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Nachdem der erste Teil1 dieses Beitrags grundsätzliche Aspekte bezüglich ärztlicher Kontakte zu Menschen mit geistiger Behinderung beleuchtet hat, geht der zweite Teil nun speziell auf Situationen in Praxen und Spitälern ein.
Besonderheiten in der Arztpraxis
Patientinnen und Patienten mit einer geistigen Behinderung unterscheiden sich in der hausärztlichen Sprechstunde meist deutlich von der anderen Patientenschaft; wichtige Merkmale sind in der Tabelle 1 zusammengestellt. Gesundheitsvorsorge und präventive Beratung dürfen gerade auch bei diesen Patientinnen und Patienten nicht vernachlässigt werden (z.B. Vitamin D).
Tabelle 1: Merkmale von Patientinnen und Patienten mit einer geistigen Behinderung in der Hausarztsprechstunde. |
Patientinnen/Patienten mit einer deutlichen geistigen Behinderung in der Arztpraxis: |
Kommen nicht alleine |
Kommen gehäuft als Notfall |
Verstehen vielleicht die Situation nicht |
Können oft Fragen nicht beantworten |
Beantworten Fragen zuweilen stereotyp |
Geben uns selber keinen Auftrag |
Sind manchmal misstrauisch |
Haben evtl. Angst |
Ort und Personal sind ihnen unvertraut |
Haben häufig keine klaren oder aber atypische Symptome |
Haben manchmal ein anderes Schmerz- und Berührungsempfinden |
Zeigen evtl. nur Verhaltensveränderungen |
Wehren sich manchmal gegen Untersuchungen |
Können zum Teil nicht kooperieren |
Anamnese bleibt oft lückenhaft |
Körperliche Untersuchungen können nicht vollständig durchgeführt werden |
Beobachtungen von Drittpersonen (Eltern, Betreuer) sind oft unentbehrlich |
Kommen teils gegen ihren Willen |
Gehäuft ist ein Haus- respektive Heimbesuch notwendig oder sinnvoll |
Benötigen mehr Sprechstundenzeit |
Sinnvollerweise wird bei der Sprechstundenorganisation beachtet, dass Wartezeiten – insbesondere in einem vollen Wartezimmer – vermieden werden und Begleitpersonen mitkommen können, die gut Bescheid wissen. Für Hausärztinnen und -ärzte sehr empfehlenswert ist ein Netz von geeigneten Fachärztinnen und -ärzten verschiedener medizinischer Disziplinen inklusive der Zahnmedizin (wenn möglich mit der Möglichkeit einer ambulanten Narkose); zudem Orthopädistinnen/Orthopädisten, sicher aber auch Fachpersonen für Physiotherapie und Logopädie, mit welchen interdisziplinär interaktiv gut zusammengearbeitet werden kann. Transparente und aktive Kommunikation unter allen Beteiligten ist dabei ganz wichtig.
Die fortschreitenden Spezialisierungen und Differenzierungen in der Medizin sollen auch Menschen mit geistiger Behinderung zugutekommen (z.B. Wundpflege durch spezialisierte Spitexangestellte; professionelle Behandlung von chronischen Schmerzzuständen).
Manche Hausärztinnen und -ärzte und auch vereinzelte Spezialisten haben eine Versorgungsfunktion für ein oder mehrere Wohnheime übernommen. Auf Seite der Institution ist eine kompetente Fachperson als zentrale Kontaktstelle sehr wünschenswert, die Arztvisiten strukturiert, den Informationsfluss sicherstellt, Dokumentationen erstellt, die Ausführung von Verordnungen überwacht etc. Für Arztvisiten sind Setting-Fragen (wer ist dabei) zu klären. Zu beachten ist zudem, dass Wohnheime oft recht begrenzt über Ressourcen für pflegerische Massnahmen verfügen (z.B. keine Überwachung nachts). Ein regelmässiger Gedankenaustausch mit den Institutionsleitungen fördert gegenseitiges Vertrauen, hilft dabei, Fehlerquellen, Meinungsverschiedenheiten oder Missverständnisse zu klären und erleichtert die Durchführung von prophylaktischen Massnahmen beispielsweise bei Epidemien.
Stationäre Behandlung und Rehabilitation
Hospitalisationen sind für Patientinnen und Patienten mit einer geistigen Behinderung und insbesondere bei Autismus eine ganz grosse Herausforderung, da so vieles unvertraut und unverständlich ist. Spitäler sind jedoch sehr oft nicht speziell auf Menschen mit Behinderungen vorbereitet und geraten dann in Diagnostik, Behandlung und Pflege an Grenzen. Zusätzliche personelle Ressourcen für vermehrten Zeitaufwand stehen meist nicht zur Verfügung und können auch durch Angehörige oder Betreuungspersonen der Wohnheime nicht immer organisiert werden. Aus Deutschland kamen nach Einführung der «Diagnosis Related Groups» (DRG) alarmierende Meldungen über zu frühe («blutige») Entlassungen, die auch in der Schweiz Befürchtungen auslösten. Über ungünstige Auswirkungen der DRG auf Menschen mit Behinderungen in der Schweiz ist den Autoren jedoch nichts bekannt.
Spitälern unbedingt zu empfehlen ist die Bezeichnung einer Person, wahrscheinlich am besten aus der Pflegeleitung, als Ansprechperson und Koordinationsstelle bei Hospitalisationen von Menschen mit irgendeiner Behinderung. Umgebungspersonen sollten zusammen mit den ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten eine laufend aktualisierte Informationsmappe bereithalten, die insbesondere auch in Notfallsituationen mitgegeben werden kann. Ein ausgiebiger Informations- und Koordinationsaustausch gehört selbstverständlich ebenfalls zur Vorbereitung einer geplanten Hospitalisation; ebenso bedarf der Austritt einer frühzeitigen Planung insbesondere der Nachbehandlung. Dazu gehört die Frage der vorhandenen pflegerischen Kompetenzen in der Umgebung der Patientin / des Patienten, die zuweilen überschätzt werden, aber durch den Beizug der Spitex ergänzbar sind.
Hilfreiche Hinweise für einen Spitalaufenthalt finden sich in den in den Literaturangaben erwähnten Broschüren; auch listet Tabelle 2 einige zu beachtende Aspekte auf.
Tabelle 2: Hinweise zu einem Spitalaufenthalt. | |
Vorbereitung | Koordinierende Person im Spital |
Koordinierende Person der Patientin / des Patienten | |
Information der Patientin / des Patienten und der Umgebung über das Vorgehen | |
Evtl. Besichtigung des Spitals | |
Besprechung der Möglichkeiten und Erwartungen | |
Dokumentation über die Patientin / den Patienten*: – Anamnese und Befunde – Kommunikationsmöglichkeiten – Urteilsfähigkeit – Besonderheiten der Betreuung und Pflege – Ängste, Phobien – Patientenverfügung – Gesetzlicher Vertreter, wichtige Bezugspersonen – Hinweise für lebensbedrohliche Situationen | |
Aufenthalt | Abgekürztes Aufnahmeprozedere (möglichst bald im Zimmer mit einer Beschäftigung) |
Vermeidung unklarer Wartesituationen | |
Möglichst wenig Personalwechsel in Behandlung und Pflege | |
Gezielter Einbezug von Bezugspersonen für anspruchsvolle Situationen | |
Alle Handlungen vorher genau erklären, allenfalls mit Bild oder an Puppe | |
Notwendige Berührungen immer auf Vorankündigung | |
Rooming-in für Angehörige | |
Frühe Planung der Nachbehandlung | |
Entlassung | Vor Austritt ausführliche Besprechung mit den Bezugspersonen und schriftlichem Übergabe-Rapport** |
Allgemein | Erhöhung der Kompetenz des Spitals für Menschen mit Behinderungen – speziell auch bezüglich unterstützter Kommunikation – Erarbeitung gut verständlicher, bebilderter Informationsblätter |
* vgl. Checkliste in der Broschüre «Menschen mit Behinderung im Krankenhaus» (s. Literaturangaben unter «Spitalaufenthalt») ** unter Beachtung des Berufsgeheimnisses |
Immer häufiger sind Eingriffe heute jedoch, wenn gut geplant und in der Nachsorge adäquat organisiert, ambulant durchführbar. Dies gilt auch für die Rehabilitation nach operativen Eingriffen oder schweren Erkrankungen. Ein Aufenthalt in einer der üblichen Rehabilitationseinrichtungen ist meist wegen mangelnder Kommunikationsfähigkeit der Patientin / des Patienten, erhöhten Betreuungsbedarfs (allenfalls 24 Stunden) oder allzu schwierigen Sichzurechtfindens in einer fremden Umgebung nicht sinnvoll. In der Regel kann ein adäquates Programm mit qualifiziertem Spitex-Personal, Physiotherapie und weiteren Fachkräften (Logopädie, Ergotherapie u.a.) gut organisiert werden, sodass die Patientinnen und Patienten rasch wieder in ihre vertraute Umgebung zurückkehren können. Eine vorherige Klärung mit der Krankenkasse ist empfehlenswert.
Psychische Störungen von Menschen mit geistiger Behinderung sollen wenn möglich vorzugsweise vor Ort unter Beizug von externen Fachpersonen (evtl. «flying teams») oder allenfalls in speziellen Wohngruppen für besondere Bedürfnisse begleitet und behandelt werden; nur wenige psychiatrische Kliniken verfügen bis jetzt über spezielle Konzepte für diese Patientengruppe.
Weitere Herausforderungen
Die Ansprüche an die medizinische Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung sind zu Recht deutlich grösser geworden. Zum einen haben die betroffenen Menschen selber begonnen, sich zu artikulieren, und gar Selbsthilfegruppen gebildet. Als Beispiel mag der von einer Gruppe aus Rorschach verfasste Flyer dienen (vgl. Literaturangaben).
Zum anderen sind Angehörige und Betreuungspersonen über Elternvereinigungen, Selbsthilfegruppen oder Internet heute sehr viel besser über medizinische Fortschritte informiert und fordern deren Errungenschaften zum Beispiel bei seltenen Syndromen ein. Das verlangt aber auch von uns Ärztinnen und Ärzten, uns in diesen Fragen entsprechend fortzubilden. Weil sich betroffene Familien oft mit Fragen der Schuld auseinandersetzen, aber sich manchmal auch für ihr Schicksal schämen, ist eine sachte Begleitung (keine Zuweisung zum Psychiater!) zur Überwindung der schockartigen Erfahrung durch das Gewahrwerden einer schweren Behinderung oder einer schweren erworbenen Hirnschädigung eine vornehme ärztliche Aufgabe. Im weiteren Verlauf werden Familien mit voll pflegebedürftigen Patientinnen und Patienten oder einem verhaltensschwierigen Menschen mit Autismus leider immer noch allzu oft bis zur Überforderung sich selber überlassen; Heimaufenthalte sind einfacher finanzier- und organisierbar als eine differenzierte Betreuung im familiären Rahmen.
Eine besondere, nur gemeinsam mit Angehörigen und Institutionen angehbare Herausforderung ist das Vermitteln von lebensbejahenden Langzeitperspektiven für die jungen Menschen, die sich ihrer eingeschränkten Möglichkeiten in der Lebensgestaltung im Vergleich zum Beispiel zu den Geschwistern schmerzlich und oft krisenhaft bewusst werden.
Da gerade auch schwer behinderte Menschen, etwa mit Down-Syndrom oder Zerebralparesen, gegenüber früher eine deutlich höhere Lebenserwartung haben, gewinnen prophylaktische Überlegungen an Bedeutung, zum Beispiel bezüglich demenzieller Entwicklung, aber auch der Folgen von häufigem Bewegungsmangel oder von allzu oft verordneten Neuroleptika. Es mangelt oft an geistiger und körperlicher Aktivierung; nicht selten bildet sich in relativ frühem Alter eine Multimorbidität aus.
Blick in die Zukunft
Immer mehr Behinderungen werden als genetische Besonderheiten erkannt und den seltenen Erkrankungen zugeordnet. Allerdings bleibt die Ätiologie der Behinderung auch heute noch bei vielen Kindern ungeklärt, bei den heute Erwachsenen wohl bei etwa 80%.
Die Anzahl seltener Syndrome ist unüberschaubar geworden. Genetische Abklärungen werden von den Krankenkassen oft nicht finanziert; massgebend sind die in der Analysenliste (AL) des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) in den einleitenden Bemerkungen festgehaltenen Kriterien.
Diese Vervielfachung des Wissens und die gestiegenen Anforderungen machen wohl sehr bald Kompetenzzentren für erwachsene Personen wie die nun in Deutschland zahlreich entstehenden medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) notwendig (im Kinderbereich haben grössere Kinderspitäler diese Funktion, die aber durch den Spardruck akut gefährdet sein könnte). Fragen der Transition der kompetent betreuten Kinder zu Ärztinnen und Ärzten in der Erwachsenenmedizin gewinnen stark an Bedeutung, doch fehlt es hier einstweilen an adäquaten Angeboten. Mit dem Wechsel der Institution enden für Menschen mit Behinderungen nicht nur ihnen wichtige Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Betreuungspersonen und Ärztinnen respektive Ärzten allzuoft abrupt, sondern es geht leider auch viel an Wissen und Erfahrung in der Behandlung, Betreuung und Pflege verloren.
Seit 2007 besteht in der Schweiz übrigens eine Arbeitsgemeinschaft von Ärztinnen und Ärzten, früher unter Bezeichnung «Schweizerische Arbeitsgemeinschaft von Ärzten für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung» (SAGB/ASHM); heute nennt sie sich «Schweizerische Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen» (SGGIE/SSSDI/SSHID) (www.sshid.ch).
In Deutschland wird zudem für Ärztinnen und Ärzte eine Fortbildung «Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung» angeboten (www.dgmgb.de).
Das Wichtigste für die Praxis
• Eine zeitgemässe Behindertenmedizin soll gleichwertig, behinderten- und bedürfnisgerecht angeboten werden.
• Ärztinnen und Ärzte, die Menschen mit geistiger oder Mehrfachbehinderung in Krisen betreuen und behandeln, stellen sich auf einen erhöhten Zeitbedarf für jede Intervention, insbesondere auch für eine sorgfältige Diagnostik ein. Dies bedingt auch eine adäquate Abbildung in den Tarifsystemen.
• Auf somatische Abklärungen soll nicht vorschnell wegen des erhöhten Aufwandes verzichtet werden.
• Die interprofessionelle Zusammenarbeit mit dem Umfeld der Patientin / des Patienten und dessen Einbezug sind unentbehrlich.
• Die Indikation für Behandlungen mit Psychopharmaka ist zurückhaltend zu stellen.
• Menschen mit Behinderungen zu betreuen ist letztlich eine sehr dankbare Aufgabe.
Etliche dieser Gedanken wurden vom Erstautor schon in einem Artikel 2007 (Schweiz Ärzteztg. 2007;88(30):1260–3) und in einem Buchbeitrag 2015 (Paltzer A, Liebster B, Wyss H [Hrsg.]. Danke, ich esse keine Suppe Perspektiven der Behindertenarbeit. 1. Auflage. Zürich; Edition Stephan Witschi; 2015; ISBN 978-3-906191-03-4) geäussert.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Kopfbild: © David Herraez | Dreamstime.com
Dr. med. Felix Brem
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
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