic modelling to describe the effects of paracetamol and N-acetylcysteine on the international normalized ratio. Clin Exp Pharmacol Physiol. 2015 Jan;42(1):102–8.
2 Pakravan N, Waring WS, Sharma S, Ludlam C, Megson I, Bateman DN. Risk factors and mechanisms of anaphylactoid reactions to acetylcysteine in acetaminophen overdose. Clin Toxicol (Phila). 2008 Sep;46(8):697–702.
4 Koppen A, van Riel A, de Vries I, Meulenbelt J. Recommendations for the paracetamol treatment nomogram and side effects of N-acetylcysteine. Neth J Med. 2014 Jun;72(5):251–7.
5 Olson KR et al. Poisoning and Drug Overdose, Lange, edition 7, 2018: 499–503.
6 Coulson J, Thompson JP. Paracetamol (acetaminophen) attenuates in vitro mast cell and peripheral blood mononucleocyte cell histamine release induced by N-acetylcysteine. Clin Toxicol (Phila). 2010 Feb;48(2):111–4.
7 Heard K, Schaeffer TH. Massive acetylcysteine overdose associated with cerebral edema and seizures. Clin Toxicol (Phila). 2011 Jun;49(5):423–5.
8 Mullins ME, Vitkovitsky IV. Hemolysis and hemolytic uremic syndrome following five-fold N-acetylcysteine overdose. Clin Toxicol (Phila). 2011 Oct;49(8):755–9.
9 Srinivasan V, Corwin D, Verceles AC. An accidental overdose of N-acetylcysteine during treatment for acetaminophen toxicity. Clin Toxicol (Phila). 2015 Jun;53(5):500.
10 Bailey B, Blais R, Letarte A. Status epilepticus after a massive intravenous N-acetylcysteine overdose leading to intracranial hypertension and death. Ann Emerg Med. 2004 Oct;44(4):401–6.
11 Medication Errors. European Medicines Agency. https://www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/post-authorisation/pharmacovigilance/medication-errors (Zugriff 01.04.2019)