Tibiaschaftfraktur mit ipsilateraler Sprunggelenksverletzung
Leicht zu übersehen bei Adoleszenten

Tibiaschaftfraktur mit ipsilateraler Sprunggelenksverletzung

Der besondere Fall
Ausgabe
2020/1112
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08333
Swiss Med Forum. 2020;20(1112):198-200

Affiliations
a Klinik für Orthopädie und Traumatologie, Kantonsspital Winterthur; b Abteilung Kinderorthopädie, Neuroorthopädie und Traumatologie, ­Universitäts-Kinderspital Zürich; c Abteilung Bilddiagnostik, Universitäts-Kinderspital Zürich

Publiziert am 10.03.2020

Ein 14-Jähriger zog sich beim Fussballspielen ein Aussenrotationstrauma des rechten Fusses zu. Aufgrund des Alters erfolgte die Verlegung an ein Kinderspital zur weiteren Beurteilung und Therapie.

Hintergrund

Aus der Erwachsenentraumatologie ist bekannt, dass bei Tibiaschaftfrakturen je nach Literatur bei 20–25% [1, 2] oder gar bei bis zu 49,3% [3] zusätzlich eine Sprunggelenksverletzung vorliegt. Die Häufigkeit von zusätzlichen Sprunggelenksverletzungen bei Kindern zwischen 5 und 17 Jahren wird mit 4,3% angegeben [4], wobei uns keine Daten nur für das Adoleszenzalter ­bekannt sind. Es existieren Fallberichte über kombinierte Tibiaschaftfrakturen mit ipsilateralen Übergangsfrakturen bei Adoleszenten [5–9].
Wir präsentieren den Fall eines Adoleszenten mit einer distalen Unterschenkelfraktur mit metaphysärem Ausläufer in Kombination mit einer undislozierten «Twoplane»-Fraktur des Sprunggelenks, die bei nicht ­exakter Analyse der Bildgebung leicht übersehen werden könnte.

Fallbeschreibung

Anamnese

Ein 14-Jähriger zog sich beim Fussballspielen ein Aussenrotationstrauma des rechten Fusses zu. Er verspürte unmittelbar immobilisierende Schmerzen am rechten Unterschenkel. Die initiale Abklärung erfolgte extern, wo konventionell-radiologisch eine dislozierte Tibiaschaft-Torsionsfraktur mit einer undislozierten distalen Fibulafraktur diagnostiziert wurde (Abb. 1). Aufgrund des Alters erfolgte die Ver­legung an ein Kinderspital zur weiteren Beurteilung und Therapie.
Abbildung 1: A) Antero-posteriore und B) laterale Röntgen­bilder des rechten Unterschenkels zeigen distale diametaphysäre Frakturen der Tibia und Fibula sowie eine vertikal verlaufende Linie in der distalen Tibiaepiphyse, verdächtig auf eine «Twoplane»-Fraktur. Die distale Tibiaepiphysenfuge ist medial im Begriff, sich zu verschliessen, lateral zeigt sie sich noch offen.

Status

Unterschenkel rechts: Schwellung des distalen Unterschenkels bis zur Malleolengabel reichend. Keine sichtbare Fehlstellung. Klinisch kein Hinweis auf ein manifestes oder drohendes akutes Kompartmentsyndrom des Unterschenkels. Periphere Sensibilität, Motorik und Durchblutung intakt.

Bildgebung und Diagnose

Die Auswertung der konventionell-radiologischen (Abb. 1) und computertomographischen Aufnahmen (Abb. 2) ergibt die Diagnose einer dislozierten, distalen, mehrfragmentären diametaphysären Tibiatorsionsfraktur mit undislozierter «Twoplane»-Fraktur sowie undislozierter, distaler, diaphysärer Fibulatorsionsfraktur.
Abbildung 2: A) Koronare und B) axiale CT-Bilder zeigen die tibiale «Twoplane»-Fraktur mit in der sagittalen Ebene verlaufender Fraktur der Epiphyse und leichter Aufweitung der Epiphysenfuge. Die distale mediale Tibiaepiphysenfuge ist teilweise vollständig verknöchert. C) Dreidimensionale Rekonstruktionen illustrieren zusätzlich die metadiaphsyäre Unterschenkelfraktur.

Klassifikation

Für kindliche Frakturen existieren zwei häufig benütze Klassifikationssysteme. Nach der LiLa-Klassifikation für Frakturen der langen Röhrenknochen im Wachstumsalter [10, 11] wird die vorliegende Unterschenkelfraktur mit 4.2.s.4.2. und die «Twoplane»-Fraktur mit 4.3.a.3.0. klassifiziert. Gemäss der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) «Pediatric Comprehensive Classification of Long-Bone Fractures» (PCCF) [12] wird die Unterschenkelfraktur als 42-D/5.2 und die «Twoplane»-Fraktur als 43t-E/5.1 eingeteilt.

Therapie

Es erfolgen eine offene Reposition, eine Fixation mit interfragmentären Zugschrauben (2× 3,5 mm Kortikalisschrauben) und die Anlage einer Neutralisationsplatte (DePuy Synthes® 3,5 mm LCP «Low Bend Medial Distal Tibia») der Tibiaschaftfraktur. Da sich im Computertomogramm (CT) ein undislozierter dorsolateraler Frakturausläufer der Tibiafraktur bis zur Epiphysenfuge zeigt, wird die Plattenlänge bis proximal der distalen Tibiaepiphysenfuge gewählt. Intraoperativ wird die Syndesmosenstabilität unter Bildverstärkung (BV) mittels Frick-Test überprüft, wobei sie sich erwartungsgemäss stabil zeigt. Postoperativ erfolgt die Immobilisation initial im gespaltenen Unterschenkelgips und nach Abschwellung im VACOped® unter Teilbelastung von 15 kg für sechs Wochen.

Verlauf

Nach sechs Wochen zeigte sich ein schmerzfreier Pa­tient ohne Druckdolenz im Bereich des lateralen ­Malleolus oder der vorderen Syndesmose und ohne Schmerzprovokation bei Stress der Syndesmose mittels Frick-Test. Die äussere Fixation wurde weggelassen und die Belastung nach Massgabe der Beschwerden bei erlaubter Vollbelastung gesteigert. Zusätzlich wurden Physiotherapie zur Gangschulung, Propriorezeption, Verbesserung der Beweglichkeit im oberen und unteren Sprunggelenk sowie Instruktionen für ein täglich durchzuführendes Heimprogramm verordnet.
Drei Monate postoperativ präsentierte sich ein weiterhin schmerzfreier Patient mit flüssigem Gangbild, frei beweglichem oberen und unteren Sprunggelenk und lediglich leichtgradiger Hypotrophie der Ober- und Unterschenkelmuskulatur im Seitenvergleich.
Fünf Monate postoperativ zeigten sich radiologisch ­allseits konsolidierte Frakturen (Abb. 3), und Kontaktsportarten konnten wieder aufgenommen werden.
Abbildung 3: A) Antero-posteriore und B) laterale Röntgen­bilder fünf Monate nach operativer Versorgung der Unterschenkel­fraktur.

Diskussion

Die assoziierte Verletzung des Sprunggelenkes bei ­Tibiaschaftfrakturen im Erwachsenenalter ist bekannt. Insbesondere bei Vorliegen eines Pronation-Aussen­rotationstraumas, einer Torsionsfraktur des distalen Drittels, einer Tibiaschaftfraktur mit hoher Fibulafraktur oder einer Tibiafraktur mit intakter Fibula sollte hoher Verdacht auf eine Kombinationsverletzung bestehen [2]. Kinder haben eine andere Frakturkonstellation als Erwachsene, und kombinierte Unterschenkel- und Sprunggelenksfrakturen sind gemäss Literatur selten (4,3%) [4]. Es ist denkbar, dass eine zusätzliche Übergangsfraktur bei einer Tibiaschaftfraktur im Adoleszenzalter häufiger als angenommen vorkommt. Sie kann auf dem konventionellen Röntgenbild übersehen werden, insbesondere wenn es sich um eine undislozierte «Twoplane»-Fraktur handelt.
Über die Häufigkeit dieser Kombinationsverletzungen speziell im Adoleszenzalter sind uns aber keine ­epidemiologischen Daten bekannt. Daher sollte bei ­Tibiaschaftfrakturen in diesem Alter das obere Sprung­gelenk exakt mitanalysiert werden, um eine behandlungsbedürftige Zusatzverletzung nicht zu übersehen. Insbesondere bei sichtbarer sich medial verschliessender distalen Epiphysenfuge der Tibia sollte eine Übergangsfraktur gesucht werden. Sie tritt in der Regel nur während des asymmetrischen Fugenverschlusses der distalen Tibia auf und hat meist einen intraartikulären Frakturausläufer. Eine gelenksseitig über 2 mm dislozierte Übergangsfraktur kann bei nicht adäquater Therapie eine funktionelle Beeinträchtigung nach sich ziehen [13].
Bei der vorgestellten Verletzung zeigte sich bei genauer Analyse der konventionellen Röntgenbilder zusätzlich die initial übersehene vertikale Fraktur durch die laterale Tibiaepiphyse im anteroposterioren Röntgenbild im Sinne einer «Twoplane»-Fraktur, was einem ossären Ausriss der vorderen Syndesmose tibialseitig entspricht.
Es ist bekannt, dass bei einer im konventionellen Röntgenbild undislozierten (unter 2 mm) Übergangsfraktur an der distalen Tibia in über einem Drittel der Fälle in der CT-Bilanzierung eine Dislokation von über 2 mm besteht [14]. Daher wird eine CT-Bilanzierung empfohlen. In unserem Fall bestätigte sich die «Twoplane»-Fraktur, wobei sie sich aber weiterhin undisloziert präsentierte und so einer konservativen Therapie zugänglich war.
Wir haben mit dem Patienten die verschiedenen Behandlungsoptionen besprochen [15]: die geschlossene Reposition der Tibiafraktur und die konservative The­rapie mittels Oberschenkelgips für mindestens sechs Wochen (in 59% für über drei Monate [16]) oder die operative Therapie mittels osteosynthetischer Versorgung der ­Tibiaschaftfraktur und intraoperativer Beurteilung der Syndesmosenstabilität. Hierbei sind wir bei einer undislozierten «Twoplane»-Fraktur von einer stabilen Sprunggelenksgabel ausgegangen.
Aufgrund der noch minim offenen Wachstumsfuge an der proximalen Tibia und der Frakturkonstellation mit Frakturausläufer nach distal haben wir uns gegen eine Marknagelosteosynthese entschieden, die bei noch nicht vollständig ausgewachsenen Patienten in der ­Regel auch nicht zur Anwendung kommt.
Unser Patient zeigte einen Markraumdurchmesser der Tibia von über 10 mm, er wog über 60 Kilogramm, so dass die Versorgung mittels elastischer intramedullärer Marknagelung mit einer erhöhten Komplikationsrate verbunden gewesen wäre [17]. Aus diesen Gründen haben wir uns gemeinsam mit dem Patienten und den Eltern für eine Plattenosteosynthese entschieden.
In unserem Fall zeigte sich intraoperativ nach osteosynthetischer Versorgung der Tibiaschaftfraktur im Frick-Test wie erwartet keine Aufweitung der Syndesmose ­respektive Dislokation der «Twoplane»-Fraktur und der distalen Fibulafraktur. Der einzige Vorteil einer zusätz­lichen osteosynthetischen Versorgung der undislozierten «Twoplane»-Fraktur und eventuell der Fibulafraktur läge darin, dass auf eine postoperative Immobilisation des Sprunggelenks verzichtet werden könnte. Da Jugendliche aber eine Gipsruhigstellung in der Regel gut tolerieren und die Rehabilitationsphase meist deutlich kürzer als bei Erwachsenen ist, rechtfertigt sich dieser Zusatzeingriff aus unserer Sicht eindeutig nicht.
Es zeigte sich ein komplikationsloser postoperativer Verlauf, und der Patient konnte nach vier Monaten alle sportlichen Aktivitäten wieder aufnehmen.

Das Wichtigste für die Praxis

• Die Kombination einer Tibiaschaftfraktur mit einer ipsilateralen Sprung­gelenksfraktur im Adoleszenzalter ist möglich und muss bedacht werden.
• Eine übersehene und/oder nicht korrekt behandelte zusätzliche Sprunggelenksverletzung kann zu einer ausgeprägten funktionellen Beeinträchtigung führen.
• Eine exakte Analyse zur Beurteilung der intraartikulären Dislokation ­einer konventionell-radiologisch undislozierten Übergangsfraktur mittels Computertomographie wird empfohlen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Georg Schelling, dipl. Arzt
Klinik für Orthopädie und Traumatologie
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse 15
Postfach 834
CH-8401 Winterthur
georg.schelling[at]ksw.ch
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