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Fallbeschreibung
Ein erfahrener und gesunder, 24-jähriger Taucher führt in einem See zwei aufeinanderfolgende Tauchgänge mit Sauerstoffflasche durch (60 Minuten mit grösster Tiefe 47 Meter, 50 Minuten mit grösster Tiefe 37 Meter, Oberflächenintervall 1 Stunde 50 Minuten). Beim zweiten Tauchgang spürt er ab dem Auftauchen messerstichartige Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Parästhesien der oberen Gliedmassen, diffuse Schmerzen und Probleme beim Wasserlassen.
Frage 1: Welche Diagnose trifft am ehesten zu?
a) Dekompressionsunfall (DU) mit Rückenmarksbeteiligung
b) Pulmonales Barotrauma
c) Arterielle Gasembolie (AGE)
d) Stickstoffnarkose
e) Taucher-Lungenödem
Alle Zustands- oder Verhaltensänderungen in den ersten Stunden nach einem Tauchgang sind bis zum Beweis des Gegenteils als tauchbedingt zu betrachten.
Ein DU entsteht aufgrund komplexer körperlich-chemischer und biologischer Mechanismen [1] (Abb. 1, blau). Das klinische Erscheinungsbild ist vielgestaltig und das Auftreten zeitlich variabel. Die Symptome können ab dem Auftauchen und bis zu mehreren Stunden nach dem Verlassen des Wassers auftreten. Bei schweren Verlaufsformen überwiegen neurologischen Manifestationen infolge von Rückenmarksläsionen. Parästhesien der Arme und Beine sind häufig und können mit Komplikationen in Form einer Parese, einer Paralyse und Schliessmuskelstörungen einhergehen. Messerstichartige Schmerzen an der Wirbelsäule sind selten (5% der Fälle), jedoch sehr charakteristisch für eine Dekompressionsmyelopathie [2].
Ein pulmonales Barotrauma tritt beim Auftauchen auf, wenn Gas in den Lungen eingeschlossen ist («air trapping») (Abb. 1, rot). Mögliche Folgen sind alveoläre Hämorrhagien, ein interstitielles Lungenemphysem, ein Pneumomediastinum, ein Pneumothorax oder ein subkutanes Emphysem [3].
Eine AGE kann infolge zweier unterschiedlicher Mechanismen auftreten (Abb. 1). Der erste hängt mit einem pulmonalen Barotrauma mit Alveolenruptur und massivem Luftübertritt in den Venen- und anschliessend in den systemischen Kreislauf zusammen. Die Symptome treten rasch auf (80% in den ersten zehn Minuten nach Verlassen des Wassers) und sind meist heftig (Bewusstseinsstörung, fokales neurologisches Defizit, epileptischer Anfall, Herz-Kreislauf-Stillstand). Die Prognose ist schlecht. Der zweite Mechanismus greift, wenn die Lungenkapazität zur Filterung der Stickstoffbläschen überschritten ist und/oder ein Rechts-Links-Shunt (permeables Foramen ovale [PFO], pulmonale arteriovenöse Malformation) vorliegt. In diesem Fall dringen weniger Bläschen bis in den systemischen Kreislauf vor. Die klinischen Erscheinungsbilder sind unterschiedlicher Ausprägung und Intensität, jedoch weniger heftig als bei einer Alveolenruptur und von der Lokalisation der Gasemboli abhängig.
Die Stickstoffnarkose wird auch als «Tiefseerausch» bezeichnet. Die jeweilige Anfälligkeit dafür kann sowohl von Person zu Person als auch bei derselben Person variieren (Müdigkeit, Stress, Ängste). Die Symptome sind von der Tauchtiefe abhängig.
Das Taucher-Lungenödem wird bei Tauchern, Apnoetauchern und Schwimmern beschrieben. Es ist durch Atemnot, schaumartigen Auswurf und Hämoptysen gekennzeichnet, die unter Sauerstoffgabe rasch abklingen. Häufig tritt es bei Anstrengung im kalten Wasser auf. Die Merkmale der oben genannten Erkrankungen sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Tabelle 1: Die wichtigsten Erkrankungen, die beim Tauchen auftreten können. | ||||
Dekompressions- unfall | Pulmonales Barotrauma | Stickstoffnarkose («Tiefseerausch») | Taucher-Lungenödem | |
Klinisches Erscheinungsbild | Variabel (starke Müdigkeit, Unwohlsein, neurologische, Haut-, Gelenks- und Lungenbeschwerden) | Thoraxschmerz, Husten, Atemnot, Hämoptysen | Variabel, je nach Tauchtiefe (Verhaltensstörungen, kognitive Störungen, Euphorie oder Angst, Koma) | Atemnot, schaumartiger Auswurf, Hämoptysen |
Zeitpunkt | Am Ende des Tauchgangs oder beim Verlassen des Wassers; bis zu 24 Stunden nach dem Tauchgang | Beim Auftauchen, insbesondere auf den letzten Metern vor der Wasseroberfläche | In der Tiefe (beim Auftauchen rascher Rückgang) | An der Wasseroberfläche oder in der Tiefe, häufig bei Anstrengung im kalten Wasser |
Mechanismus | – Mechanischer Effekt von Gasbläschen in den Gefässen und/oder im Gewebe – Komplexe, durch die Schnittstelle Gasbläschen/Blut und Gasbläschen/Endothel mediierte Entzündungskaskade | Überdruck und Überdehnung der Lungenalveolen | Veränderung der Nervenleitfähigkeit in den Synapsen und den neuronalen Membranen | – Mechanismus umstritten – Überlastung der Lungenkapillaren |
Angesichts der Symptomatik des Patienten trifft am ehesten die Diagnose eines DU mit Rückenmarksbeteiligung zu.
Frage 2: Welche Erstmassnahme wird nicht empfohlen?
a) Reine Sauerstoffgabe mit hohem Gasfluss
b) Rehydrierung und Vermeidung von Wärmeverlusten
c) Die Verabreichung von Acetylsalicylsäure und Prednison
d) Die Benachrichtigung des Dienstarztes für hyperbare Medizin
e) Die sofortige Einlieferung in ein Spital mit Druckkammer
Neben den üblichen Massnahmen wie der Verständigung des Notarztes und der Stabilisierung der Vitalfunktionen besteht die wichtigste Erstmassnahme darin, schnellstmöglich und unabhängig von der Sauerstoffsättigung über eine Sauerstoffmaske mit hohem Gasfluss (15 l/min) reinen Sauerstoff (100%) zu verabreichen, um die Stickstoffelimination und die Sauerstoffversorgung im Gewebe zu fördern [4].
Massnahmen zur Vermeidung von Unterkühlung und zur Rehydrierung (kristalloide Infusionslösung ohne Glukose) tragen zur Verbesserung der Blutviskosität und der Gewebeperfusion bei [5].
Der Nutzen adjuvanter Therapien wie der Gabe von Acetylsalicylsäure oder Kortikoiden konnte nicht nachgewiesen werden [6]. Da der Verlauf bei einem DU unvorhersehbar ist, wird empfohlen, den Dienstarzt für hyperbare Medizin zu benachrichtigen, um die beste Versorgungsstrategie festzulegen. Bei einer Spitaleinweisung muss der Patient in ein Zentrum mit Druckkammer eingeliefert werden.
Unser Patient wird mit dem Hubschrauber ins Genfer Universitätsspital (HUG) geflogen.
Frage 3: Welche Untersuchung ist kein Bestandteil der Erstuntersuchung in der Notaufnahme?
a) Die Anamnese, körperliche Untersuchung und Analyse des Tauchprofils
b) Eine Thorax-Röntgenaufnahme
c) Eine Otoskopie
d) Ein Elektrokardiogramm (EKG)
e) Eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Rückenmarks
Die Diagnose eines DU wird auf Grundlage der Anamnese und der klinischen Untersuchung gestellt. Dabei ist es unerlässlich, den Ablauf des Tauchgangs zu verstehen (wobei eine Analyse des Tauchcomputers sehr hilfreich sein kann), Umstände und eventuelle Faktoren festzustellen, die den Dekompressionsunfall begünstigt haben, sowie die Symptome und ihren Verlauf zu präzisieren. Die körperliche und insbesondere neurologische Untersuchung muss wiederholt durchgeführt werden, da sich die Läsionen selbst unter der Behandlung verschlimmern können.
Die paraklinischen Untersuchungen dienen dazu, Kontraindikationen für die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) wie Pneumothorax, eine Mittelohrerkrankung oder ein akutes Koronarsyndrom auszuschliessen.
Eine Rückenmarks-MRT ist als Erstuntersuchung in der Notaufnahme nicht erforderlich. Zu einem späteren Zeitpunkt kann sie jedoch trotz begrenzter Sensitivität zur Präzisierung der Diagnose und Prognose dienen [7].
Bei der neurologischen Untersuchung des Patienten werden keine sensomotorischen Defizite, jedoch persistierende Armschmerzen und ein Harnverhalt festgestellt, aufgrund derer eine HBO-Behandlung angezeigt ist. Direkt nach der ersten Sitzung sind die Symptome und Anzeichen abgeklungen. Das am Behandlungsende angefertigte Rückenmarks-Magnetresonanztomogramm zeigt keine Folgeschäden.
Frage 4: Welche Kondition begünstigt das Auftreten eines DU nicht?
a) Weibliches Geschlecht
b) DU in der Vorgeschichte
c) Fortgeschrittenes Alter
d) Mehrere aufeinanderfolgende Tauchgänge
e) Sägezahnprofil
DU können trotz Einhaltung der Dekompressionsregeln auftreten. Es wird dann als unverschuldet eingestuft. Zwei Drittel der mit HBO behandelten DU betreffen erfahrene Taucher (>299 Tauchgänge), treten nach einem einzelnen Tauchgang mit Sauerstoffflasche im Durchschnitt in 40 Meter Tiefe und unter einwandfreier Einhaltung der Dekompressionsregeln auf [8]. In Tabelle 2 sind die taucher- und umweltbedingten Risikofaktoren zusammengefasst. Das Risiko von Frauen und Männern ist gleich hoch. Es steigt jedoch mit zunehmendem Alter und bei einem DU in der Vorgeschichte.
Tabelle 2: Faktoren, die einen Dekompressionsunfall (DU) begünstigen. | |
Taucherbedingte Faktoren | Tauchbedingte Faktoren |
Fortgeschrittenes Alter | Tauchtiefe und -dauer |
Schlechte körperliche Verfassung | Sägezahnprofil (Jo-Jo-Profil) |
Komorbiditäten und Medikamenteneinnahme | Mehrere Tauchgänge hintereinander |
Stress, Müdigkeit, Dehydratation | Kaltes Wasser |
DU in der Vorgeschichte | Körperliche Belastung |
Höhenaufenthalt, Flug mit dem Flugzeug weniger als 12–24 Stunden nach dem Tauchgang | Nichteinhaltung der Dekompressionsregeln |
Tauchen in Höhenlage (Bergsee) |
Bei aufeinanderfolgenden Tauchgängen (definiert als Oberflächenintervall von unter zwölf Stunden) ist die Stickstoffelimination aus dem Gewebe, selbst bei Tauchgängen innerhalb der Nullzeitgrenzen, noch nicht vollständig. Mithilfe entsprechender Dekompressionstabellen und Tauchcomputer können das Tauchprofil und die Dauer der Dekompressions-(Deko-)Stopps berechnet werden. Bei einem Sägezahnprofil wechseln sich Auf- und Entsättigungsphänomene permanent ab, wodurch das DU-Risiko steigt.
Im beschriebenen Fall war die Dauer der durchgeführten Deko-Stopps unter Berücksichtigung des Tauchprofils und des kurzen Oberflächenintervalls zwischen den Tauchgängen offensichtlich unzureichend (s. Tauchprofil aus dem Tauchcomputer im Online-Appendix des Artikels). Aufgrund der starken Rückenmarksbeteiligung, die häufig mit einem PFO assoziiert ist, haben wir letzteres abgeklärt und es hat sich bestätigt.
Frage 5: Was empfehlen Sie diesem Patienten bezüglich der Wiederaufnahme des Tauchsports?
a) Eine sechsmonatige Kontraindikation und eine Reevaluation durch einen Facharzt
b) Eine generelle Kontraindikation
c) Eine sofortige Wiederaufnahme ohne Einschränkungen
d) Eine sofortige Wiederaufnahme nach den Regeln des «low bubble diving»
e) Einen Verschluss des PFO vor der Wiederaufnahme
Die Wiederaufnahme des Tauchsports nach einem DU ist von einem Facharzt für Tauchmedizin zu evaluieren. Je nach Symptomschwere wird eine Kontraindikation unterschiedlicher Dauer (bei Rückenmarksbeteiligung mindestens sechs Monate) ausgesprochen. Es ist wichtig, den Mechanismus zu identifizieren, der zu dem DU geführt hat, und an die Verhaltensregeln beim Tauchen zu erinnern («low bubble diving», Tab. 3) [9]. Bei Folgeschäden besteht eine generelle Kontraindikation. Ein Verschluss des PFO ist nicht zwingend erforderlich, sollte jedoch mit einem Facharzt besprochen werden [10, 11].
Tabelle 3: Regeln des «low bubble diving»[15] (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Präsidenten der Schweizerischen Gesellschaft für Unterwasser- und Hyperbarmedizin, Dr. med. Claudio Camponovo). | |
Massnahmen, welche die Blasenzahl tief halten | |
1 | Den Tauchgang mit grösster Tiefe beginnen. |
2 | Keine Sägezahn-Tauchgänge (Jo-Jo-Tauchgänge). Kein wiederholtes Auftauchen in den 10-Meter-Bereich. |
3 | Aufstiegsgeschwindigkeit in den oberen 10 Metern auf 5 Meter pro Minute reduzieren. |
4 | Sicherheitshalt in 3–5 m Tiefe während mindestens 5–10 Minuten. |
5 | Nullzeitgrenzen nicht ausreizen. Keine Deko-Tauchgänge. |
6 | Mindestens 4 Stunden Oberflächenintervall bis zum nächsten Tauchgang. |
7 | Maximal zwei Tauchgänge pro Tag. Ein tauchfreier Tag pro Woche. |
8 | Mindestens 2 Stunden Wartezeit bei geplantem Wechsel in eine höhere Höhe über Meer. |
9 | Meiden von grosser Hauterwärmung nach dem Tauchgang. Z.B. Sonnenbad, warme Dusche und Sauna. |
10 | Kälte, Dehydratation und Rauchen vermeiden. |
11 | Tauchen mit Nitrox nach Lufttabellen, Sauerstofftoxizität beachten. |
12 | Spezielle Tauchcomputer respektive Software vermindern das Risiko. |
Massnahmen, die den Übertritt von Blasen in die arterielle Strombahn tief halten | |
13 | Keine Anstrengungen in den letzten 10 Metern des Aufstiegs. Körperliche Arbeiten unter Wasser sowie Strömung am Ende des Tauchgangs vermeiden. |
14 | Keine Anstrengungen in den ersten 2 Stunden nach dem Tauchgang: – An der Oberfläche Jackett nicht von Mund aufblasen. – Gerät im Wasser ausziehen und von Helfenden herausheben lassen. – Anstrengungsfreier Ausstieg an Land oder ins Boot (kein Pressen!). – Herumtragen von schweren Ausrüstungen vermeiden. |
15 | Absolutes Tauchverbot bei Erkältungen. Husten oder Forcieren des Druckausgleichs (Valsalva-Manöver) fördert den Übertritt von Bläschen in den arteriellen Kreislauf. |
Unserem Patienten, der keine Folgeschäden davongetragen hat, wurde sechs Monate nach dem DU erlaubt, den Tauchsport unter Einhaltung der Regeln des «low bubble diving» wiederaufzunehmen.
Diskussion
In der Schweiz wird ein DU vom Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) in den meisten Fällen als Erkrankung betrachtet. Dabei handelt es sich um einen medizinischen Notfall, an den bei allen Symptomen, die innerhalb von 24 Stunden nach einem Tauchgang auftreten, zu denken ist [12]. Die Inzidenz der Erkrankung ist schwer zu ermitteln, da die Erfassung von DU von der spontanen Meldung durch die Patienten und einer Spitaleinweisung abhängt. In Genf wurden von 2010–2016 132 Taucher in der Druckkammer behandelt. Zirka ⅔ der DU betreffen das Nervensystem, und es kommt hauptsächlich zu Rückenmarksbeteiligungen [13].
Obgleich eine entsprechende randomisierte Studie fehlt, ist die HBO bei einem DU die Behandlung erster Wahl. Sie ermöglicht es, das Volumen der zirkulierenden Stickstoffbläschen zu reduzieren und die im Blut gelöste Sauerstoffmenge zu erhöhen, um die ischämischen Bereiche erneut zu versorgen und die Stickstoffelimination im Gewebe zu fördern. Die HBO sollte schnellstmöglich begonnen werden, obwohl die prognostischen Auswirkungen einer frühzeitigen Rekompression (<3 Stunden) bei einer Rückenmarksbeteiligung umstritten bleiben [14]. Je nach Diagnose, initialem klinischem Erscheinungsbild und Behandlungsverlauf kommen verschiedene Behandlungsprotokolle zur Anwendung. Nebenwirkungen (Barotrauma, Sauerstoffkrampf) sind selten, behandelbar und reversibel. In der Schweiz ist lediglich das Universitätsspital Genf (HUG) mit einer Druckkammer und rund um die Uhr erreichbarem Dienstarzt ausgestattet (Montag bis Freitag 8–16 Uhr: 022 372 32 40, 16–8 Uhr und am Wochenende: 022 426 84 31).
Antworten:
Frage 1: a; Frage 2: c; Frage 3: e; Frage 4: a; Frage 5: a.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Gaël Bryois, dipl. Arzt
Service de médecine interne
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