Fernunterricht im Medizincurriculum in der Schweiz
Quo vadis?

Fernunterricht im Medizincurriculum in der Schweiz

Übersichtsartikel
Ausgabe
2019/4344
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08380
Swiss Med Forum. 2019;19(4344):713-717

Affiliations
a Faculté de biologie et de médecine, Université de Lausanne; b Health Sciences e-Training Foundation (HSeT); c Swiss Institute for Translational and Entrepreneurial Medicine (SitemInsel), Université Bern; d Département Structure de l'enseignement, Université de Genève; e Département de recherche biomédical (DBMR), Faculté de Médecine, Université de Bern

Publiziert am 23.10.2019

Dieses Review, das auf den Erfahrungen der HSeT (Health Science and e-Training), einer privaten gemeinnützigen Stiftung, basiert, beschreibt Beispiele für digitales Lernen in der Schweiz auf Vor- und Nachdiplomstufe.

Einleitung

Der traditionelle, ex cathedra-Medizinunterricht, bei dem der Informationsfluss lediglich in eine Richtung erfolgt, regt kaum zum Lernen und Erinnern des vermittelten Wissens an. Hier kann digitaler Fernunterricht (E-Learning), der nicht auf die Bereitstellung von Dokumenten und statischen Unterrichtseinheiten auf einer Plattform beschränkt ist, eine Lösung darstellen, da er sowohl Studenten (mittels zielgerichteter und ­interaktiver Online-Aktivitäten) als auch Lehrkräfte (durch die Erarbeitung oder Anpassung dieser Aktivitäten sowie begleitete Interaktionen mit den Studenten) einbezieht. Derzeit scheint das integrierte Lernen («blended learning»), bei welchem Fernunterricht und Präsenzveranstaltungen kombiniert werden, am optimalsten zu sein. Auf diese Weise wird ein stärkerer ­Einbezug der Studenten und Tutoren im Sinne des berühmten Zitats von Benjamin Franklin möglich:

«Tell me and I forget …»

«Teach me and I may remember …»

«Involve me and I learn …»

Aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet des Fernunterrichts

Fernunterricht ist stark im Aufwind begriffen und dem interessierten Leser stehen hervorragende Reviews zur Verfügung [1, 2]. In diesem Beitrag möchten wir lediglich auf drei Fernunterrichtsformen eingehen: MOOCs, SPOCs und COLTs, deren Abkürzungen nachfolgend erläutert werden.

«Massive Open Online Course» (MOOC)

Der erste MOOC wurde 2008 in Kanada entwickelt und basierte auf der Konnektivismustheorie, welche die Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmern bevorzugt. Im Jahr 2011 veranstaltete S. Thrun den ersten MOOC zum Thema künstliche Intelligenz mit über 160 000 angemeldeten Studenten. Das Lehrmaterial umfasst Videokurse in kurzen Sequenzen, Online-Übungen und -Tests, Interaktionen zwischen Studenten (Forum) sowie Online-Evaluationen durch Mitstudenten. Im Jahr 2018 wurden auf der «Class Central»-Website (www.classcentral.com) über 2700 MOOCs gelistet, die Millionen Nutzern in der ganzen Welt zur Verfügung stehen: Ein beachtlicher Erfolg mit entsprechenden Vor- und Nachteilen (Tab. 1).
Tabelle 1: Typische Struktur eines MOOC der Plattform Coursera (EPFL).
Bestandteile des MOOCDauerWer?Wie viele?VorteileNachteile
VideovorlesungInsgesamt: 4–7 Wochen
Wöchentliches Modul: 2 Std. 
5–10 Videos von 6–12 Minuten Länge/Modul
Professor1100% online
Charismatische Lehrkraft («role model»)
Hohe internationale Sicht­barkeit
Für die Institution vorteil­haftes Business-Modell
Geringe Zertifizierungsratea
Prüfungskontrolleb
Kultureller «Imperialismus»c
Hohe Kostend
«Zeitaufwendig»e
Urheberrechtef
Übungen und EvaluationWöchentlichStudenten100 000
DiskussionsforumDauerhaftStudentenAlle
a Nur eine geringe Prozentzahl der Studenten (5–15%) erhält die Zertifizierung, in absoluten Zahlen könnten dies jedoch mehrere Tausend sein!
b Schwierigkeit, Prüfungen zu kontrollieren, die zu einer Zertifizierung führen.
c Risiko des kulturellen «Imperialismus», bei dem die Konzepte einiger Eliteinstitutionen aufgezwungen werden, was die kulturelle Vielfalt bedroht.
d Die Entwicklungs- und Wartungskosten sind sehr hoch.
e Die Vorbereitungs- und Wartungszeit für die Lehrkraft ist hoch («zeitaufwendig»).
f Probleme mit Urheberrechten, aufgrund derer eine spezifische Anfrage für jede aus der Literatur entnommene Abbildung erforderlich ist. Diese Notwendigkeit entfällt jedoch, wenn der MOOC-Unterricht wie klassischer ex cathedra-Unterricht privat erfolgt («Local Open Online Course» [LOOC]).
MOOC = «Massive Open Online Course»; EPFL = École Polytechnique Fédérale de Lausanne.

«Small Private Online Course» (SPOC)

SPOCs zählen zur Methode des integrierten Lernens «blended learning», bei der Präsenzveranstaltungen durch Online-Kurse (in Video- und anderer Form) ergänzt werden und der umgedrehte Unterricht1 in einer relativ kleinen Studentengruppe gefördert wird. Der Beitrag von Morton [3] zeigt den Nutzen des integrierten Lernens (im SPOC-Format) im Rahmen des Medizin-Bachelor-Studiengangs der «Imperial College School of Medicine» in London auf. Im dort angeführten Beispiel wird eine Pharmakologievorlesung über die Parkinson-Krankheit beschrieben und aufgezeigt, dass es möglich war:
– die Zahl der ex cathedra-Unterrichtsstunden zu halbieren,
– eine Form des integrierten Lernens in Form von umgedrehtem Unterricht1 («flipped classroom») einzuführen [4],
– den Einbezug («engagement» oder «involvement») der Studenten (siehe B. Franklin, Abb. 1) zu optimieren,
– eine sehr gute Akzeptanz dieses Unterrichtssystems durch die Universitätsstudenten nachzuweisen.
Abbildung 1: Benjamin Franklin, geboren 1706 in Boston, ­gestorben 1790 in Philadelphia, Autodidakt der Aufklärungszeit. Drucker, Verleger, Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Erfinder und Gründungsvater der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Überdies ist er bekannt für die ­Gründung der «University of Philadelphia» und im Allgemeinen für sein Interesse an Bildung. (Porträt von Joseph ­Duplessis, [Public domain], via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:BenFranklinDuplessis.jpg).

«Customised OnLine Training» (COLT)

Dabei handelt es sich um ein den SPOC ähnelndes Unterrichtsformat [5–7]. Dieses umfasst:
– Ein Fernunterrichtsmodul, welches auf ein studentisches Zielpublikum (Bachelor, MSc, MAS, Post­doktorat oder Fortbildung) ausgerichtet ist;
– einen entsprechend der Vorgaben des Auftraggebers (Universität, öffentliches oder privates Forschungsinstitut) an das Zielpublikum angepassten Unterricht;
– eine matrizenartige Kombination aus problem­basiertem Lernen (PBL) und einem transversalen Ansatz, welcher auf den historischen Fächern (Anatomie, Physiologie, Pharmakologie, Genetik usw.) basiert, mittels Zugriff auf Online-Inhalte per Fernunterricht («self learning / self assessment») und Präsenzarbeit (Vorlesungen, Seminare, praktische Arbeit).
Die Entwicklung eines auf problembasiertem Lernen (PBL) basierenden Unterrichts mittels COLT-Methode im 2. und 3. Bachelor-Studienjahr in Genf ist in Tabelle 2 umfassend dargestellt. Für diesen Prozess ist die beständige Interaktion zwischen der Lehrkraft (oder dem Tutor), welche das Lernziel und die entsprechenden Mittel vorgibt, um letzteres zu erreichen, und dem Lernenden (Studenten) sowie der HSeT erforderlich, welche das PBL-Modul online stellt. Wir bevor­zugen den Ansatz des integrierten Lernens («blended learning»), bei dem Präsenzveranstaltungen mit Online-Unterricht kombiniert werden (Abb. 2). Eine vollständige Liste der schweiz- und weltweiten Aus- und Weiterbildungsprogramme im COLT-Format kann auf der Website www.hset.org abgerufen werden.
Tabelle 2: Entwicklung eines auf problembasiertem Lernen basierenden Unterrichts mittels COLT-Methode («Customised Online Training»).
 Wer?Was?Beispiel
Bachelor in Medizin
(2. und 3. Studienjahr)
1Lehrkraft*Festlegung der LernzieleProblembasiertes Lernen (PBL) anhand eines klinischen Fall­beispiels
2HSeT und LehrkräfteAustausch des Lehrmaterials
Diskussionen
Unterstützung in Form von ­Vorlesungen, Videos, Bildern, Grafiken, Animationen, Literatur­angaben, Quizfragen
3HSeTEntwicklung des PBL-Unterrichts in Form von «blended learning» 
4HSeTBereitstellung des klinischen Fallbeispiels, der Quizfragen, Aufnahmen bildgebender ­Verfahren, Animationen und Videos auf der WebsiteVersion 1.0
5Lehrkräfte und HSeTDiskussionVersion 1.0
6HSeTProduktionVersion 2.0
7LehrkräfteValidierung des Inhalts und der QuizfragenVersion 2.0
 HSeTSchulung der Tutoren 
im COLT-FormatOnline oder als ­Präsenzveranstaltung
8HSeTÖffnung der Website oder des Forums für die StudentenOnline
9StudentenIndividuelle Aufgaben
Leistungsbeurteilung
Online
10TutorenEvaluierung der Leistungen
Ermittlung der Stärken und Schwächen der Klasse
Online
11StudentenGruppenaufgabeOnline
12Tutor und StudentenAuswertungssession mit Fokus auf die unter 10 ermittelten Schwächen
Eventuell Prüfung
Präsenzveranstaltung

Online
13Studenten und TutorenEvaluierung des PBLOnline
14HSeTKorrekturen und Verbesserung der Website entsprechend 13Version 3.0
* einer Institution wie: der Universität Genf, der Universität Lausanne, der Universität Bern, der École Polytechnique Fédérale de Lausanne, des NCCR-Kidney.ch (Swiss National Centre of Competence in Research Kidney), des Swiss Centre of Applied Human Toxicology.
HSeT = Health Sciences e-Training Foundation.
Abbildung 2: Vergleich der jeweiligen Vor- und Nachteile der drei Unterrichtsformen: 100% Präsenzveranstaltungen (ex cathedra, linker gelber Kreis), integriertes Lernen oder «blended learning» (mittlerer grüner Kreis) und 100% Fernunterricht («online», rechter blauer Kreis).

Neue Entwicklungen im Bereich des ­Fernunterrichts?

Neue pädagogische Tools gewinnen zunehmend an ­Bedeutung. Bereits durch die bildgebenden Verfahren wurde der Anatomie-, Histologie-, Embryologie- und Radiologieunterricht revolutioniert. Durch die vir­tuelle Simulation von Problemen aus den Bereichen ­Pathophysiologie, Pharmakotherapie, klinischer und psychiatrischer Untersuchungen können Studenten, wie Piloten in einem Flugsimulator, komplexe Situationen trainieren [8]. So können sie sich bereits im Studium mit der besonders komplexen Regulation der Kalzium- und Phosphat-Homöostase vertraut machen oder die Auswirkungen einer bestimmten Medikamentendosis (Therapieschema) auf das Plasmakonzentra­tionsprofil bei unterschiedlichen Parametern (Nieren- und Leberinsuffizienz, Medikamenteninteraktionen) beobachten. Mithilfe von künstlicher Intelligenz können die Studenten zunehmend kompliziertere klinische Probleme meistern, deren Lösung zuvor stärker von der klinischen Intuition (die glücklicherweise noch immer unerlässlich ist) als von objektiven Nachweisen abhängig war. Dies wirft die Frage nach der Rolle des Menschen sowohl in der Beziehung zwischen Arzt und Patient als auch zwischen Lehrendem und Lernendem auf [9].

Entwicklungspotenzial

Bachelor und Master in Medizin

Bestandsaufnahme

Das Curriculum des Medizinstudiums entwickelt sich beständig weiter, wird jedoch stets mit der Verleihung des eidgenössischen Diploms in Humanmedizin nach sechs Studienjahren und dem Bestehen der eidgenös­sischen Prüfung abgeschlossen. Letztere umfasst zwei Bereiche: (1.) einen theoretischen fächerübergreifenden Bereich (Fragebogen mit Multiple-Choice-Fragen) und (2.) eine gesamtschweizerisch einheitliche und strukturierte praktische Prüfung (auch «Clinical Skills-Prüfung» genannt). Diese wird nach den Prinzipien ­eines OSCE (Objective Structured Clinical Examination) durchgeführt. Auf diese Weise möchte der Gesetzgeber überprüfen, ob das Niveau der Kenntnisse und klinischen Fähigkeiten der Studenten, unabhängig von der besuchten Fakultät, gleich ist. Der Lernzielkatalog SCLO ([Swiss Catalogue of Learning Objectives] aktuell gültiger Schweizer Katalog mit den von der ­Eidgenossenschaft geforderten und in der eidgenössischen Prüfung zum Erhalt des Medizindiploms geprüften Lernzielen) wird demnächst durch einen neuen mit dem Namen «PROFILES» ersetzt, welcher ab der eidgenössischen Prüfung im Jahr 2021 relevant sein soll. Die Anforderungen von PROFILES sind in drei ­Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel werden, in Anlehnung an die in mehreren Ländern weltweit angewendeten CanMED-Rollen, eine Reihe von Kompetenzen in Bezug auf die unterschiedlichen Rollen des Arztes aufgelistet. Im zweiten Kapitel werden alle beruflichen ­Tätigkeiten genannt, die zu den medizinischen Hauptaufgaben gehören, welche ein Arzt ab dem Beginn ­seiner Assistenzarzttätigkeit selbstständig ausführen können muss. Im dritten Kapitel werden ca. 265 typische klinische Situationen präsentiert, die ein Arzt nach erfolgreichem Bestehen der eidgenössischen Di­plomprüfung zu meistern hat. Der Akkreditierungsprozess der Schweizer medizinischen Fakultäten wird derzeit durch die beiden eidgenössischen Gesetze, das Hochschulförderungs- und Koordinationsgesetz (HFKG, 2011) und das Medizinalberufegesetz (MedBG, 2018) geregelt. Für das Management der entsprechenden Prozesse ist die Schweizerische Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung (AAQ) verantwortlich. Im Prinzip verfügt die Schweiz also über alle gesetzlichen und regulatorischen Instrumente, um eine einheitliche Qualität der medizinischen Ausbildung zu gewährleisten. An der Umsetzung dieses Ziels bestehen jedoch einige Zweifel. Denn tatsächlich geniessen die medizinischen Fakultäten noch immer die grösstmögliche Freiheit, das Curriculum nach ihren Wünschen zu gestalten. So hat sich jede der Ausbildungsstätten (Voll- oder Teilzeitstudium) in Basel, Zürich, Bern, Lausanne, Genf, Freiburg, Neuenburg und Lugano für unterschiedliche Lehransätze entschieden. Einige Fakultäten bevorzugen den ex cathedra-Unterricht, während andere auf problembasiertes Lernen in Kleingruppen setzen. Die Fakultäten in der Deutschschweiz verlangen, wie in Deutschland üblich, für das erste Bachelor-Studienjahr eine Aufnahmeprüfung. In der Westschweiz darf der Hochschulzugang laut kan­tonaler Hochschulgesetzgebung hingegen nicht beschränkt werden (Numerus clausus), da die eidgenös­sische Maturität als einzige Zulassungsvoraussetzung für Hochschulen gilt. Daraus folgt, dass die Schweizer Studenten, obwohl der Studiengang nach dem Bologna-Format zu einem Bachelor-Studium (3 Jahre), einem Master-Studium (3 Jahre), einschliesslich einem 5. oder 6. Praktikumsjahr umgestaltet wurde, nur über eine eingeschränkte Freizügigkeit und wenig Kontakt zu Studierenden und Lehrenden anderer Fakultäten, anderer Sprachen und Kulturen verfügen. Kurz gesagt, der «Röstigraben» ist ebenso unüberwindbar wie die Kantonsgrenzen zwischen Bern, Freiburg, Genf und Lausanne sowie zwischen Basel, Zürich, St.Gallen, Luzern und dem Tessin … Ferner hat die sehr grosse Curriculum-Diversität (die an sich nicht schlecht ist) den Nachteil, dass nicht für alle Schweizer Studenten dieselben Standards gewährleistet sind. Der Gedanke, ­unsere medizinischen Fakultäten zu vereinheitlichen und zu «föderalisieren» (einige schlugen nach dem Vorbild der ETH [Eidgenössische Technische Hochschule] und der EPFL [École Polytechnique Fédérale de Lausanne] die Schaffung Eidgenössischer Medizinischer Hochschulen vor), liegt uns fern, aber wäre es nicht an der Zeit, wenigstens einige Lernziele aus dem PROFILES-Katalog auszuwählen und diese mit modernen Lehrwerkzeugen in Form von ­Online-Kursen umzusetzen und während des sechs­jährigen Medizinstudiums an allen Fakultäten identisch zu evaluieren?

Quo vadis: Auf zur Schaffung eines virtuellen medizinischen Campus Schweiz?

Könnte die Schaffung eines virtuellen medizinischen Campus Schweiz eine Lösung sein? Die Idee eines «Virtuellen Campus Schweiz» ist nicht neu und wurde von Charles Kleiber während seiner Amtszeit als Staatssekretär für Forschung zu Beginn der 2000er-Jahre eingeführt. Leider erfüllte das ehrgeizige Pilotprogramm, welches ursprünglich vollständig von der Schweize­rischen Eidgenossenschaft subventioniert wurde, die Erwartungen der Initiatoren nicht und wurde im Jahr 2006 aufgrund der fehlenden Kostenübernahme durch die Schweizer Universitäten abrupt beendet. Für diesen Misserfolg gibt es zahlreiche Gründe. Der unserer Meinung nach wichtigste ist die vorrangige Konzen­tration auf die IT-Infrastruktur bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Lehrinhalte. In der Zwischenzeit wurden zahlreiche «Open Source»-Plattformen (wie z.B. Moodle, Ilias) entwickelt und von akademischen Institutionen genutzt, wodurch die IT-Problematik zweitrangig geworden ist. Das Problem besteht dem­zufolge nicht in der Plattform, sondern im Zugriff auf den Inhalt, seine Aufbereitung (MOOCs, SPOCs, oder COLTs) in einem Lehrformat, das Interaktivität ermöglicht und den Einbezug von Tutoren und Studenten fördert. Möglicherweise ist es an der Zeit, sich ein neues Konzept eines virtuellen Campus Schweiz auszudenken. Warum dann nicht mit dem bereits «föderalisierten» Medizinstudium beginnen?

Vorteile

Die gemeinsamen Lernziele sind bereits für alle Cur­ricula festgelegt. Es würde genügen, sich auf einige Lernziele im Bachelor- und Master-Studium zu einigen, welche auf dem virtuellen Campus vermittelt ­werden sollen. Mithilfe der COLT-Methode könnte das Curri­culum an die Anforderungen und Bedürfnisse der jeweiligen Fakultäten angepasst werden, wodurch ihre Besonderheiten erhalten blieben.
Durch einen derartigen virtuellen Campus könnte das Niveau der Medizinstudenten nicht nur bei der Abschlussprüfung, sondern auch während der gesamten sechs Studienjahre schweiz- statt lediglich kantonweit überprüft werden. Dies könnte langfristig die Lehr­qualität verbessern. Ferner würde die bis dato, mit Ausnahme des Erasmusprogramms, welches bekanntlich kurz vor dem Aus steht, nicht existente Freizügigkeit von Studenten auf diese Weise wieder möglich. Und schlussendlich könnte man mithilfe eines virtuellen Campus Schweiz Aufhol- oder «Übergangskurse» an­bieten, wodurch es den Studenten möglich würde, ­innerhalb der oder von einer zur anderen Universität zu wechseln.

Schwächen

Man sollte nicht verschweigen, dass der Misserfolg des «Virtuellen Campus Schweiz» dauerhafte Spuren hinterlassen hat. Allgemein mussten wir ein grosses Misstrauen der meisten Lehrkräfte gegenüber jeglichen Änderungen hin zu neuen digitalen Technologien feststellen. Hinzu kommt, dass Fernunterricht von den Fakultäten noch lange nicht als gleichwertig zum ex cathedra-Unterricht anerkannt wird. Zu diesem Problem wurde kürzlich eine Metaanalyse ver­öffentlicht [10].

Fort- (MAS, DAS und CAS) und Weiterbildungscurriculum (CME)

Im Gegensatz zum Medizinstudium ist der Fernunterricht in der Fort- und Weiterbildung bereits weiter verbreitet (siehe vorgenannte Beispiele). Der Widerstand der Fakultäten ist geringer und die Lehrkräfte/Professoren geniessen grössere Freiheiten, ihren Unterricht ihren spezifischen Kompetenzen entsprechend zu gestalten. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass diese Art des Unterrichts (MAS, DAS, CAS) an den Universitäten aktuell selbst finanziert werden muss. Sie verhilft den Fort- und Weiterbildungsprogrammen, welche sinnvoll sind für diejenigen akademischen Führungskräfte, Ärzte/Forscher, welche einen Fachtitel FMH oder eine Arbeit im öffentlichen Gesundheitswesen anstreben, zu nationaler und internationaler Sichtbarkeit [6]. Daher könnte man sich im Bereich der Fort- und Weiterbildung eine Unterrichtsplattform wie den virtuellen Campus Schweiz vorstellen, von der aus es möglich ist, die Vorlesungen und Ausbildungsinhalte aller universitären und privaten Zentren in der Schweiz abzurufen.

Schlussfolgerungen

«Ist der ex cathedra-Unterricht überholt? Wenn diese Unterrichtsart dem traditionellen Bild eines Professors entspricht, der in einem grossen Hörsaal den Studenten gegenübersteht, welche seine Informationen passiv aufnehmen, dann sind wir der Meinung, dass die medizinischen Fakultäten diese Unterrichtsart grösstenteils abschaffen sollten.» Diese Aussage entstammt einem Beitrag [11], der den traditionellen ex ­cathedra-Unterricht infrage stellt.
Unser Vorschlag besteht hingegen darin, ex cathedra-Unterricht zu fördern, der von «charismatischen» Lehrkräften gehalten wird («role model»), welche über die Fähigkeit verfügen, das Interesse der Studenten für ein Fachgebiet oder ein bestimmtes Thema zu wecken. Mit anderen Worten Lehrkräfte, welche die Fähigkeiten erworben haben, eine grosse Gruppe von Studenten mitzureissen. Andere Unterrichtsmethoden, bei denen der aktive Einbezug der Medizinstudenten gefördert wird, gibt es bereits (Kleingruppen, Seminare, Kompetenzerwerb). Natürlich sollen klinische Praktika und der Unterricht am Krankenbett auch weiterhin der wichtigste Bestandteil des Medizinstudiums und unersetzlich bleiben. Das E-Lernen (E-Learning) soll die bereits bestehende Angebotspalette ­lediglich ergänzen. Wäre es demzufolge nicht wünschenswert, dass unsere Fakultäten einen modernen, pragmatischen und ausgewogenen medizinischen Unterrichtsansatz verfolgen [11]?

Das Wichtigste für die Praxis

• Moderne pädagogische Tools haben rasch in der medizinischen Lehre Einzug gehalten, insbesondere im Bereich des Fernunterrichts (E-Learning und E-Training).
• Die Schaffung einer digitalen Schweizer Plattform im Medizinstudium in Form eines virtuellen medizinischen Campus Schweiz hätte den Vorteil gemeinsamer Lernziele und identischer Evaluationskriterien für alle ­Medizinstudenten, was die Ausbildung langfristig verbessern und die Freizügigkeit der Studenten zwischen den Universitäten wieder ermöglichen würde.
• In der Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Forschern im Bereich Biomedizin wird diese Unterrichtsform bereits sehr erfolgreich genutzt. Durch die Schaffung einer Plattform im Rahmen eines virtuellen medizinischen Campus Schweiz, von der aus die Vorlesungen und Ausbildungs­inhalte aller universitären und privaten Zentren in der Schweiz abge­rufen werden können, wäre es möglich, den Zugang der Ärzte zu Fort- und Weiterbildungsangeboten zu vereinfachen und zu optimieren.
Wir möchten Mathieu Nendaz, Walter Reith, Jean-Michel Dayer, ­François Verrey, Jean Grunberg und Antoine de Torrenté ganz herzlich für ihre Anmerkungen und konstruktiven Hinweise danken.
We describe in the review pedagogical tools developped by HSeT, a for non profit Swiss Foundation. A link is provided to the HSeT website where the reader can get relevant informations about the Foundation.
Dr méd. Bernard C. Rossier
Prof. h.c. FBM/UNIL
Faculté de biologie et
de médecine
Université de Lausanne
Rue du Bugnon 27
CH-1005 Lausanne
Bernard.Rossier[at]unil.ch
 1 Siemens G, Gasevic D, Dawson S. A review of the history and current state of distance, blended, and online learning. In: Siemens G, Gasevic D, Dawson S (eds.). Preparing for the digital University. Athabasca University: Bill and Melinda Gates Foundation; 2015. LINK Research Lab
 2 Waldrop MM. Online learning: Campus 2.0. Nature. 2013;495(7440):160–3.
 3 Morton CE, Saleh SN, Smith SF, et al. Blended learning: how can we optimise undergraduate student engagement? BMC Med Educ. 2016;16:195.
 4 Wikipedia. Umgedrehter Unterricht. Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Umgedrehter_Unterricht. Accessed.
 5 Anderle P, Huyn-Do U. Scientists in Translational and Entre­preneurial Medicine: Unmet Needs and Challenges. Technology Transfer and Entrepreneurship. 2017;4(2):126–31.
 6 Bourhy H, Troupin C, Faye O, et al. Customized online and onsite training for rabies-control officers. Bull World Health Organ. 2015;93(7):503–6.
 7 Rossier BC, Kraehenbuhl JP, Rossier M. [Role of distance learning in the education and the training of the investigator]. Med Sci (Paris). 2014;30(6–7):603–4.
 8 Kiefer B. Simulations en médecine. Rev Med Suisse. 2013;9(410):2360.
 9 Kiefer B. L’IA, l’autre et le soignant. Rev Med Suisse. 2017;13(579):1816.
10 O’Doherty D, Dromey M, Lougheed J, Hannigan A, Last J, McGrath D. Barriers and solutions to online learning in medical education – an integrative review. BMC Med Educ. 2018;18(1):130.
11 Schwartzstein RM, Roberts DH. Saying goodbye to lectures in medical school – paradigm shift or passing fad? N Engl J Med. 2017;377(7):605–7.