Multiresistente Tuberkulose
Mit der raschen Entwicklung Schritt halten

Multiresistente Tuberkulose

Übersichtsartikel
Ausgabe
2020/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08617
Swiss Med Forum. 2020;20(5152):771-775

Affiliations
a Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene, UniversitätsSpital Zürich; b Departement Public Health, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, Universität Zürich; c Institut für Infektionskrankheiten, Universität Bern; d Lungenzentrum, Pneumologie und Schlafmedizin, Kantonsspital St. Gallen; Kompetenzzentrum Tuberkulose, Lungenliga Schweiz; f Klinik für Pneumologie, Universitätsspital Bern; g University of Namibia, School of Medicine, Windhoek, Namibia

Publiziert am 15.12.2020

In diesem Artikel sollen Neuigkeiten in Epidemiologie, Diagnostik und Therapie der multiresistenten Tuberkulose seit den im Swiss Medical Forum 2015 und 2018 publizierten Übersichtsartikeln erläutert werden.

Einleitung

Die Anzahl neuer Tuberkulose-(TB-)Erkrankungen ist weltweit rückläufig. Demgegenüber steht jedoch die globale Zunahme von Infektionen mit multiresistenten Stämmen. Diese Entwicklung widerspiegelt den weltweiten Anstieg an Resistenzen gegenüber Antiinfektiva, wie dies beispielsweise bei gramnegativen Bakterien, HIV oder Malaria der Fall ist, und stellt die Gesundheitssysteme vor mannigfaltige Herausforderungen. Die Brisanz wird unterstrichen durch neue epidemiologische Modelle, limitierte Behandlungs­optionen und den gesteigerten Effort, neue Therapie­regimes zu entwickeln. 2019 wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) neue Guidelines zur Behandlung der multiresistenten TB vorgestellt, die erstmals ein rein orales Regime erlauben, das unter Anwendung neuer TB-Medikamente zu einer geringeren Mortalität und Toxizität führt.
In diesem Artikel möchten wir Neuigkeiten in Epidemiologie, Diagnostik und Therapie der multiresistenten TB seit den im Swiss Medical Forum publiziertenÜbersichtsartikeln von Schmiedel et al. (2015) [1] und Schoch (2018) [2] erläutern.

Epidemiologie

Im Jahre 2018 erkrankten weltweit 10 Millionen Menschen an einer TB. Geschätzt waren davon knapp eine halbe Million Patienten mit einem Mycobacterium-(M.-)tuberculosis-Stamm infiziert, der gegenüber Isoniazid und Rifampicin resistent ist («multidrug-resistant tuberculosis» [MDR-TB]). Global wiesen 3,4% der neu infizierten TB-Patienten und 18% der bereits vorbehandelten Patienten dieses Resistenzmuster auf [3]. Die ­Infektion mit resistenten Stämmen von M. tuberculosis ist mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert. Weltweit werden nur 56% aller MDR-TB-Patienten erfolgreich behandelt. Für Patienten mit einem ­TB-Stamm, der zusätzlich eine Resistenz gegenüber Fluorchinolonen (z.B. Moxifloxacin) und Aminoglykosiden aufweist, die «extensively drug-resistant tuberculosis» (XDR-TB), ist die Therapieerfolgsrate mit knapp 40% noch deutlich tiefer und entspricht beinahe dem Behandlungsergebnis zu Zeiten vor Entdeckung der antiinfektiven Therapie. Die Gründe der weiterhin hohen Morbidität und Mortalität sind ­divers. Einerseits hat nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung Zugang zu einer adäquaten Diagnostik und Therapie. Aktuell werden global ca. 25% aller MDR- und XDR-TB-Patienten überhaupt diagnostiziert und medikamentös behandelt. Andererseits sind die indizierten Medikamente mit sehr hohen Toxizitäten assoziiert, was zu vielen Nebenwirkungen wie auch häufigen Therapieunterbrechungen und -abbrüchen führt. Die lange Therapie­dauer von bis zu zwei Jahren und die hohe Anzahl nötiger Medikamente zur effektiven Kombinationsbehandlung tragen oft zu mangelhafter Therapieadhärenz bei.
Epidemiologischen Einschätzungen zufolge gefährdet die Zunahme resistenter Stämme den Erfolg von TB-Kontrollprogrammen und die MDR-TB wird als relevante Gefahr für die öffentliche Gesundheit angesehen [4]. Neue Modelle unterstützen diese Einschätzung. Sharma et al. haben berechnet, dass bis 2040 mit einer weiteren Zunahme an MDR-TB- und XDR-TB-Fällen in allen untersuchten Ländern zu rechnen ist [5].
Heute stammt rund die Hälfte aller MDR-TB-Patienten aus Indien, China und Russland. Aufgrund der unterschiedlichen TB-Inzidenz in diesen Ländern variiert der prozentuale Anteil an resistenten TB-Stämmen deutlich. Beispielsweise sind in Russland bereits 32% aller neu diagnostizierten TB-Patienten mit MDR-TB-Stämmen infiziert, in Indien nur 2,9 % (Abb. 1) [3].
Abbildung 1: Geschätzte MDR-TB-Inzidenzen im Jahr 2018 für Länder mit mindestens 1000 Fällen/Jahr (Quelle [3]: Global tuberculosis report 2019. Geneva: World Health ­Organization; 2019; p. 60. https://www.who.int/tb/publications/global_report/en/. © World Health Organization, 2020; License: CC BY-NC-SA 3.0 IGO [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/igo]). MDR-TB: «multidrug-resistant tuberculosis».
In Europa wird der grösste Anteil an MDR-TB in Osteuropa diagnostiziert. So wurden zum Beispiel 2018 in der Europäischen Union (EU) knapp 1800 Fälle festgestellt, wohingegen in den östlichen Nachbarstaaten 77 000 Fälle detektiert wurden (Abb. 2).
Abbildung 2: Prozentualer MDR-TB-Anteil aller gemeldeten Tuberkulosefälle in der ­europäischen WHO-Region im Jahr 2018 (Quelle [27]: European Centre for Disease ­Prevention and Control/WHO Regional Office for Europe. Tuberculosis surveillance and monitoring in Europe 2020–2018 data. 2020; p.25. doi:10.2900/0737073. © European ­Centre for Disease Prevention and Control, 2020; © World Health Organization, 2020; Licen­se: CC BY-NC-SA 3.0 IGO license https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/igo). MDR-TB: «multidrug-resistant tuberculosis».
Bis heute ist die Anzahl MDR-TB-Patienten in der Schweiz relativ gering: In den letzten 25 Jahren wurden gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) jährlich zwischen 4–20 Patienten mit einer MDR-TB diagnostiziert, was 1–3% aller laborbestätigten TB-Fälle mit Resistenzbestimmung für Isoniazid und Rifampicin entspricht (Abb. 3) [6].
Abbildung 3: MDR-TB-Fälle der Schweiz von 1995–2019. MDR-TB: «multidrug-resistant tuberculosis».
Bemerkenswert ist ein Cluster von Migranten vom Horn von Afrika. Bis November 2018 wurden in verschiedenen europäischen Ländern 40 Patienten mit einem ­seltenen MDR-TB-Resistenzmuster diagnostiziert. In den mikrobiologischen Isolaten dieser Patienten konnten neben Resistenzen gegenüber Rifampicin und Isoniazid zusätzlich Resistenzen gegenüber weiteren Erst- und Zweitlinienmedikamenten nachgewiesen werden (Pyrazinamid, Ethambutol, Capreomycin). Diesen Patienten gemeinsam ist die Herkunft vom Horn von Afrika oder aus dem Sudan. Nachdem Mikrobiologen in der Schweiz und Deutschland auf das Resistenzmuster aufmerksam wurden, folgten gemeinsam mit dem «European Centre for Disease Prevention and Control» (ECDC) durchgeführte molekularepidemiologische Untersuchungen. Aufgrund der genetischen Verwandtschaft ist eine kürzlich zurückliegende Ansteckung wahrscheinlich. Der Vergleich mit früheren Stämmen vom Horn von Afrika lässt eine Ansteckung des Indexpatienten im Norden Somalias respektive in Djibouti vermuten. Nach Befragung der infizierten Patienten liegt der Schluss nahe, dass die Ansteckung mit dem resistenten Mykobakterienstamm möglicherweise in einem Flüchtlingscamp in Libyen stattgefunden hat. Die befragten Patienten waren mehrheitlich zeitlich überlappend in Bani Walid – einem Flüchtlingslager, das für seine unzureichenden medizinischen und hygienischen Bedingungen bekannt ist. Auch wenn die Anzahl Patienten, die diesem Cluster entsprechen, bereits rückläufig ist, so ist aufgrund der langen Latenzzeit der Erkrankung in Zukunft mit weiteren Fällen zu rechnen und die Kenntnis dieses Clusters muss bei der Diagnosestellung einer TB miteinbezogen werden [7].
Dem Dogma, dass Resistenzen hauptsächlich durch eine vorgängige Behandlung mit TB-Medikamenten hervorgerufen werden (sekundäre Resistenz), stehen neue Untersuchungen gegenüber, die postulieren, dass 95% aller MDR-TB-Patienten sich neu mit einem resistenten Stamm infiziert haben (primäre Resistenz). Diese Untersuchungen zeigen ebenfalls, dass 62% aller Patienten, die bereits einmal für eine TB behandelt wurden, bei einer erneuten Episode neu mit MDR-TB-Stämmen infiziert sind. In der Fachliteratur wird aktuell ein weiteres Dogma infrage gestellt: Lange wurde die sekundäre Resistenz einer mangelhaften Therapieadhärenz zugeschrieben. Neue Untersuchungen legen jedoch den Fokus zusätzlich auf die unterschiedliche individuelle Pharmakokinetik und -dynamik, unterschiedliche Penetration der Medikamente ins infizierte Gebiet mit der möglichen Folge von individuell inadäquater Standarddosierung der Medikamente, was wahrscheinlich ebenfalls zu Resistenzentwicklung führen kann [4, 8].
Lange Zeit stand – aufgrund der oben genannten Annahmen – eine Umsetzung besserer Therapieadhärenz im Vordergrund der TB-Kontrolle und Resistenzprävention. Eine frühe Detektion einer resistenten TB und Sicherstellung einer resistenzgerechten Behandlung scheinen jedoch mindestens so essentiell, um weitere Ansteckungen zu verhindern.

Diagnostik

Die phänotypische Resistenzprüfung mittels Kultur gilt weiterhin als Goldstandard. Diese bedingt jedoch ein kulturelles Wachstum von M. tuberculosis und dauert entsprechend zwischen drei und zwölf Wochen. Durch die Einführung der genotypischen Resistenzprüfung können Resistenzen deutlich schneller detektiert werden als mittels Kultur. Die molekulargenetische Untersuchung (Xpert® MTB/RIF Ultra) erlaubt eine verlässliche Diagnose einer Resistenz gegenüber Rifampicin innerhalb von weniger als zwei Stunden. Sehr selten vorkommende genetische Formen der Rifampicinresistenz können mit diesem molekularen Schnelltest allerdings nicht detektiert werden [9]. Die hohe Sensitivität dieser Tests kann aufgrund unserer epidemiologischer Lage mit tiefer Inzidenz und Prävalenz zu positiven Proben führen, die später in der Kultur nicht bestätigt werden können. Dies führt zu einer Zunahme «falsch positiver» Tests, da auch Mykobakterien-DNA einer abgeheilten vorangegangenen TB nachgewiesen werden kann. Line-Probe-Assays, die in vitro eine bestimmte Anzahl bekannter Mutationen auf einem Membranstreifen nachweisen können, erlauben die Detektion weiterer Resistenzen gegenüber der Erstlinien- (Iso­niazid, Ethambutol) und der Zweitlinientherapie (Chinolone, Aminoglykoside) innerhalb von etwa zwei Arbeitstagen. Für die neuen TB-Medikamente wie beispielsweise Bedaquilin und Delamanid stehen noch keine kommerziell verfügbaren genetischen Tests zur Verfügung. Entsprechend muss für eine genetische ­Resistenzprüfung für die Zweitlinienmedikamente das ganze Genom sequenziert werden. Bis heute sind die Resistenzmechanismen gegenüber diesen neuen Medikamenten noch nicht abschliessend erforscht, sodass die Aussagekraft dieser Untersuchung noch limitiert ist [4].

Therapie

Nach knapp einem halben Jahrhundert wurden mit Bedaquilin, Delamanid und Pretomanid erstmals neue Medikamente zur Behandlung der TB entwickelt und zugelassen. Im Jahre 2013 veröffentlichte die WHO vorläufige Richtlinien zum Einsatz von Bedaquilin und ­Delamanid. Bedaquilin, welches das Enzym ATPase der Mykobakterien hemmt, war aufgrund der erfolgreichen Behandlung von MDR-TB-Patienten in klinischen Studien zwar vielversprechend, doch die gleichzeitig ­erhöhte Mortalitätsrate führte dazu, dass Bedaquilin initial lediglich als Reservemedikament zur Therapie der MDR-/XDR-TB genutzt wurde [10]. Dasselbe galt für Delamanid, das die Zellwandsynthese hemmt und in einer Phase-II-Studie als Zusatz zum Standard-MDR-TB-Regime zu einer höheren Sputumkonversionsrate führte [11]. Entsprechend bestand eine MDR-TB-Therapie vorerst weiterhin aus den beiden Hauptklassen der Aminoglykoside und Chinolonen in Kombination mit mindestens drei weiteren Medikamenten. Diese Therapie wurde für 20–24 Monate verabreicht, wobei die Aminoglykoside nach 6–8 Monaten sistiert wurden.
Zwischenzeitlich konnte in einer retrospektiven Kohorte von MDR-TB-Patienten in Südafrika, die 1016 Patienten unter Bedaquilin mit 19 617 Patienten unter Standardbehandlung verglich, eine deutliche Reduktion der Mortalität gezeigt werden [12]. Derselbe günstige Effekt konnte in einer prospektiven Kohorte mit pre-XDR- und XDR-TB-Patienten reproduziert werden [13] – die pre-XDR-TB unterscheidet sich von der XDR-TB insofern, dass nur eine Resistenz entweder gegenüber Fluorchinolonen oder Aminoglykosiden besteht. Die Wirksamkeit von Delamanid hingegen konnte in einer Phase-III-Studie nicht bestätigt werden [14]. Zusammen mit neuen Daten aus einer Metaanalyse, welche die MDR-TB-Therapie von 12 030 Patienten untersuchte und einen positiven Effekt der Therapie mit Bedaquilin, Linezolid, Clofazimin, Levofloxacin, Moxifloxacin, Amikacin und Carbapenemen auf das Therapieergebnis gezeigt hat [15], führte die oben genannte retro­spektive Studie bezüglich Bedaquilin zu einer Neuklassierung und Priorisierung der Zweitlinientherapie durch die WHO, die Anfang 2019 publiziert wurde (Tab. 1) [16].
Tabelle 1: WHO-Klassifizierung der MDR-TB-Medikamente (Quelle [16]: WHO consolidated guidelines on drug-resistant tuberculosis treatment. Geneva: World Health Organization; 2019; p. 24. https://www.who.int/tb/publications/2019/consolidated-guidelines-drug-resistant-TB-treatment/en/. © World Health Organization 2019; Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/igo]).
Groups & stepsMedicine
Group A:
Include all three medicines
Levofloxacin OR
Moxifloxacin
Lfx
Mfx
BedaquilineBdq
Linezolid Lzd
Group B:
Add one or both medicines
ClofazimineCfz
Cycloserine OR
Terizidone
Cs
Trd
Group C:
Add to complete the regimen and when ­medicines from Groups A and B cannot be used
EthambutolE
DelamanidDlm
PyrazinamideZ
Imipenem-cilastatin OR
Meropenem
Ipm-Cln
Mpm
Amikacin
(OR streptomycin)
AM
(s)
Ethionamide OR
Prothionamide
Eto
Pto
P-aminosalicylic acidPAS
MDR-TB: «multidrug-resistant tuberculosis».
Aminoglykoside haben ihren Stellenwert in der MDR-TB-Therapie aufgrund der Toxizität mit Langzeitneben­wirkungen wie Hörverlust und Nierenfunktionsstörung verloren, während nun neu zusätzlich zu einem Chinolon der dritten oder vierten Generation (Moxifloxacin oder Levofloxacin), Bedaquilin, Linezolid und Clofazimin primär ­eingesetzt werden.
Delamanid erhielt vor diesem Hintergrund keine Zu­lassung der «Food and Drug Administration» (FDA) zur Behandlung der MDR-TB, wird aber von der WHO wei­terhin als Reservemedikament klassiert. Pretomanid hingegen, ein strukturverwandtes Medikament der Ni­troimidazolgruppe, konnte in Kombination mit Bedaquilin und Linezolid in einer prospektiven Studie mit 109 therapieresistenten MDR- oder XDR-TB-Patienten erfolgversprechende Resultate erzielen. Das Therapieansprechen mit 90% in diesem Patientenkollektiv überstieg alle Erwartungen. Dies ist insbesondere erfreulich, da das Regime nur über sechs Monate eingesetzt wurde [17]. Pretomanid erhielt im August 2019 in Kombination mit Linezolid und Bedaquilin die US-Zulassung für die Behandlung von XDR-TB-Patienten [18]. Eine ­Zulassung in Europa wird aktuell geprüft. Die WHO hat die Sub­stanz respektive die geprüfte Kombinationstherapie Ende 2019 bereits in ihre Empfehlungen aufgenommen [19]. Der Einsatz soll bis zum Vorliegen von weiteren Daten nur im Studien-Setting oder im Einzelfall bei therapieresistenter TB erfolgen. Falls nötig, ist fallbezogen ein Import in die Schweiz möglich.
Die Dauer der Therapie bleibt unverändert. Bei Patienten mit erstmaliger TB-Erkrankung und ohne frühere Therapie mit TB-Medikamenten kann gemäss WHO ein verkürztes Regime mit 9–12 Monaten Therapie­dauer erwogen werden [20].
Zusammenfassend ist von der WHO erstmalig ein rein orales Regime empfohlen, das mindestens gleich effektiv und definitiv weniger toxisch ist als die früheren Behandlungskombinationen. Trotz dieser positiven Entwicklung bleibt zu bedenken, dass diese Therapieempfehlungen auf Beobachtungsstudien beruhen. Die fehlende Möglichkeit einer schnellen, einfachen und leicht verfügbaren phäno- oder genotypischen Resistenzprüfung für die neuen TB-Medikamente und deren folglich empirischer Einsatz wird als Nachteil beurteilt [21]. Der empirische Gebrauch birgt das Risiko einer nicht resistenzgerechten Therapie und nachfolgender Resistenzamplifikation. Daher muss die Entwicklung und Implementierung geno- und phänotypischer Resistenztestung dieser Medikamente mit hoher Priorität behandelt werden.

Therapiebeginn und Umgebungsabklärung

Die Planung der Therapie von Patienten mit einer MDR- oder XDR-TB muss in der Schweiz zusammen mit ­einem Spezialisten erfolgen. Die Diskussion eines Falles zusammen mit der MDR-TB-Expertengruppe der Lungenliga Schweiz wird generell empfohlen. Das Kompetenzzentrum Tuberkulose der Lungenliga Schweiz (www.tbinfo.ch) ermöglicht den unkomplizierten Zugang zu dieser Gruppe via Telefon oder Mail.1
Falls eine Isolation im Spital notwendig ist, soll der Patient in einer Einrichtung behandelt werden, die eine ­aerogene Isolation mit Unterdruckzimmer gewährleisten kann [22]. Die Dauer der Isolation ist abhängig vom Therapieansprechen und sollte immer mit Experten rückbesprochen werden [22]. In Ländern mit hoher MDR-TB-Inzidenz wird gemäss WHO eine ambulante Behandlung empfohlen. Die limitierten Ressourcen sollen primär für eine schnelle Diagnosestellung und resistenzgerechte Behandlung eingesetzt werden [16].
Die Umgebungsabklärung erfolgt gleich wie für Pa­tienten mit einer sensiblen TB. Die Empfehlungen zur Chemoprävention einer aktiven Erkrankung im Falle einer latenten Infektion basieren aktuell nur auf dem Konsensus von Experten [28]. Der Einsatz einer präventiven Therapie sollte in jedem Fall und insbesondere bei vulnerablen Populationen wie Kindern unter fünf Jahren mit einem Spezialisten besprochen werden. Klinische Studien unter anderem unter Anwendung von Fluorochinolonen für diese Indikation werden aktuell durchgeführt [23, 24].

Ausblick

Neben der Zunahme manifester Erkrankungen mit ­resistenten TB-Erregern zeigen Modelle einen Anstieg der latenten MDR-TB-Infektionen, die erst später zu MDR-TB-Erkrankungen führen können. Schätzungen ergeben, dass sich weltweit bereits 20 Millionen latent mit einer MDR-TB infiziert haben, dies entspricht einer Prävalenz von 0,3%. Besonders gefährdet für eine ­latente Infektion mit einer MDR-TB sind Kinder, denen der mögliche immunologische Schutz durch eine bereits erworbene latente Infektion mit einem sensiblen Stamm fehlt, der frühere Generationen charakterisierte [25].
Die Entwicklung neuer Therapie­optionen hat deutlich an Priorität gewonnen, entsprechend sind aktuell ­diverse Medikamente in klinischer Untersuchung. ­Neben neuen Medikamenten gilt es jedoch auch, die optimale Kombination und Dauer zu erarbeiten. Neue Daten werden in den kommenden Jahren auch aus ­randomisierten Studien erwartet. Bisher gibt es leider keinen Biomarker, der die optimale Therapiedauer ­individuell bei Patienten vorhersagen könnte. Weiter müssen die Substanzen global verfügbar sein und ­adäquat verabreicht werden. Die hohen Heilungsraten im Studien-Setting im Vergleich zu Daten, die in Alltags- TB-Kon­trollprogrammen erreicht werden, unterstreichen diese Notwendigkeit. Die hohen Behandlungskosten – global werden heute bereits 50% der Kosten zur Therapie der TB für die Behandlung von MDR-TB eingesetzt – und Resistenzen gegenüber neu eingesetzten TB-Medikamenten stellen zusätzliche Herausforderungen dar, um das Ziel der Elimination der TB gemäss der EndTB-Strategie der WHO schon 2035 zu erreichen [26].

Das Wichtigste für die Praxis

• Bereits bei Diagnose einer Tuberkulose (TB) sollte immer auch an die Möglichkeit einer Medikamentenresistenz gedacht werden. Alle TB-Patienten sollten zunächst zumindest auf Resistenz gegenüber Rifampicin mittels molekularer Tests evaluiert werden.
• Die nebenwirkungsreiche aminoglykosidbasierte MDR-TB-Therapie wird durch eine rein orale Therapie abgelöst. Hierfür werden neben neuen TB-Medikamenten auch Medikamente wie Chinolone, Linezolid und Clofazimin, die für andere Indikationen entwickelt wurden, eingesetzt. Die MDR-TB-Behandlung bleibt langwierig und mit vielen Nebenwirkungen assoziiert. Ein gemeinsames Management von Experten1 und Primärversorgern ist essentiell.
• Eine Verbesserung der Detektionsrate sowie der Behandlungsoptionen ist essentiell, um ein weiteres Ausbreiten der resistenten TB zu verhindern. Die Erforschung dieser ist von öffentlichem und privatem Interesse und entsprechend sind Investitionen vonseiten der Pharmaindustrie und staatlicher Institutionen unabdingbar.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Marisa Kälin
Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
marisa.kaelin(at)usz.ch
1 Schmiedl Y, Zimmerli S. Tuberkulose: Prävention, Latenz und Multiresistenz. Schweiz Med Forum. 2015;15(41):918–24.
2 Schoch O. Tuberkulose-Update für Allgemeininternisten. Schweiz Med Forum. 2018; 18(26–27):563–68.
3 World Health Organization. Global tuberculosis report 2019. 2019; p. 60. https://www.who.int/tb/publications/global_report/en/4 Dheda K, Gumbo T, Maartens G, Dooley KE, McNerney R, Murray M, et al. The epidemiology, pathogenesis, transmission, diagnosis, and management of multidrug- resistant, extensively drug-resistant, and incurable tuberculosis. Lancet Respir Med. 2017;5(4):210–360.
5 Sharma A, Hill A, Kurbatova E, van der Walt M, Kvasnovsky C, Tupasi TE, et al. Estimating the future burden of multidrug-resistant and extensively drug-resistant tuberculosis in India, the Philippines, Russia, and South Africa: a mathematical modelling study. Lancet Infect Dis. 2017;17(7):707–15.
6 Schweizerisches Bundesamt für Gesundheit (BAG), Register TB Fälle, 2020.
7 Walker TM, Merker M, Knoblauch AM, Helbling P, Schoch OD, van der Werf MJ, et al. A cluster of multidrug-resistant Mycobacterium tuberculosis among patients arriving in Europe from the Horn of Africa: a molecular epidemiological study. Lancet Infect Dis. 2018;18(4):431–40.
8 Dheda K, Gumbo T, Maartens G, Dooley KE, Murray M, Furin J, et al. The Lancet Respiratory Medicine Commission: 2019 update: epidemiology, pathogenesis, transmission, diagnosis, and management of multidrug-resistant and incurable tuberculosis. Lancet Respir Med. 2019;7(9):820–6.
9 Andre E, Goeminne L, Colmant A, Beckert P, Niemann S, Delmee M. Novel rapid PCR for the detection of Ile491Phe rpoB mutation of Mycobacterium tuberculosis, a rifampicin- resistance-conferring mutation undetected by commercial assays. Clin Microbiol Infect. 2017;23(4):267.e5–.e7.
10 Diacon AH, Pym A, Grobusch MP, de los Rios JM, Gotuzzo E, Vasilyeva I, et al. Multidrug-resistant tuberculosis and culture conversion with bedaquiline. N Engl J Med. 2014;371(8):723–32.
11 Gler MT, Skripconoka V, Sanchez-Garavito E, Xiao H, Cabrera-Rivero JL, Vargas-Vasquez DE, et al. Delamanid for multidrug-resistant pulmonary tuberculosis. N Engl J Med. 2012;366(23):2151–60.
12 Schnippel K, Ndjeka N, Maartens G, Meintjes G, Master I, Ismail N, et al. Effect of bedaquiline on mortality in South African patients with drug-resistant tuberculosis: a retrospective cohort study. Lancet Respir Med. 2018;6(9):699–706.
13 Ndjeka N, Schnippel K, Master I, Meintjes G, Maartens G, Romero R, et al. High treatment success rate for multidrug-resistant and extensively drug-resistant tuberculosis using a bedaquiline-containing treatment regimen. Eur Respir J. 2018;52(6).
14 von Groote-Bidlingmaier F, Patientia R, Sanchez E, Balanag V, Jr., Ticona E, Segura P, et al. Efficacy and safety of delamanid in combination with an optimised background regimen for treatment of multidrug-resistant tuberculosis: a multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled, parallel group phase 3 trial. Lancet Respir Med. 2019;7(3):249–59.
15 Ahmad N, Ahuja SD, Akkerman OW, Alffenaar JC, Anderson LF, Baghaei P, et al. Treatment correlates of successful outcomes in pulmonary multidrug-resistant tuberculosis: an individual patient data meta-analysis. Lancet (London, England). 2018;392(10150):821–34.
16 World Health Organization. WHO consolidated guidelines on drug-resistant tuberculosis treatment. 2019; p. 24. https://www.who.int/tb/publications/2019/consolidated-guidelines-drug-resistant-TB-treatment/en/. 17 Conradie F, Diacon AH, Ngubane N, Howell P, Everitt D, Crook AM, et al. Treatment of Highly Drug-Resistant Pulmonary Tuberculosis. N Engl J Med. 2020;382(10):893–902.
18 Keam SJ. Pretomanid: First Approval. Drugs. 2019;79(16):1797–803.
19 World Health Organization. Rapid Communication: Key changes to the treatment of drug-resistant tuberculosis, 2019. https://www.who.int/tb/publications/2019/rapid_communications_MDR/en/20 WHO operational handbook on tuberculosis. Module 4: treatment – drug-resistant tuberculosis treatment. Geneva: World Health Organization; 2020. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO. https://www.who.int/publications/i/item/978924000699721 Lange C, Aarnoutse RE, Alffenaar JWC, Bothamley G, Brinkmann F, Costa J, et al. Management of patients with multidrug-resistant tuberculosis. Int J Tuberc Lung Dis. 2019;23(6):645–62.
22 Schoch OD, Barben J, Berger C, Böttger EC, Egger JM, Fenner L, et al. Tuberculosis in Switzerland. Guidance for Healthcare Professionals. In: Swiss Lung Association SFOoPH, editor. 3. Auflage. Second ed2019. https://www.tbinfo.ch/wissenszentrum/publikationen/handbuch-tuberkulose.html23 Fox GJ, Nguyen CB, Nguyen TA, Tran PT, Marais BJ, Graham SM, et al. Levofloxacin versus placebo for the treatment of latent tuberculosis among contacts of patients with multidrug-resistant tuberculosis (the VQUIN MDR trial): a protocol for a randomised controlled trial. BMJ open. 2020;10(1):e033945.
24 Seddon JA, Garcia-Prats AJ, Purchase SE, Osman M, Demers AM, Hoddinott G, et al. Levofloxacin versus placebo for the prevention of tuberculosis disease in child contacts of multidrug-resistant tuberculosis: study protocol for a phase III cluster randomised controlled trial (TB-CHAMP). Trials. 2018;19(1):693.
25 Knight GM, McQuaid CF, Dodd PJ, Houben R. Global burden of latent multidrug- resistant tuberculosis: trends and estimates based on mathematical modelling. Lancet Infect Dis. 2019;19(8):903–12.
26 World Health Organization. The End TB Strategy, 2014. https://www.who.int/tb/post2015_strategy/en/
27 European Centre for Disease Prevention and Control/WHO Regional Office for Europe. Tuberculosis surveillance and monitoring in Europe 2020 – 2018 data. 2020; p.25. doi:10.2900/0737073.