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Praxisrelevant
Requiem auf Müdigkeit bei Eisenmangel ohne Anämie?
Die klinische Relevanz und Symptomatologie eines Eisenmangels ohne Anämie (in der Literatur zu finden unter «non-anemic iron deficiency» [NAID]) ist umstritten. Müdigkeit, eingeschränkte Lebensqualität, eingeschränkte Arbeitsleistung, kognitive Einschränkungen, Stimmungsschwankungen, sogenannte «restless legs» sowie bizarre Nahrungspräferenzen (sog. Pica) werden als Folgen inkriminiert.
In einer methodisch ausgezeichnet konzipierten Studie (aus Schweizer Feder) wurden gesunde, regelmässig Blut spendende Individuen mit Eisenmangel ohne Anämie prospektiv, doppelblind und plazebokontrolliert mit Eisencarboxymaltose (800 mg per infusionem) behandelt. Je mehr als gut 200 etwa 42-jährige Patient(inn)en (46% Frauen) waren der experimentellen oder der Plazebogruppe zugeteilt. Die initiale mittlere Hämoglobinkonzentration hatte bei Männern gut 14 g/dl, bei Frauen etwa 12,5 g/dl betragen, während die mittlere Ferritinkonzentration zu Beginn bei 18 μg/l gelegen hatte. Nach 6–8 Wochen waren die Ferritinwerte in der Eiseninfusionsgruppe deutlich und hoch signifikant auf etwa 143 μg/l (Plazebogruppe etwa 29 μg/l) angestiegen. In beiden Gruppen blieb die subjektiv erfasste Müdigkeit gleich (primärer Endpunkt), ebenso wie eine Reihe von Messgrössen (Scores) für die Lebensqualität.
«Müdigkeit» kann also nicht dem Eisenmangel per se angelastet werden und Eisentherapien mit dieser isolierten Indikation allein haben im Lichte dieser Studie keine rationale Basis. Die Klärung der Symptomatologie des Eisenmangels ohne Anämie in anderen Populationen wäre wichtig und eine ideale Fragestellung für die Hausarztmedizin.
Ausbrüche in Altersinstitutionen nehmen anscheinend wieder zu und sind mit hoher Mortalität (etwa ein Drittel der symptomatischen Fälle) belastet.
Die vorliegende Arbeit erinnert wieder mit eindrücklichen Zahlen daran, dass eine symptombasierte, oder besser, auf Symptome limitierte Teststrategie, wie sie in der Schweiz implementiert ist, nie und nimmer für eine adäquate Kontrolle von COVID-19-Ausbrüchen genügt.
Im April 2020 wurden in sechs britischen Altersheimen die Bewohner/innen und Betreuenden systematisch monitorisiert. 40% (152) der 264 Bewohner/innen waren SARS-CoV-2-positiv, nur jede/r Vierte davon war symptomatisch und jede/r Dritte entweder prä- oder postsymptomatisch. Die verbliebenen SARS-CoV-2-positiven Bewohner/innen (immerhin fast 40%) blieben andauernd asymptomatisch! Ein Fünftel der Angestellten war ebenfalls SARS-CoV-2-positiv getestet worden, die Hälfte davon asymptomatisch. Die Vermehrungszyklen in der RT-PCR, die notwendig waren, um die Virus-RNA nachzuweisen, und die Nachweise von lebenden Viren waren nicht unterschiedlich, ob die Bewohner/innen und Betreuenden symptomatisch waren oder nicht.
Mit anderen Worten verpasst eine symptomlimitierte Strategie eine grosse Zahl potentiell infektiöser Individuen und somit ein wichtiges potentielles Reservoir für eine Propagation eines Ausbruchs.
Mitte Januar 2020 reisten buddhistische Gläubige (knapp 59 Jahre, 88% Frauen), die in Ningbo (700 km östlich von Wuhan) leben, in zwei verschiedenen Bussen zu einer religiösen Veranstaltung. In einem der Busse sass ein präsymptomatischer Patient, der am Tag nach der Rückkehr an COVID-19 erkrankte. Keiner der Reisenden in beiden Bussen trug eine Maske. Die Reisezeit im Bus, dessen Ventilationssystem Luft rezyklierte (also keine Aussenluft zum Austausch benutzte), betrug 100 Minuten (Hin- und Rückfahrt zusammen), während der im Freien bei Temperaturen um 0 °Celsius abgehaltene Anlass 150 Minuten dauerte. Im Bus mit dem präsymptomatischen COVID-19-Patienten infizierte sich ein Drittel der Mitreisenden (24 von 68 Individuen), während sich im anderen Bus niemand anstecke – ein gutes Argument für die Ansicht, dass sich die Infektion im Bus, und nicht beim Anlass selbst ereignete.
Transportmittel (und wohl auch Mehrpersonen-Arbeitsplätze) mit Verwendung rezyklierter Luft können also lokale Ausbrüche begünstigen. Masken und natürliches Lüften auch in der kalten Jahreszeit sind folglich wichtig. Laut den SBB sind ihre Züge mit Aussenluft ventiliert und der Luftaustausch soll – etwas in Abhängigkeit der Passagierzahl – etwa alle 4–8 Minuten erfolgen.
Verfasst am 13.09.2020 auf Hinweis von Dr. P. Marko (St. Gallen).
Neues aus der Biologie
SARS-CoV-2-Mutanten und Infektiosität
Das sogenannte «spike»-(S-)Protein von SARS-CoV-2 bindet an das «angiotensin-converting enzyme»-(ACE-)2-Molekül, wodurch das Virus in den Wirt gelan-gen kann.
100 verschiedene Mutationen im S-Protein (RNA-Viren weisen im Vergleich zu DNA-Viren eine sehr hohe Mutationsrate auf) wurden in Bezug auf die Infektiosität des Virus in vitro analysiert. Die im Verlaufe der Pandemie erfolgte Mutation der 614. Aminosäure von Asparaginsäure (D) zu Glycin (G) ist heute dominant (D614G) und erhöht die Infektiosität, ist also aggressiver, allein und in Kombination mit anderen Mutationen. Mutanten, die im Bereich der Rezeptorbindungsstelle weniger glykosiert sind (also weniger Glukose gebunden haben), sind andererseits deutlich weniger infektiös. Die Arbeit identifizierte auch Mutanten, die die Viren resistent auf monoklonale Anti-SARS-CoV-2-Antikörper machte.
Wichtige Informationen für die Antikörper- und Vakzineentwicklung.
Kausale Therapie der hypertrophen obstruktiven Kardiomyopathie (HOCM)
Die Therapie dieser Erkrankung beschränkte sich bisher auf eher symptomatische Interventionen mit Beta-Blockern, auf interventionelle Myektomien oder lokale Alkoholinstillationen. Mavacamten ist ein Hemmer der Myosin-ATPase und kann in dieser Eigenschaft die pathologisch gesteigerte Myosin-Aktin-Interaktionen und damit die Hyperkontraktilität (siehe «Fokus auf ...») des linken Ventrikels reduzieren.
In einer multizentrischen Studie wurden 251 von 429 evaluierten Patient(inn)en (Druckgradient im Ausflusstrakt ≥50 mm Hg und Herzinsuffizienz NYHA II oder III) randomisiert, doppelblind und plazebokontrolliert mit Mavacamten behandelt. Nach 30 Behandlungswochen wiesen die mit Mavacamten Behandelten eine signifikante Abnahme des Ausflusstrakt-Druckgradienten (minus 36 mm Hg [!], gemessen nach Belastung), eine stark verbesserte Sauerstoffaufnahme, Verbesserungen der Herzinsuffizienzsymptome sowie der subjektiven Belastbarkeit auf.
Eine wichtige, lange erwartete Studie, die den Weg in eine kausal fundierte Therapie der HOCM ebnet!
Arbeitsbezogene sexuelle Belästigung und Suizidalität
Laut dieser schwedischen, prospektiven Kohortenstudie mit einer mittleren Nachbeobachtung von 13 Jahren erhöhte eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oder anderweitig im Zusammenhang mit der Arbeit das Suizidalitätsrisiko signifikant (Risikoerhöhung von 2,8 für Suizide und von 1,6 für Suizidversuche). Dabei gab es keinen Unterschied dieser Risiken zwischen Männern und Frauen, obwohl letztere in der Mehrzahl waren [1].
Das lesenswerte Editorial listet neben anderen die sichere Verhinderung von sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz als Teil der Suizidprävention [2].
Aus Anlass der eben erfolgten Verleihung des «Breakthrough Prize in Life Sciences» an Catherine Dulac (3 Mio. US-Dollar [1]) sei an eine ihrer Arbeiten erinnert: Sogenannte Galanin exprimierende Neurone in präoptischen Hirnarealen werden bei der Nachwuchsbetreuung wie auch nach erfolgter Fortpflanzung aktiviert und fördern die elterliche Fürsorge. Werden diese Neurone genetisch inaktiviert, ist das Resultat eine Rabenmutter oder ein Rabenvater. Werden diese Neurone in jungfräulichen männlichen Mäusen (die typischerweise fremden Nachwuchs attackieren) ausgeschaltet, wandeln diese sich zu guten, wenn auch «Pseudo»-Vätern [2].
Könnte und dürfte man das modulieren, wäre vielleicht ein grosser Schritt zu sozialeren und besseren Strukturen nicht nur im Elternhaus, sondern in der ganzen Gesellschaft möglich ...
Schwerere Vergiftungen mit Salmiakgeist bei Substanzabusus
Das Schweizerische Tox-Zentrum (Tox Info Suisse) hat zwischen 1997 und 2019 Rat bei Salmiakgeist-Vergiftungen (*wässriges Ammoniak oder «Ammoniakwasser», NH3) von 116 Erwachsenen und 18 Kindern gegeben. Der Schweregrad der Intoxikation mit dieser kaustisch wirkenden Substanz korrelierte mit dem Vorliegen eines Substanzabusus beim Opfer, wobei kognitive Fehlurteile, olfaktorische Hyposensibilität und verminderte Schmerzperzeption unter dem Substanzkonsum eine Rolle spielen könnten. Die Intoxikationen betreffen insbesondere Kokainkonsumenten, die Salmiakgeist (das dann vorrätig bei ihnen ist) zur Freisetzung der freien Kokainbase verwenden.
* NH3 in Wasser führt zur folgenden Gleichgewichtsreaktion: NH3 + H2O → NH4+ + OH–, Salmiakgeist ist also stark basisch oder protonenbindend (NH3 und OH–). Unter Salmiak versteht man dann Ammoniumchlorid (NH4Cl, Hauptmolekül der renalen Säureausscheidung). Bei der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 04.08.2020 handelte es sich um Ammoniumnitrat (NH4NO3).
Eine aktuelle Übersicht über Inoxikationen mit kaustischen Substanzen allgemein erschien ebenfalls im New England Journal of Medicine 2020, doi.org/10.1056/NEJMra1810769.
Verfasst am 15.09.2020.
Auch noch aufgefallen
Weniger orthostatische Hypotonien bei intensiver Blutdruckeinstellung?
Schwer zu glauben, wenn auch kurz und bündig eine gewisse Vorliebe für ikonoklastische Publikationen zugegeben wird. Eine Metaanalyse will finden, dass – kontraintuitiv – orthostatische Hypotonien bei hypertensiven Patient(inn)en mit intensiverer Blutdruckeinstellung seltener sind. Selbstverständlich ist eine Adaptation der Autoregulation des zerebralen Blutflusses nach längerer guter Blutdruckeinstellung möglich, aber diese Befunde widersprechen zumindest den besten prospektiven Studien zum Thema. Die Orthostasewerte wurden im Sitzen gemessen, einer Körperposition, in der eine Orthostase erfahrungsgemäss nur bei Zusatzfaktoren (postprandial nach üppigem Essen, Volumenmangel etc.) auftritt.
Enttäuschende Wirkung intestinaler Phosphatbinder bei chronischer Niereninsuffizienz
Obwohl generell verschrieben und Bestandteil wohl aller fachlicher Guidelines war die Evidenz für einen Nutzen der intestinalen Phosphatbinder schon bislang sehr dünn.
In der multinationalen Improve-CKD-Studie wurde der Effekt des nicht kalziumhaltigen Phosphatbinders Lanthanum (3× 500 mg p.o.) plazebokontrolliert auf den Phosphatmetabolismus und Surrogatendpunkte der vaskulären Phosphattoxizität (Aortenklappenverkalkung, Gefässsteifigkeit durch Messung der Pulswellengeschwindigkeit) untersucht. Nach zwei Jahren Therapie (knapp je 140 Patient[inn]en in beiden Gruppen, eGFR zu Beginn etwa 26 ml/min, Durchschnittsalter 63 Jahre) waren weder die Parameter des Phosphatstoffwechsels (Plasma- und Urinphosphatwerte, FGF-23 und Parathormon) noch die genannten Parameter anders als in der Plazebogruppe.
Während die gewählten vaskulären Endpunkte zur Diskussion Anlass geben können, scheint es mit den gegenwärtigen Medikamenten definitiv sehr schwie-rig, nachhaltig den Phosphatstoffwechsel zu beeinflussen. Wie gut wirken wohl die neuen eisenhaltigen Phosphatbinder, wenn in ähnlichem Rahmen getestet?
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