Reorganisation einer kantonalen Intensivmedizin unter Zeitdruck
Die Tessiner Erfahrung mit SARS-CoV-2

Reorganisation einer kantonalen Intensivmedizin unter Zeitdruck

Aktuell
Ausgabe
2020/2730
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08553
Swiss Med Forum. 2020;20(2730):404-406

Affiliations
Ente Ospedaliero Cantonale (EOC)
a Medicina intensiva, Ospedale Regionale di Lugano – Civico e Italiano; b Medicina intensiva, Ospedale Regionale di Locarno

Publiziert am 01.07.2020

Die Tessiner Erfahrung mit SARS-CoV-2.

Den Kanton reorganisieren

Nach den Epidemien SARS (2003) und H1N1 (2009) hatte das Tessiner Gesundheitssystem einen strategischen Plan entwickelt, um mit einem massiven Zustrom von Patientinnen und Patienten umzugehen, die eine invasive mechanische Beatmung (IMV) auf der Intensivmedizin (IM) benötigen. Angesichts des Ausbruchs von SARS-CoV-2 in China wurde der Stand der Vorbereitung dieses Systems im Januar 2020 unter Aufsicht der kantonalen Behörden neu bewertet. Die ersten epidemiologischen Modelle für das Tessin, basierend auf chinesischen Daten und den H1N1-Pandemie-Modellen, zeigten Spitzenwerte von 6 bis 8 intubierten Patienten pro Woche mit einer durchschnittlichen Beatmungsdauer von 14 Tagen als optimistische Schätzung bis hin zu 300 intubierten Patienten pro Woche mit einer noch längeren Beatmungsdauer als pessimistische Schätzung. Obwohl die ersten Daten aus der Lombardei uns erlaubten, diese Schätzungen zu verfeinern, wiesen die pessimistischen Prognosen immer noch auf potenziell unüberwindbare Spitzenwerte im Verhältnis zu den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen hin. Tatsächlich verfügt das Tessin über insgesamt 51 intensivmedizinische Betten (darunter 47 Beatmungsgeräte), die sich auf den öffentlichen Sektor (39 Plätze in 4 Spitälern) und den privaten Sektor (6 im Cardiocentro Ticino und 6 in der Clinica Luganese di Moncucco) verteilen.
Angesichts der grossen Unsicherheit über das Ausmass der Epidemiewelle hat der kantonale Krisenstab neben dem Aufbau von Reserven an Material, Beatmungs­geräten und Medikamenten eine Stufenstrategie entwickelt, um den Zustrom von Patienten mit COVID-19 auffangen zu können. Die ersten Patienten würden an einen der beiden Standorte des Spitals Lugano verlegt, wo ad hoc eine 6-Betten-IM-Einheit eingerichtet werden sollte. Bei Auslastung wäre das Regionalspital von Locarno der zweite Standort, an dem die intensivmedizinische Abteilung auf 14 Betten erweitert würde. Im Spital von Mendrisio war ein drittes Zentrum mit 7 Betten geplant, zu dem 25 weitere im privaten Sektor hinzukommen sollten, so dass der Kanton insgesamt 52 intensivmedizinische Plätze für COVID-19 zur Verfügung hätte.
Die Entwicklung in der Lombardei und das beunruhigende epidemische Profil im Tessin haben uns jedoch veranlasst, diese Strategie hin zu einer zentralisierten Lösung anzupassen, welche die Effizienz bei der Zu­teilung von Material und Personal optimierte. Dieses neue Projekt basierte auf der Schaffung eines Zentrums im Regionalspital von Locarno und eines weiteren in der Clinica Luganese di Moncucco, während gleichzeitig zusätzliche Intensivmedizin-Betten im Cardiocentro Ticino für COVID-19-Patienten eröffnet wurden, die spezifische technische Ausrüstung benötigen. Um dies zu erreichen, mussten die 6 Intensivmedizin-Betten in Mendrisio in 3 Überwachungsbetten und die 9 Betten in Bellinzona in 5 Dauerpflegebetten umgewandelt werden. Nicht-COVID-Patienten, die eine Intensivtherapie benötigen, wurden aufgrund ihrer jeweiligen Besonderheiten (hochspezialisierte Medizin und vollständige technische Ausrüstung) im Spital Lugano und im Cardiocentro Ticino zentralisiert, was zu einer Erhöhung der Bettenzahl in Lugano (von 16 auf 22) zusätzlich zu den bereits im Cardiocentro Ticino vorhandenen 6 Betten führte.
Um von den bestehenden 51 IM-Betten auf 135 Betten (28 Nicht-COVID-Betten und 107 COVID-Betten) aufstocken zu können, erwies sich die Menge der verfügbaren Beatmungsgräte als ein zweitrangiges Problem im Vergleich zu den Personalressourcen. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, mussten wir die kantonalen Ressourcen aus allen Spitälern und Diensten zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor sowie zwischen COVID- und Nicht-COVID-Zentren aufteilen. Dies war nur möglich dank dem Verzicht auf alle Wahleingriffe, dem Unterbruch der Ausbildung und der Fachschulen, der Streichung von Ferien, der Wiedereinstellung von Frischpensionierten und der künstlichen Vergrösserung von Kontigenten, indem die Anzahl Arbeitsstunden von 8 auf 12 Stunden erhöht wurde.

Ein Spital reorganisieren

Das Regionalspital von Locarno verfügte über eine Kapazität von 180 Abeilungsbetten und 8 Intensivmedizin-Betten mit 6 Beatmungsgeräten. Also verstärkten wir sofort das intensivmedizinische Kontingent, um 8 Beatmungsbetten vorzusehen bei gleichzeitiger Räumung der Strukturen. Zugleich sollte die schrittweise Bereitstellung materieller und personeller Ressourcen es ermöglichen, angesichts eines Zustroms von 15 bis 20 Patienten pro Tag alle 48 bis 72 Stunden 5 zusätzliche Betten einzurichten, wovon etwa 10% eine Verlegung in die Intensivmedizin benötigen würden.
Da sich die derzeitige Abteilung für Intensivmedizin in einem neuen Flügel des Spitals befindet, der 2014 eröffnet wurde, und die Infrastruktur der früheren intensivmedizinischen Räumlichkeiten intakt geblieben war, konnten wir die ersten 6 Betten innert 48 Stunden einrichten.
Die rasche Zunahme der Patientenzahl im Spital zwang uns jedoch, das Tempo weiter zu steigern. Da der Operationssaal auch für Patienten mit COVID-19 vorgesehen war (insgesamt werden in 2 Monaten 18 Operationen und 16 Eingriffe in Vollnarkose durchgeführt), haben wir den Aufwachraum in eine neue 5-Betten-Einheit umgebaut.
Der nächste Schritt war die Verlegung der Notaufnahme in provisorische Strukturen ausserhalb des ­Spitals, was 13 zusätzliche Betten verfügbar machte. Der Aufwand, all diese Räumlichkeiten in IM-Einheiten umzuwandeln, war von der Infrastruktur her relativ gering, da sie bereits über Überwachungssysteme und medizinische Gase verfügten.
Die letzte Etappe war viel schwieriger. Wir haben uns für eine Verlagerung der Kinderstation entschieden, weil einige der Räume bereits mit einem zentralen Überwachungssystem ausgestattet waren. Die technische Abteilung musste daher diesen neuen Bereich in Rekordzeit anpassen, was es uns schliesslich ermöglichte, 5 Pflegestationen mit insgesamt 45 IM-Betten mit voller Ausstattung und Personalressourcen zu erhalten.
Da diese Einheiten nahezu unabhängig arbeiten können mussten, wurden sie alle mit einem Gasometer und einem Ultraschallgerät ausgestattet.
Auf der Grundlage von Diskussionen zwischen Klinikern verschiedener Fachrichtungen, darunter Intensivmediziner und Pneumologen, die eine relativ lange Verweildauer und Beatmungsdauer (2 bis 3 Wochen) erwarten liessen, und um den Fluss der intensivmedizinischen Patienten zu beschleunigen, entstand die Idee, Betten für die Entwöhnung vom Beatmungsgerät (insgesamt 26 Betten, alle mit einem Überwachungssystem ausgestattet) nach der Tracheotomie einzurichten. Dies war eine effiziente Entscheidung, da diese Patienten im Durchschnitt etwa am 14. Tag nach der Intubation von einer Tracheotomie profitierten. Sie konnten dann schnell auf die Entwöhnungsstation verlegt werden (nach 12–24 Stunden), wo sie etwa 7 Tage lang beatmet werden mussten, bevor sie vollständig von der Beatmungsunterstützung entwöhnt werden konnten, und weitere 5–7 Tage, bevor sie von ihrer Tracheotomie befreit und auf eine normale Abteilung oder in die Rehabilitation verlegt werden konnten.

Die Arbeit reorganisieren

Die Aufstockung des Pflegekontingents hat es ermöglicht, den Bedarf für unsere 45 intensivmedizinischen Betten mit einer Aufteilung zwischen etwa 50% spezialisierter und 50% nicht spezialisierter Betreuung abzudecken. Auch wenn dieses Verhältnis in normalen Situationen akzeptabel sein mag, ergaben sich während dieser Krise Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem massiven Zustrom neuen Personals.
Viele hatten noch nie Kontakt mit einem intubierten Patienten gehabt, die meisten waren mit dem Spital nicht vertraut und fast alle fanden sich in neuen Räumlichkeiten wieder, deren Ergonomie mit oft unbekannten Geräten und Apparaten nicht immer optimal war. Um ein Mindestmass an Sicherheit und Qualität der Versorgung zu gewährleisten, musste bei der Planung ein Mindestverhältnis von einer Person mit Spezialausbildung zu 2–3 Nicht-Spezialisten (Anästhesie-, Notfall- oder Stationspflege) sichergestellt werden.
Bei den Äztinnen und Ärzten war das Problem ähnlich. Da die Zahl der Fachärzte für Intensivmedizin im Tessin relativ klein ist, haben wir eine pyramidenförmige Organisation auf drei Ebenen aufgebaut: (1) eine grosse Zahl von Assistenzärzten aus allen Abteilungen und Spitälern des Kantons, (2) Oberärzte von anderen intensivmedizinischen Abteilungen, Anästhesisten und einige Internisten mit guter Erfahrung im Intensivmedizin und (3) leitende Ärzte aus allen anderen Intensivmedizin-Abteilungen des Kantons.
Um ein Mindestmass an Kontrolle und Sicherheit zu gewährleisten, war es auch notwendig, die Versorgung sofort zu vereinheitlichen, indem Standardpflegeverfahren mit z.B. Protokollen für mechanische Beatmung oder Sedierung oder an COVID-19 angepasste Richtlinien für antithrombotische Prophylaxe eingeführt wurden.
Der massive und rasche Zustrom neuer Patienten, die spezifische technische Fertigkeiten wie Intubation, Anlegen von zentralvenösen Zugängen oder arteriellen Kathetern, eine kontinuierliche Nierenersatztherapie oder eine ventrale Beatmung benötigten, war eine echte Herausforderung. Dies lag nicht so sehr an der der Komplexität der Verfahren, sondern vielmehr an ihrer grossen Anzahl im Vergleich zur Anzahl von verfügbaren Personen mit den erforderlichen Fähigkeiten.
Aus diesem Grund haben wir uns für eine Outsourcing-basierte Organisation entschieden. Wir haben spezialisierte Teams gebildet: eines für die Aufnahme der Patienten, 4 für die Umlagerungen (bis zu 40 Patienten pro Tag), Nephrologen und Dialyseschwestern für die kontinuierliche Nierenersatztherapie, Radio­logen und Angiologen für das tägliche Screening tiefer Venenthrombosen, Infektiologen für die spezifische Behandlung von COVID-19 und anderer infektiöser Probleme und Hämatologen für die Antikoagulation.

Schlussfolgerung

Unabhängig davon, ob es sich um ein Spitalnetzwerk handelt oder nicht, ist ein zentralisiertes Ressourcenmanagement auf regionaler oder kantonaler Ebene notwendig, um die Anstrengungen zu koordinieren und gleichzeitig Raum für lokale Kreativität zu lassen. Die langjährige Erfahrung unseres an mehreren Standorten tätigen IM-Dienstes mit seinen Protokollen für die Betreuung, das Ausrüstungsmanagement und die gemeinsame Ausbildung haben sicherlich die zur erfolgreichen Bewältigung dieser beispiellosen epidemischen Krise notwendigen Massnahmen vereinfacht.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Marco Conti
Vice Primario
Reparto di Medicina
Intensiva
Ospedale Regionale di
Lugano, sede Civico
Via Tesserete 46
CH-6900 Lugano
marco.conti[at]eoc.ch