smarter medicine und COVID-19
Die Auswirkungen der Pandemie minimieren, ohne die allgemeine Gesundheit zu gefährden

smarter medicine und COVID-19

Editorial
Ausgabe
2020/1718
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08520
Swiss Med Forum. 2020;20(1718):277

Affiliations
a Ente Ospedaliero Cantonale, Bellinzona; Vorstandsmitglied von smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland b Hirslanden Clinique des Grangettes, Genève; Präsident von smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland

Publiziert am 21.04.2020

Choosing Wisely International vereint mehr als 20 Nationen auf 5 Kontinenten und hat zum Ziel, die Philo­sophie von «less is more» zu fördern [1, 2]. Die Schweiz beteiligt sich seit 2014 aktiv mit der Kampagne «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland». In kurzer Zeit haben 12 Fachdisziplinen «Top 5»-Listen von in der Regel unnötigen medizinischen Massnahmen veröffentlicht, nach dem Motto «mehr tun ist nicht immer besser» [3].
Sicher fragen Sie sich, warum wir eine solche internationale Liste in einer Zeit veröffentlichen, in der die Pandemie uns gezwungen hat, nicht dringend indizierte Gesundheitsdienstleistungen auf ein Minimum zu beschränken. Wir be­finden uns daher in der Schweiz zurzeit eher in einer Phase der medizinischen Unterversorgung: Aus Angst vor einer SARS-CoV-2-An­steckung suchen viele Patienten weder eine Praxis noch ein Spital auf. Die Folgen können bei Notfällen schwerwiegend sein, warnen die Schweizerischen Gesellschaften für Allgemeine Innere Medizin und Kardiologie [4, 5].
Die Effizienz der medizinischen Betreuung während der Pandemie hat einmal mehr die ausser­ordentlich grosse Bereitschaft von Ärztinnen und Ärzten gezeigt, sich für Patientinnen und Patienten zu engagieren. Wir haben Neurologen gesehen, die sich in der Palliativmedizin einsetzen, und Orthopäden, die als Internisten arbeiten; ihr Engagement hat uns alle verblüfft. Es geht eher um die Erhaltung einer Medizin mit dem grössten Mehrwert für die Patienten [6], wobei maximaler Nutzen bei minimalem Risiko den optimalen Wert darstellt.
Das Ziel von Choosing Wisely ist weder eine Einschränkung des medizinischen Handlungsspielraums noch der Verzicht auf das Notwendige. Es geht darum, daran zu erinnern, dass der Wunsch, Gutes zu tun, und therapeutischer Optimismus [7] z.B. durch die Verwendung von Off-label-Medikamenten mit Nebenwirkungen und möglichen Inter­aktionen zu mehr Morbidität als Nutzen führen können. Die Bestandsknappheit des Impf­stoffs Prevenar 13®, der mit dem Ziel eines (nicht nachgewiesenen) Schutzes vor COVID-19 systematisch ver­abreicht wurde, ist ein Beispiel für die Folgen – in diesem Fall die Erschöpfung des Vorrats.
Viele Empfehlungen von Choosing Wisely International überschneiden sich mit jenen des BAG. Es gibt aber eine Empfehlung für die Patienten und uns Ärzte, die weiter geht als jene der eidgenössischen und kantonalen Behörden: Es wird angeraten, keine Off-label­-Arzneimittel ausserhalb von klinischen Studien zu verwenden, da nur solche Studien zum Nachweis der Wirksamkeit dieser Mittel beitragen können.
Wir nutzen diese Gelegenheit auch, um Ihnen dafür zu danken, dass Sie einmal mehr Ihre Bereitschaft gezeigt haben, energisch und enthusiastisch auf die Bedürf­nisse der Patienten zu reagieren. Gemeinsam können wir ihnen helfen, sich mit Bedacht zu entscheiden und sowohl medizinische Unter- als auch Überversorgung zu vermeiden.
Prof. Dr. med. Luca Gabutti
Dipartimento di Medicina interna
Ospedale Regionale di Bellinzona e Valli – Bellinzona
Ente Ospedaliero Cantonale
CH-6500 Bellinzona
luca.gabutti[at]eoc.ch
1 Levinson W, Kallewaard M, Bhatia RS, Wolfson D, Shortt S, Kerr EA. “Choosing Wisely”: a growing international campaign. BMJ Qual Saf. 2015;24(2):167–74.
6 Compton-Phillips A. Spreading at Scale: A Practical Leadership Model for Change, NEJM Catalyst 2020;1. 10.1056/CAT.19.1083.
7 Dunn LB, Nowrangi MA, Palmer BW, Jeste DV, Saks ER. Assessing decisional capacity for clinical research or treatment: a review of instruments. Am J Psychiatry. 2006;163(8):1323–34.