Ernährung am Lebensende
Stillung eines Grundbedürfnisses oder therapeutische Intervention?

Ernährung am Lebensende

Editorial
Ausgabe
2019/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2019.08427
Swiss Med Forum. 2019;19(4950):794-795

Affiliations
Klinik für Innere Medizin, Kantonsspital Winterthur, Winterthur

Publiziert am 04.12.2019

Die Beschäftigung mit dem Thema Ernährung am ­Lebensende oder Ernährung in der Palliative Care wirft viele grundsätzliche Fragen auf, wird mitunter sehr emotional geführt und setzt eine intensive kritische Auseinandersetzung mit den komplexen zugrunde liegenden medizinischen, ethischen, emotionalen, psychologischen und juristischen Aspekten dieser Thematik voraus [1]. Zentral ist die Frage, ob Ernährung immer als Stillung eines Grundbedürfnisses oder als therapeutische Intervention zu bewerten ist. Die gewohnte Ernährungsweise, das heisst die Ernährungsgewohnheiten und das Trinkverhalten eines Menschen, gelten als ein Grundrecht und jede Form von Ernährungsergänzung oder -substitution ist als therapeutische Intervention zu werten. Als therapeutische Massnahme hat die Ernährung die Kriterien der Indikation und der Einwilligung für das Beginnen und Beenden in gleicher Art und Weise wie jede andere Therapie zu erfüllen [2]. Appetitverlust (Anorexie), ­Gewichtsverlust (Kachexie) und Müdigkeit (Fatigue, Asthenie) gehören zu den belastendsten Symptomen von Menschen mit einer fortgeschrittenen unheil­baren Krebserkrankung.
Im praxisnahen und klinisch sehr relevanten Beitrag von Pautex und Genton aus Genf über die Indikationen der künstlichen Ernährung bei Patienten in der Palliative Care in dieser Ausgabe des Swiss ­Medical Forum [3] kommt Frau X mit genau diesen Symptomen in die Sprechstunde. Sie leidet an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, aufgrund derer sie sich schon zahlreichen onkologischen Behandlungen unterzogen hat. Sie erscheint in Begleitung ­ihres Ehemannes, der vom Hausarzt um die Verschreibung einer künstlichen Ernährung bittet, damit seine Frau wieder zu Kräften kommt.
Im Gegensatz zu anderen Problemen und Symptomen am Lebensende, wie zum Beispiel Schmerzen, stellt die Frage der Ernährung im Einzelfall oft ein hochemotionales Thema dar, das insbesondere von Angehörigen in bester Absicht für die Betroffenen aktiv thematisiert wird. «Man kann die Patientin doch nicht verhungern lassen!» oder «Wir müssen doch etwas tun!» sind oft gehörte Äusserungen. Von den Angehörigen werden Ängste, Sorgen und Loslassschmerzen auf das Thema Ernährung projiziert, was in der weiteren Betreuung zu Konflikten führen kann. Hier gibt es keine allgemeingültigen Entscheidungskriterien oder Algorithmen, da jede Entscheidung individuell kritisch auf die Bedürfnisse des jeweils Betroffenen zugeschnitten werden muss [1].
Die Autorinnen haben sehr schön herausgearbeitet, wie der Hausarzt in einem 6-Schritte-Prozess diese Herausforderungen meistern kann. Von entscheidender Bedeutung ist eine möglichst frühzeitige einfühlsame Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten und den involvierten Angehörigen im Sinne eines «shared decision making». Heute wird die Autonomie des Patienten als sehr wichtig erachtet. Frau X soll zum Essen und Trinken motiviert werden, aber ohne sie zu überreden oder Druck auszuüben. Dies erfordert sehr viel Empathie. Die vollständig informierte Frau X soll an allen Entscheidungen teilhaben, sich für oder gegen Interven­tionen entscheiden können. Sie hat das Recht zu wählen und das Recht, so aufgeklärt zu werden, dass sie die Wahl auch treffen kann, sei es für das Beginnen oder auch die Beendigung der Ernährungstherapie. Alle therapeutischen Massnahmen sollten ein Ziel ­haben, ein erreichbares Ziel, aus dessen Erreichen der Patientin Nutzen entsteht und dessen Preis sie zu zahlen bereit ist [4].
Die medizinische Evidenz einer frühzeitigen ernährungsmedizinischen Betreuung, insbesondere in Bezug auf den Erhalt der Lebensqualität, in den frühen Phasen einer palliativmedizinischen Versorgung ist gut belegt. Eine aggressive palliative Therapie (z.B. Chemotherapie, Bestrahlung) setzt eine adäquate, individuelle Ernährungsstrategie voraus. Trotzdem unterbleibt eine solche Massnahme oft oder die Ernährung wird nicht konsequent durchgeführt. In den deutlich fortgeschrittenen Krankheitsphasen, bei denen die klinischen Effekte einer Ernährungsintervention fraglich und unzureichend belegt sind, kommt es dann oft zu einem unreflektierten Aktionismus mit entsprechender Überversorgung. Wie es Löser treffend formuliert hat, gilt trotz deutlich zunehmender ernährungsmedizinischer Erkenntnisse auf diesem Gebiet leider immer noch die Aussage «am Anfang zu wenig – am Ende oft zu viel» [1].
In einem interdisziplinären Gespräch wurde für Frau X und ihren Mann klar, dass eine künstliche Ernährung ihre Lebensqualität wohl nicht verbessern könnte. Sie hat darauf verzichtet, profitierte trotzdem von ­einer Konsultation bei einer Ernährungsberaterin und konnte ihre Ernährung nach dem «Lustprinzip» optimieren. Sie verstarb fünf Monate später.
Im Mittelpunkt standen Erhalt beziehungsweise Steigerung von Lebensqualität, Achtung der Patienten­autonomie und Selbstbestimmung, Hilfestellung für die Angehörigen, was schliesslich einen «guten Tod» ermöglichte. Dieser Artikel erhält das Prädikat: sehr ­lesenswert!
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med.
Reinhard Imoberdorf
Chefarzt Klinik für
Innere Medizin
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse 15
CH-8401 Winterthur
reinhard.imoberdorf[at]
ksw.ch
1 Löser C. Ernährung am Lebensende – medizinische, ethische und juristische Grundsätze der palliativmedizinischen Ernährung. Aktuel Ernahrungsmed. 2013;38:46–66.
2 Baumann-Hölzle R, Imoberdorf R, Koblet K, Ballmer PE, Rühlin M, Bau R, et al. Ernährungsautonomie – ethisches Grundsatzpapier zur Ernährung der Patientinnen und Patienten im Akutspital. Schweiz Ärzteztg. 2006;87(33):1412–5.
3 Pautex S, Genton L. Indikationen für künstliche Ernährung bei Palliativpatienten. Swiss Med Forum. 2019;19(49–50):800–2.
4 Haller A, Imoberdorf R, Ballmer PE. Ernährung Schwerkranker und Sterbender. Praxis 2004;93:53–8.