Die posttraumatische Resorption des Os tibiale externum
Wichtige Frage: Liegt eine Retraktion der Sehne vor?

Die posttraumatische Resorption des Os tibiale externum

Der besondere Fall
Ausgabe
2020/4142
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08484
Swiss Med Forum. 2020;20(4142):577-560

Affiliations
a Fusschirurgie, Orthopädische Klinik, Luzerner Kantonsspital, Sursee; b Sportorthopädie, Orthopädische Klinik, Luzerner Kantonsspital, Sursee;
c Sana Pedes AG, Fusszentrum Emmental-Oberaargau, Burgdorf

Publiziert am 06.10.2020

Eine 56-jährige Patientin wurde nach einem Distorsionstrauma des linken Sprunggelenkes zugewiesen. Sie beklagte Schmerzen auf der Fussinnenseite und hatte in diesem Bereich ein minimes Hämatom und eine Schwellung beobachtet.

Hintergrund

Das Os tibiale externum gehört zu den akzessorischen Knochen des Skeletts und ist mit einer Häufigkeit von 4% bis zu 21% der häufigste akzessorische Knochen des Fusses [1–4]. Beidseits tritt er in 50–89% der Fälle auf [5]. Weniger als 1% der betroffenen Füsse werden symptomatisch [6]. Die Klassifikation nach Emil Geist unterscheidet drei Typen [2, 7].
Trotz des relativ häufigen Vorkommens wurden Frakturen dieses Knochens bisher nur sehr selten beschrieben. Eine mehrfragmentäre Fraktur dieses akzessorischen Knochens ist in der Literatur bisher nicht beschrieben worden. Ein Grund hierfür ist wohl auch, dass die zwei bisher veröffentlichten Fallberichte zur radiologischen Untersuchung nur das Nativ-Röntgen einsetzten. In unserem Fallbericht zeigen wir eine direkte Fraktur des Os tibiale externum und zudem eine partielle posttraumatische Resorption desselben. Unter konservativem Therapieregime konnten wir bei unserer Patientin eine vollständige Beschwerdefreiheit und un­eingeschränkte Funktion des Fusses erreichen.

Fallbericht

Anamnese

Die 56-jährige Patientin wurde uns nach einem Distorsionstrauma des linken Sprunggelenkes durch den Hausarzt zugewiesen. Drei Tage zuvor war sie während der Gartenarbeit mit dem Aussenrand des linken ­Fusses auf einen Stein getreten und im Pronationssinne umgeknickt. Sie beklagte Schmerzen auf der ­Innenseite des Fusses und hatte in diesem Bereich ein minimes Hämatom sowie eine Schwellung beobachtet. Aufgrund der belastungsabhängig zunehmenden ­Beschwerden hatte die Patientin selbständig mit der Stockentlastung des Fusses begonnen.

Befund

Klinisch stellte sich bei der Erstkonsultation auf ­unserer Notfallstation eine deutliche Schwellung im Bereich des Mittelfusses mit exquisiter Druck­dolenz über dem Os naviculare dar. Die Funktion der Tibialis-posterior-Sehne (Zehenstand, «single heel rise sign», Vorfussadduktion gegen Widerstand) war schmerzbedingt nicht prüfbar. Neurologisch zeigten sich keine Auffälligkeiten. Die Durchblutung war ­intakt.

Diagnose

In der durchgeführten Computertomographie (CT)-Untersuchung konnte eine Fraktur des Os tibiale externum dargestellt werden (Abb. 1).
Abbildung 1: Frakturiertes Os tibiale externum drei Tage nach Pronationstrauma.
Aufgrund der klinisch nicht prüfbaren Funktion der Tibialis-posterior-Sehne wurde im Anschluss noch eine Magnetresonanztomographie (MRT) des linken Sprunggelenkes durchgeführt. Hier zeigte sich die Tibialis-posterior-Sehne nur im Frakturbereich signal­alteriert bei ansonsten unauffälligem Befund (Abb. 2).
Abbildung 2: Signalalterierte Tibialis-posterior-Sehne im MRT (A: Frontalebene, B: Transversalebene).

Therapie und Verlauf

Wir begannen mit einem konservativen Therapie­regime. Es bestand aus einer Ruhigstellung des Fusses im Vacoped mit erlaubter Teilbelastung von 15 kg an zwei Unterarmgehstöcken für insgesamt sechs Wochen. Die Thromboembolieprophylaxe erfolgte mit Fragmin 5000 IE s.c. 1×tgl.
Nach diesen sechs Wochen stellte sich die Patientin zur ersten klinischen und radiologischen Kontrolle erneut in unserer Sprechstunde vor. Der linke Fuss präsentierte sich mit schlanken Weichteilverhältnissen ohne Hämatomverfärbung. Bis auf einen dezenten Druckschmerz über Os naviculare war der Fuss vollständig ­beschwerdefrei. Die Vorfussadduktion gegen Widerstand zeigte ein Kraftgrad von 5/5 und im beidseitigen Zehenstand varisierte der Rückfuss symmetrisch mit der Gegenseite.
Im Verlaufs-CT konnte die partielle Resorption des frakturierten lateralen Anteils des Os tibiale externum dargestellt werden (Abb. 3).
Abbildung 3: Verlaufs-CT sechs Wochen nach Trauma mit beginnender Resorption des Os tibiale externum.
Aufgrund der klinischen Befunde wurde mit dem schrittweisen Übergang zur Vollbelastung begonnen, dieses anfänglich im Vacoped (für eine Woche). Gleichzeitig wurde physiotherapeutisch der Bewegungsumfang des oberen Sprunggelenkes passiv geübt.
Drei Monate nach Trauma wurde nochmals eine ­klinisch radiologische Kontrolle durchgeführt. Die ­Patientin war nun in normalem Schuhwerk unter Vollbelastung mobil und gab keinerlei Beschwerden oder Einschränkungen im linken Fuss an. Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich eine normovalgische Rückfussachse mit symmetrischer Varisation im Zehenstand (Abb. 4). Im Seitenvergleich war keine Abflachung des Fusslängsgewölbes zu erkennen. Druckschmerzen bestanden ebenfalls nicht. Die Vorfussadduktion gegen Widerstand war weiterhin 5/5.
Abbildung 4: Drei Monate nach Trauma mit symmetrischer Varisierung des Rückfusses im Zehenstand.
Die im CT bereits nach sechs Wochen beschriebene Resorption des lateralen Ossikelfragmentes war weiterhin zunehmend (Abb. 5).
Abbildung 5: Drei Monate nach Trauma deutliche Resorption des Os tibiale externum.

Diskussion

Als Folgen des Pronationstraumas werden Frakturen, Verletzungen des Ligamentum deltoideum, Luxationen der Tibialis-posterior-Sehne berichtet [8, 9], Bei der Fraktur des Os tibiale externum handelt es sich um eine bisher nur sehr selten beschriebene Pathologie. Bei unserer Suche im PubMed konnten wir nur zwei «case reports» aus den Jahren 1978 und 1990 finden [10, 11]. In keinem der Fallberichte erfolgte die Beurteilung des Os tibiale externum mit einem Schnittbildverfahren wie CT oder MRT wie in dem von uns beschriebenen Fall.
In der ersten Fallbeschreibung kam es zur Separation des Os tibiale externum vom Os naviculare [11]. Aufgrund der Retraktion des akzessorischen Knochens erfolgte in diesem Fall nach einem kurzen konservativen Versuch von zwei Wochen die operative Behandlung. Hier wurde das Fragment reseziert und die Tibialis-­osterior-Sehne mit dem umgebenden Gewebe vernäht.
Im zweiten «case report» ereignete sich ebenfalls wie bei unserer Patientin eine plötzliche Eversion des ­Fusses mit anschliessenden Schmerzen auf der Innenseite. Radiologisch konnte eine Fraktur des Os tibiale externum dargestellt werden. Die Therapie erfolgte konservativ mit Gipsruhigstellung [10].
Im Gegensatz zu unserem Fall ist in beiden Berichten eine Separation des akzessorischen Knochens vom Os naviculare beschrieben. Wir konnten in unserem Beispiel jedoch im CT eine mehrfragmentäre Fraktur des akzessorischen Knochens in sich darstellen. Des Weiteren zeigte sich im Verlauf der CT-Untersuchung eine partielle Resorption der Fragmente.
Posttraumatische Osteolysen werden hauptsächlich für die laterale Clavicula berichtet [12, 13]. Einzelfallberichte anderer Lokalisationen wie zum Beispiel Halswirbelkörper und das Os tibiale externum liegen vor [6, 14]. Als Ursache werden die osteoclastische Resorption, avasculäre Nekrosen, Mikrofrakturen, synoviale Invasion und Dysfunktionen des autonomen Nervensystems diskutiert [13, 15].
Klinisch und funktionell ergab sich aus der Resorption des Knochens für die Patientin keinerlei Einschränkung. Unter der konservativen Therapie konnte eine vollständige Beschwerdefreiheit mit identischem funktionellen Ergebnis wie auf der Gegenseite erzielt werden.
Ähnlich wie im «case report» von 1990 kam es bei unserer Patientin zu keiner Retraktion der Fragmente. Auch wir konnten mittels konservativer Therapie ein sehr gutes klinisches Outcome erreichen, trotz Frakturierung des Os tibiale externum in sich [10].
Dies ist wohl der Unterschied zum Bericht von 1978, in dem eine deutliche Proximalisierung des Os tibiale externum beschrieben wurde und die Therapie operativ war [11].
Bei der Fraktur des Os tibiale externum kann man anhand der drei vorliegenden Fallbeschreibungen für die Behandlung zwei Typen unterscheiden:
– Typ A: Es liegt nur eine Fraktur des Os tibiale externum ohne Retraktion der Sehne vor. Somit kann eine konservative Behandlung mit Ruhigstellung, Stockentlastung und antiphlogistischer Therapie erfolgen. Da es zu keiner Retraktion des Fragmentes und damit Elongation der Sehne kommt, resultiert auch kein Funktionsverlust des Musculus tibialis posterior. Es droht somit keine Ausbildung eines Knick-Senkfusses [16, 17].
– Typ B: Es liegt eine Retraktion der Fragmente vor. Somit ist ein operatives Vorgehen mit Resektion der Fragmente und Reinsertion der Sehne im Sinne ­einer Operation nach Kidner zu empfehlen, um den Funktionsverlust des Musculus tibialis posterior zu verhindern [5, 16].

Das Wichtigste für die Praxis

• Zur Frakturbeurteilung sollen Schnittbildverfahren genutzt werden.
• Bei Typ A einer Fraktur des Os tibiale externum ohne Sehnenretraktion ist ein konservatives Therapieregime möglich.
• Bei Typ B mit Retraktion des proximalen Fragmentes ist ein operatives Verfahren zu empfehlen.
Dr. med. Martin Wonerow
Chefarzt Orthopädie
Regionalspital Surselva AG
Spitalstrasse 6
CH-7130 Ilanz
m.wonerow[at]spitalilanz.ch
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