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In der Schweiz setzt sich das BAG1 für einen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle ein. Die Lernziele der medizinischen Fakultäten sind in einem Katalog aufgelistet: Der PROFILES-Katalog2 enthält zahlreiche Lernziele bezüglich der Fähigkeiten, die Ärzte benötigen, um Patienten erfolgreich zu versorgen und ihre Diversität zu berücksichtigen. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, die verschiedenen Lehrformate transkultureller Kompetenzen in der Klinik an den medizinischen Fakultäten im Medizinstudium zu vergleichen.
Einleitung
Mit ihren vier Amtssprachen ist die Schweiz ein Beispiel für multikulturelle Integration. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) setzt sich schweizweit für einen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle ein [1]. Dazu müssen die Kliniker über entsprechende Kompetenzen verfügen, welche Fachleute als transkulturelle Kompetenzen (TKK) bezeichnet haben [2]. TKK in der Klinik beruhen auf «Einstellungen, Kenntnissen und Know-how, die den Fachmann im Gesundheitswesen in die Lage versetzen, für Patienten verschiedenster soziokultureller und sprachlicher Herkunft eine gute Gesundheitsversorgung zu gewährleisten» [3]. Die weitgefasste Definition des Begriffs «soziokulturell» schliesst die individuelle Diversität mit ein. Hierbei ist insbesondere an die soziale, wirtschaftliche, körperliche, religiöse oder geschlechtliche Identität, sexuelle Ausrichtung usw. zu denken. TKK können ebenso wie andere von Ärzten geforderte Kompetenzen erfolgreich vermittelt werden [4].
Klinisches Fallbeispiel
Ein 45-jähriger Patient, den Sie aufgrund einer arteriellen Hypertonie betreuen, wird mit einem Antihypertensivum behandelt. Trotz Behandlung bleibt sein Blutdruck oft zu hoch. Nach dem Ende einer Antibiotikatherapie aufgrund einer akuten durch Escherichia coli verursachten Prostatitis kommt er zur Kontrolle in Ihre Konsultation.
Er besitzt die doppelte niederländische und japanische Staatsbürgerschaft, spricht etwas Französisch, Englisch sowie perfekt Niederländisch und Japanisch, befindet sich in einer Beziehung mit einem Mann und arbeitet als Judotrainer. Vor zwei Jahren ist er aus Japan in die Schweiz gezogen und besitzt einen Ausweis B.
Der Patient weist einen Bluthochdruck von 160/80 mm Hg auf. Die übrigen Ergebnisse der klinischen Untersuchung sind unauffällig.
Welche transkulturellen Kompetenzen benötigen Sie neben den üblichen klinischen Kompetenzen, die zur Versorgung einer arteriellen Hypertonie und einer akuten Prostatitis erforderlich sind, um diesen Patienten zu betreuen?
1. Das Wissen, wie man einen Dolmetscher hinzuziehen kann.
2. Die Kenntnis von Kommunikationstechniken beim Einsatz eines Dolmetschers.
3. Die Fähigkeit, den Kenntnisstand des Patienten über das Schweizer Gesundheitssystem zu beurteilen (z.B. über Anlaufstellen zum Screening auf sexuell übertragbare Erkrankungen [STI]).
4. Die Fähigkeit, die Gesundheitskompetenz des Patienten zu beurteilen.
5. Die Kenntnis der «Teach-Back-Methode» bei geringer Gesundheitskompetenz.
Vermittlung von TKK
TKK umfassen drei Bereiche [3]: Kenntnisse, Einstellungen und Fertigkeiten (Tab. 1).
Tabelle 1: Themenbeispiele für transkulturelle Kompetenzen (TKK) entsprechend der drei Bereiche. | |
Kenntnisse | Zugang zum Versorgungssystem (strukturelle Ressourcen vs. Hindernisse) |
Wirtschaftliche und geopolitische Realität | |
Besonderheiten und Bedürfnisse von Minderheiten | |
Einstellungen | Bikulturelle Arzt-Patienten-Beziehung |
Medizinische Entscheidungsfindung: unbewusster Bias und Stereotype, Prozess der geteilten Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung des kulturellen Hintergrunds | |
Fertigkeiten | Psychosoziale Anamnese |
Anamnese mit Erklärungsmodell der Erkrankung | |
Zusammenarbeit mit einem Dolmetscher (Trialog) |
Zu den Kenntnissen («knowledge») gehört das erforderliche spezifische Wissen über die Behandlung von Minderheiten und Patienten anderer Kulturkreise. Dies kann sowohl epidemiologische Aspekte, geopolitische, soziale oder kulturelle Informationen als auch das Wissen um lokale Ressourcen des sozialen und gesundheitlichen Netzwerks einschliessen. Bei der Einführung von TKK in die medizinische Ausbildung der Vorreiterländer auf diesem Gebiet (hauptsächlich: USA [5, 6]) erfolgte die Wissensvermittlung vorrangig nach Kulturkategorien und anhand epidemiologischer Daten. Dieser Ansatz hat sich jedoch als unzureichend herausgestellt, da er den unerwarteten negativen Effekt hatte, dass die Anwendung von Stereotypen und Vorurteilen zunahm. Daher gehören zu den TKK ebenfalls eine entsprechende Einstellung («attitude») bzw. verschiedene Einstellungen gegenüber dem Patienten, die von einer vorherigen Reflexion über transkulturelle Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung und der Auswirkung der Unterschiede auf letztere zeugen. So sollte sich der Arzt sowohl seinen eigenen als auch den kulturellen Hintergrund des Patienten bewusst machen [7, 8]. Es ist erforderlich, die impliziten Bias aufzuspüren: Dabei handelt es sich um unbewusste Verzerrungen, die dazu führen, dass bestimmte Patientenkategorien bevorzugt oder benachteiligt werden. Durch die Arbeit mit der medizinischen Entscheidungsfindung können Tools für eine gemeinsame Entscheidungsfindung erlernt werden.
Der letzte TKK-Bereich sind die Fertigkeiten («skills»), zu denen Kompetenzen, insbesondere in der Kommunikation, gehören. Das Erlernen einer Anamneseerhebung unter Berücksichtigung der sozialen Determinanten ist ein Beispiel dafür [9], ebenso wie das Hinzuziehen eines Dolmetschers zur Konsultation oder die Anpassung des Gesprächs an einen Patienten mit geringer Gesundheitskompetenz.
In der Schweiz sind die Lernziele der medizinischen Fakultäten im Lernzielkatalog PROFILES (Principal Relevant Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland) aufgeführt [10]. Ausgehend von einem kanadischen Lehrmodell [11] enthält der PROFILES-Katalog zahlreiche Lernziele (Tab. 2), die zur Versorgung der Patienten und zur Berücksichtigung ihrer Diversität erforderlich sind.
Tabelle 2: Beispiellernziele aus dem PROFILES-Katalog [10]. | |
Allgemeine Lernziele (AL) 11 von 60 AL betreffen TKK. Nachfolgend nennen wir vier beispielhafte AL. | Als Fachperson muss ein Arzt in der Lage sein: |
AL 1.17 Ein kritisches Bewusstsein für Stereotype im Zusammenhang mit dem Alter, dem Geschlecht, der Volkszugehörigkeit, der Kultur und den Vorstellungen zu entwickeln, welche sich auf die klinische Versorgung des Patienten auswirken können. | |
AL 1.24 Bei der Kontrolle, Prävention und Versorgung im persönlichen und gemeinschaftlichen Bereich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen. | |
AL 2.9 Die Gesundheitskompetenz des Patienten und seiner Familie zu verbessern, indem er ihnen dabei hilft, Kommunikationstechniken zu identifizieren, zu finden und anzuwenden. Das Ziel soll sein, die Autonomie des Patienten bei seiner medizinischen Versorgung sowie eine gesündere Lebensweise zu fördern. | |
AL 4.4 Im Bewusstsein der Wichtigkeit der Versorgungsgleichheit die besonderen Bedürfnisse vulnerabler Populationenzu identifizieren und zu berücksichtigen. Ggf. mit den Sozialdiensten zusammenzuarbeiten. | |
Anvertraubare professionelle Tätigkeiten (APT) 8 von 161 APT betreffen TKK. Nachfolgend nennen wir drei beispielhafte APT. | Als Fachperson muss ein Arzt in der Lage sein: |
APT 1.1 Stets eine vollständige und sorgfältige Anamnese unter Berücksichtigung der Erwartungen, Prioritäten, Werte, Vorstellungen und geistigen Bedürfnisse des Patienten zu erheben; Beschwerden und Situationen bei Patienten jedes Alters zu untersuchen; sich an die Sprachfähigkeiten und die Gesundheitskompetenz des Patienten anzupassen; die ärztliche Schweigepflicht zu wahren. | |
APT 1.3 Bei Gesprächen patientenzentrierte hypothesenbasierte Kommunikationskompetenzen zu nutzen; auf verbale und nonverbale Kommunikationshinweise des Patienten, seiner Kultur und seiner Familie zu achten, das Erklärungsmodell der Erkrankung anzuwenden, zu erkennen, ob ein Dolmetscher benötigt wird; eine ganzheitliche, empathische und nicht verurteilende Sichtweise des Patienten einzunehmen. | |
APT 7.4 Die spezifischen Eigenschaften und die individuelle Situation des Patienten, wie Geschlecht, Alter, Kultur, Religion, Vorstellungen und Gesundheitskompetenz zu berücksichtigen; die Vulnerabilität spezifischer Gruppen wie Migranten, Patienten mit geringem sozio-ökonomischem Status und Jugendlicher zu berücksichtigen. | |
Situations as Starting Points (SSPs) 7 von 265 SSPs betreffen TKK. Nachfolgend nennen wir fünf beispielhafte SSPs. | SSP 237 Probleme im Zusammenhang mit der sexuellen Ausrichtung |
SSP 240 Mentale und/oder geistige Erkrankung | |
SSP 241 Probleme im Zusammenhang mit Arbeitsbedingungen, Burnout, Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemen | |
SSP 245 Umfeldbedingte und psychosoziale Aspekte chronischer Erkrankungen | |
SSP 254 Patient eines anderen kulturellen Hintergrunds, Migration | |
PROFILES = Principal Relevant Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland TKK = transkulturelle Kompetenzen |
Derzeit gibt es in der Schweiz fünf medizinische Fakultäten für ein Vollzeit- (Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf) und zwei für ein Teilzeitstudium (Freiburg und Neuenburg).
Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, die unterschiedlichen Lehrformate von TKK an den Schweizer medizinischen Fakultäten im Medizinstudium miteinander zu vergleichen. Stand der Informationen ist der 31.07.2018.
Methodik
Die in diesem Beitrag vorgestellten Informationen entstammen zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits haben wir in allen Schweizer medizinischen Fakultäten einen in der Lehre tätigen Arzt ausfindig gemacht, der den Überblick über die Vermittlung von TKK hat. Zu diesem Zweck haben wir uns an das Dekanat der jeweiligen Universität und das Netzwerk «Swiss Hospitals for Equity» gewandt. Letzteres wird vom BAG unterstützt und umfasst zum heutigen Zeitpunkt zehn Schweizer Spitäler, die sich für Versorgungsgleichheit einsetzen [12]. Anschliessend haben wir die Ansprechpartner darum gebeten, eine Tabelle zur Vermittlung von TKK entsprechend den unterschiedlichen verfügbaren Lehrformaten auszufüllen.
Andererseits haben wir uns an die frei zugänglichen Informationen auf den Websites der jeweiligen medizinischen Fakultäten gehalten [13–19].
Resultate: Analyse nach Lehrformaten
Im Medizinstudium gibt es verschiedene Lehrmethoden [20] mit zahlreichen und je nach Fakultät unterschiedlichen Formaten: ex-cathedra-Veranstaltungen, Kleingruppenunterricht (Gruppen mit üblicherweise unter 20 Studenten unter Anleitung eines Tutors), Vermittlung klinischer Kompetenzen (in Kleingruppen, häufig mit Scheinpatienten oder als Fachleute eingeladenen Gastpatienten), klinische Immersion (Praktikum im Versorgungsbereich) und Wahlpflichtkurse (Pflichtunterricht, wobei das Thema aus einem begrenzten Angebot frei gewählt werden kann), die jeweils wenige Studenten betreffen und deren Unterrichtsformate variieren können.
Diese Informationen haben wir in zwei Tabellen zusammengefasst. In Tabelle 3 sind die ex-cathedra-Veranstaltungen aufgeführt. Unter dem jeweiligen Fachgebiet sind die behandelten Themen genauer aufgelistet. In Tabelle 4 finden Sie eine Übersicht über andere Lehrformate von TKK, geordnet nach Universität.
Tabelle 3: Transversaler Unterricht, in dem transkulturelle Kompetenzen (TKK) vermittelt werden, nach Fakultät (Stand: Juli 2018). | |
Transversaler Unterricht (ex-cathedra-Veranstaltungen) | Zahl der Fakultäten von insgesamt sieben, an denen das Fachgebiet unterrichtet wird |
Psychosoziale Medizin | 7/7 |
Kommunikation | |
Medizinische Entscheidungsfindung: unbewusste Bias’ | |
Vulnerabilität | |
Gesundheitskompetenz | |
Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in der Schweiz | |
Lebensalter, Geschlecht, Minderheiten (z.B. Behinderung, gehörlose und schwerhörige Patienten, LGBT) | |
Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell | |
Verhalten | |
Arbeitswelt und Migration | |
Psychiatrie | 2/7 |
Volksgesundheit, Präventivmedizin | 4/7 |
Soziale Gesundheitsdeterminanten | |
Die Epidemiologie erzwungener Migration | |
Erkrankungen mit der höchsten Prävalenz bei Flüchtlingen | |
Anthropologie | 6/7 |
Kultur und kulturelle Barrieren | |
Fremdsprachlichkeit (inklusive Gebärdensprache) | |
Flüchtlinge, Flucht | |
Religionen, Spiritualität | |
Das Normale und das Pathologische | |
Ethik | 3/7 |
Gleichbehandlung in der medizinischen Versorgung | |
Transkulturelle Ethik vom Neugeborenen bis zum Senioren | |
Tropenmedizin | 1/7 |
Infektionen bei Flüchtlingen | |
Humanitäre Medizin | 1/7 |
Die Flüchtlingskrise |
Tabelle 4: Beispiele für TKK-Unterricht durch die TKK-Ansprechpartner nach Fakultät und Lehrmethode. Notabene: Neuenburg wird nicht aufgeführt, da der Unterricht ausschliesslich im ersten Studienjahr stattfindet und die TKK im ex-cathedra-Format vermittelt werden. | ||||||
Zielgerichtete Lehrveranstaltungen zu transkulturellen Kompetenzen (TKK) während des Medizinstudiums in der Schweiz (Stand: Juli 2018) | ||||||
BS | BE | FR | GE | VD | ZH | |
Kleingruppenunterricht (n <20) | Gesundheit und Gesellschaft in einem Entwicklungsland Präsentation von volksgesundheitlichen Fallbeispielen | Soziale Gesundheitsdetermi-nanten am Beispiel Diabetes Zusammenarbeit mit einem Dolmetscher am Beispiel Harnwegsinfektion | Ethische Fallanalyse | |||
Praktische Übungen zum Erwerb klinischer Kompetenzen | ✔ | Psychosoziale Anamnese Erklärungsmodell der Erkrankung Anamnese bei Migrationshintergrund | ✔ | Zusammenarbeit mit einem Dolmetscher | Transkulturelle klinische Kompetenzen | Überbringen schlechter Nachrichten |
Klinische Immersion | ✔ | ✔ | Eintägiger Besuch einer Versorgungseinrichtung für vulnerable Populationen. | Immersionsmodul Gemeinschaftsgesundheit: Vierwöchiges Praktikum in der Schweiz oder im Ausland zu einem gemeinschaftsgesund-heitlichen Thema | Immersionsmodul Gemeinschaftsgesundheit | ✔ |
Wahlpflicht-kurse | Transkultu-relle Kompetenzen Migration und humanitäre Medizin | Medizinanthropologie Gesundheit, Menschenrechte und Globalisierung Humanitäre Medizin: die neuen Herausforderungen | Wahlpflichtseminar: Die Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, Dolmetscher, LGBT Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung: Erkrankungen, Patienten, Realitäten! | Ethnische Wahrnehmung des Menschen in der Medizin Ethik, Theorie und Recht in der Medizin | ||
Sonstige | E-Learning: «Qualität und Interaktion» | E-Learning: «Qualität und Interaktion» Test zu impliziten Assoziationen Zusatzqualifikation in globaler Gesundheit und humanitärer Medizin (wird verliehen, wenn entsprechende Wahlpflichtkurse und Praktika absolviert sowie eine Masterarbeit zu diesem Thema geschrieben wurde) | E-Learning: «Qualität und Interaktion» Test zu impliziten Assoziationen Zwei MOOC-Videos (Massive Open Online Courses) über TKK | Demnächst: Module mit narrativen Fallbeispielen zur Sensibilisierung für TKK |
Ex-cathedra-Veranstaltungen
In Tabelle 3 sind sieben Fachgebiete aufgeführt, in denen TKK vermittelt werden. Die Themen sind äusserst vielfältig, behandeln jedoch alle die Diversität von Patienten. Bei diesem Lehrformat werden vor allem Kenntnisse vermittelt, um Menschen mit von der eigenen Identität abweichenden Besonderheiten (z.B. Alter, Sprache oder Gesundheitskompetenz) besser zu verstehen.
Kleingruppenunterricht
Bei diesem Lehrformat können sowohl Kenntnisse als auch Einstellungen und Fertigkeiten vermittelt werden. Es ist von Interesse anzumerken, dass TKK-Aspekte (wie z.B. die Anamneseerhebung sozialer Determinanten oder eine Konsultation in Anwesenheit eines Dolmetschers) in die Behandlung üblicher Erkrankungen in der ambulanten Versorgung (Harnwegsinfektion oder Diabetes) integriert werden können (Genf).
Praktische Übungen zum Erwerb klinischer Kompetenzen
Dieses Lehrformat ist ideal zur Vermittlung von Fertigkeiten. Beispielsweise wird das Szenario einer klinischen Situation mit einem Patienten und einem Dolmetscher mithilfe standardisierter Patienten durchgespielt (Genf). Oder Gastpatienten nehmen an Diskussionen in der Kleingruppe teil (Lausanne). Dabei können die Studenten direkt mit dem Patienten, der ein Fachmann in Bezug auf das behandelte Thema ist, interagieren. Und schliesslich geht es um die Anamneseerhebung unter Berücksichtigung von Fragen zur psychosozialen Situation, Erklärungsmodellen der Erkrankung oder eines Migrationshintergrunds.
Klinische Immersion
Bei den klinischen Praktika werden die Studenten systematisch mit der transkulturellen Realität konfrontiert. Bei den Praktika im Rahmen des Immersionsmoduls Gemeinschaftsgesundheit (Genf, Lausanne) widmen sich die Studenten in der Schweiz oder im Ausland vier Wochen lang im Besonderen einem gemeinschaftsgesundheitlichen Thema ihrer Wahl. Anschliessend schreiben sie einen Praktikumsbericht.
Wahlpflichtkurse
In mehreren Wahlpflichtkursen geht es spezifisch um TKK (Basel, Lausanne, Genf).
Sonstige
Ein vom BAG entwickeltes E-Learning-Modul bietet die Möglichkeit zum Selbststudium (Bern, Lausanne, Neuenburg) [21]. Die Lehrinhalte werden in Form kurzer Videos präsentiert, bei denen TKK in drei Modulen besprochen werden. Bezüglich der Sensibilisierung für Stereotype und Vorurteile, die die medizinische Entscheidungsfindung beeinflussen, können die Studenten auf einer entsprechenden Website eigenständig ihre Tendenz zu impliziten Assoziationen testen (Genf, Lausanne) [22].
Diskussion
In der Schweiz gibt es zahlreiche TKK-Lehrformate, insbesondere in Form von ex-cathedra-Veranstaltungen (Tab. 3). TKK werden in den verschiedensten Fachgebieten behandelt, was an sich bereits wertvoll ist und ihre Bedeutung in allen medizinischen Fachbereichen aufzeigt. Die Vielfalt der Fachgebiete und Lehrmethoden spiegelt ebenfalls die Diversität der medizinischen Ausbildung der Lehrkräfte wider (Abb. 1).
Die zahlreichen PROFILES-Lernziele bezüglich TKK werden derzeit noch nicht erreicht, da die Thematik erst vor Kurzem in die Schweiz Einzug gehalten hat und noch in Entwicklung begriffen ist. Der PROFILES-Lernzielkatalog garantiert die zukünftige Einheitlichkeit der Lernziele im Medizinstudium in der Schweiz. Es liegt in der Verantwortung jeder einzelnen medizinischen Fakultät, die nötigen Massnahmen zur Umsetzung dieser Ziele zu ergreifen. Um sicherzustellen, dass letztere in allen fünf Fakultäten mit derselben Effektivität umgesetzt werden, erscheint es in diesem Stadium sinnvoll, die Evaluationsmodalitäten der Kompetenzen klarer zu definieren. Denn bis dato wurden TKK weder definiert noch praktisch umgesetzt (z.B. werden sie im Rahmen des OSCE [«objectif structured clinical Examination»] nicht als Unterthema abgeprüft).
Die von den Ansprechpartnern gesammelten Informationen ergeben Unterschiede in der für TKK-Vermittlung aufgewandten Zeit. Drei nicht durch Literatur untermauerte Überlegungen können formuliert werden:
– Vermutlich sind die Universitätsspitäler, je nach Nähe zu den Bundesasylzentren (seit 2019 geltende Bezeichnung für Asylunterkünfte und/oder Zentren für Asylverfahren), unterschiedlich stark mit Migranten konfrontiert.
– Die Vermittlung von TKK erfolgt grösstenteils aufgrund des persönlichen Bezugs der Ärzte, die sich für das Thema interessieren, und ist somit häufig ausschliesslich dem Einsatz letzterer geschuldet.
– Möglicherweise wurden die TKK vorrangig von Pflegefachpersonen in der Deutschschweiz entwickelt, wie ein Referenzwerk zu dem Thema belegt [23].
Der Trend in der Pädagogik geht zum Unterricht in studentischen Kleingruppen, deren aktive Teilnahme erwartet wird. Obwohl ein Grossteil der TKK in Form von ex-cathedra-Veranstaltungen(v.a. Vermittlung von «Kenntnissen») vermittelt wird, werden bestimmte Aspekte in anderen Lehrformaten unterrichtet, die sich eher den «Einstellungen» und «Fertigkeiten» widmen.
Folglich werden zwei Lehransätze zur Vermittlung von TKK angewendet. Einerseits gibt es Veranstaltungen, deren Inhalt spezifisch auf TKK ausgerichtet ist. Somit gibt es ein «TKK-Curriculum», das sich über sechs Studienjahre erstreckt.
Andererseits können bestimmte TKK-relevante Inhalte in Unterrichtsveranstaltungen der medizinischen Fachbereiche (Innere Medizin, Pädiatrie, Psychiatrie) integriert werden. In diesem Fall werden die Lehrkräfte dafür sensibilisiert, die entsprechenden Themen in ihre üblichen Fachinhalte einzubinden. Beide Ansätze (Curriculum und integrativer Ansatz) ergänzen einander. Die Erfahrung der TKK-Lehrkräfte hat jedoch gezeigt, dass die Studenten es bevorzugen, wenn die entsprechenden Informationen in den Unterricht der üblichen klinischen Kompetenzen eingebunden werden.
Und schliesslich sind das Internet und das «E-Learning» (insbesondere MOOCs [Massive Online Open Courses]) hervorragende Lehrmöglichkeiten, da klinische Situationen im Selbststudium bearbeitet werden können. In anderen Universitäten gibt es bereits MOOC über TKK und diese könnten in Zukunft auch in der Schweiz als Lehrformat genutzt werden [24]. Derartige Programme bergen jedoch die Gefahr, dass sie technisch rasch veraltet sind.
All diese Aspekte wurden auf einem Symposium im Jahr 2014 anlässlich eines europäischen Projekts zur Aufnahme transkultureller Kompetenzen ins Medizinstudium in Europa umfassend diskutiert [25].
Einschränkungen
Dieser Beitrag unterliegt hauptsächlich der Einschränkung, dass die Antworten von höchst unterschiedlichen Personen und Websites stammen, deren Informationen möglicherweise unvollständig sind. Die von uns präsentierten Daten stammen von unseren Ansprechpartnern und den entsprechenden Websites. Die von den Ansprechpartnern übermittelten Informationen spiegeln ihre Sicht über die Vermittlung von TKK wider, die wiederum durch ihre eigene Ausbildung beeinflusst ist. Möglicherweise gibt es weitere Ansprechpartner, die uns zum Zeitpunkt der Erstellung des Beitrags nicht bekannt waren. Die frei zugänglichen Informationen sind je nach Website verschieden, wodurch das Gesamtbild ebenfalls beeinflusst wird. Uns ging es jedoch vor allem darum, einen Gesamtüberblick über die TKK-Lehrformate und die Lehrkräfte, die diese anwenden, zu vermitteln.
Überdies ist es mitunter schwierig, klar abzugrenzen, was TKK-Unterricht eigentlich genau ist. Somit sollte die Tabelle 3 lediglich als Wegweiser und nicht als zuverlässiges Abbild der Realität betrachtet werden.
Und schliesslich sind diese Informationen aufgrund der beständigen Weiterentwicklung in der medizinischen Lehre als Stand der Vermittlung von TKK zu einem bestimmten Zeitpunkt (Juli 2018) zu betrachten.
Schlussfolgerungen
Als Antwort auf das Fallbeispiel im vorliegenden Artikel vereinbaren Sie einen erneuten Konsultationstermin in Anwesenheit eines professionellen Japanischdolmetschers (Konsultation im Trialog). Sie sprechen das Thema von STI und die entsprechenden Präventionsmassnahmen an und schlagen dem Patienten anschliessend ein STI-Screening vor. Sie fragen ihn, ob er weiss, dass es entsprechende Screening-Zentren gibt (Kenntnisdes Gesundheitssystems, Bedürfnisse von Minderheiten). Um zu überprüfen, ob er die verschiedenen Informationen und Erklärungen der Ärzte verstanden hat, bitten Sie den Patienten, die vermittelten Hauptaspekte zu wiederholen («Teach-Back-Methode»).
Eine qualitativ hochstehende Medizin ist integrativ und auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten ausgerichtet, wenn diese identifiziert wurden. Die beständig zunehmende Diversität in unserem bereits multikulturellen Land stellt eine reale Herausforderung dar.
Wie die PROFILES-Lernziele bestätigen, ist es in der Medizin und Pflege ebenso wichtig wie in anderen Bereichen, z.B. der Diplomatie, TKK zu entwickeln. Studien zeigen die Auswirkungen einer optimalen Arzt-Patienten-Kommunikation: Diese hat eine bessere Compliance und infolgedessen einen besseren Gesundheitszustand zur Folge [26, 27].
Dieser Beitrag verschafft einen Überblick über die Vermittlung von TKK gemäss dem Stand von Juli 2018. Dieses Lehrgebiet hat das Potential, weiterentwickelt [28, 29], evaluiert und fest etabliert zu werden, wobei sowohl der interprofessionelle, interdisziplinäre als auch der interfakultäre Austausch gefördert werden sollte.
Das Wichtigste für die Praxis
• Transkulturelle Kompetenzen (TKK) ermöglichen das Bewusstmachen individueller Eigenschaften.
• Eine zielgerichtete medizinische Versorgung hat eine bessere Compliance zur Folge.
• Weiterführende Informationen: Zunächst einmal stelle ich mir folgende Frage: Habe ich es in meinem klinischen Alltag mit unbewussten Bias zu tun? (Test zu impliziten Assoziationen: https://implicit.harvard.edu/implicit/takeatest.html). Und dann: Wo finde ich eine entsprechende Weiterbildung? (CAS Santé et diversités [Gesundheit und Diversität]: https://www.unige.ch/formcont/cours/cas-sante-et-diversites-comprendre-et-pratiquer-les-approches-transculturelles-2019).
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Lucy Kunz
Cheffe de clinique adjointe
Service de médecine interne
Hôpital de Morges
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