Prekäre Versorgungssicherheit bei Antibiotika
Wird die COVID-19-Pandemie etwas ändern?

Prekäre Versorgungssicherheit bei Antibiotika

Aktuell
Ausgabe
2020/4748
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08630
Swiss Med Forum. 2020;20(4748):701-705

Affiliations
Department of Global Coordination and Partnership, Antimicrobial Resistance Division, World Health Organization (WHO), Geneva

Publiziert am 17.11.2020

Die COVID-19-Pandemie hat gleich zu Beginn der breiteren Öffentlichkeit eine Problematik vor Augen geführt: die Abhängigkeit von globalen Lieferketten bei Medikamenten. Wird die COVID-19-Pandemie etwas ändern?

Einleitung

Relativ früh führte mit Indien das Land mit der grössten Generikaproduktion weltweit Exportbeschränkungen ein, unter anderem für bestimmte Antibiotika [1]. Eine Befürchtung war, dass solche Massnahmen gepaart mit der massiv gesteigerten Nachfrage nach bestimmten Medikamenten zu dramatischen Lieferengpässen führen würde. Lieferengpässe traten tatsächlich in verschiedenen Ländern ein, unter anderem für Propofol und andere Narkosemittel, Hydroxychloroquin, später Dexamethason und ausgeprägter bei verschiedenen Medizinalprodukten wie Masken sowie Beatmungsgeräten und Sauerstoff.

Wo stehen wir?

Lieferengpässe waren schon vor COVID-19 ein grosses Problem. Die Heilmittelplattform des schweizerischen Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) meldete im Berichtsjahr 2019 insgesamt 238 Versorgungstörungen, im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme von +90% [2]. Die Heilmittelplattform geht auf die Verordnung über die Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel (SR 531.215.32) zurück, die Zulassungsinhaber verpflichtet, eingetretene oder voraussehbare Versorgungsengpässe oder Lieferunterbrüche für eine bestimmte Dosierungsstärke einer Darreichungsform, die voraussichtlich mehr als vierzehn Tage dauern werden, zu melden [3]. Während die Meldestelle nur lebenswichtige Medikamente für die Landesversorgung erfasst, die im Anhang der oben genannten Verordnung aufgelistet sind, berichtet www.drugshortage.ch über alle Lieferengpässe von Produkten, die von der Krankenkasse bezahlt werden oder anderweitig im Spital eine Bedeutung haben. Die von Nutzern gemeldeten Lieferengpässe auf dieser Seite haben sich zwischen 2016 und 2019 mehr als verdoppelt.
In Frankreich hat sich die Zahl der gemeldeten Lieferunterbrüche laut der «Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé» (ANSM) zwischen 2008 und 2018 fast verzwanzigfacht [4]. In den USA haben, nach einem vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2011, Lieferunterbrüche in der jüngeren Vergangenheit wieder zugenommen [5].
Während Lieferunterbrüche auch bei hochpreisigen, patentierten Produkten eintreten können, beispielsweise bei Produktionsproblemen, treten sie besonders gehäuft auf bei alten Produkten, die in der Herstellung komplex sind (parenterale Formulierung), mit geringer Marge aufgrund niedriger Preise oder geringen Volumens [6]. Das spiegelt sich bei der Versorgungslage von Antibiotika wider, von denen die meisten überdurchschnittlich alt sind und deren Preisniveau relativ tief ist. Dementsprechend hat sich in der Schweiz die Versorgung mit Antibiotika im Jahr 2019 weiter verschlechtert: Es gab 53 Lieferunterbrüche bei systemischen Antibiotika, in 32 Fällen davon handelte es sich um parenterale Formen. Betroffen waren 20 verschiedene Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen [7]. Eine Umfrage der «European Association of Hospital Pharmacies» (EAHP) ergab, das antimikrobielle Medikamente von Lieferunterbrüchen besonders betroffen sind [8]. In der Schweiz sind Antiinfektiva zur systemischen Anwendung die am meisten betroffenen Gruppe von Medikamenten [9], in Frankreich die am drittstärksten betroffene Gruppe [10].

Was sind die Hauptgründe für die ­Lieferunterbrüche in Europa?

Gründe für Lieferunterbrüche lassen sich unterschiedlich kategorisieren und darstellen, gemeinsam ist ihnen aber, dass es ein Zusammenspiel gibt und die ökonomischen Aspekte andere Gründe, insbesondere auf Angebotsseite, wesentlich beinflussen (Tab. 1).
Tabelle 1: Hauptgründe für Lieferunterbrüche in Europa kategorisiert. In vielen weniger entwickelten Gesundheitssysteme können dazu noch zahlreiche andere Gründe kommen.
Ökonomische GründeAngebotsseitige GründeNachfrageseitige GründeProduktspezifische GründeRegulatorische Gründe
MarktrückzugWenig Anbieter Steigende Nachfrage ­
(Ausfall anderer Produkte, Pandemie, neue Behandlungsrichtlinien, neue Märkte)Geringes VolumenFabrikschliessungen (wegen Umweltverschmutzung)
Stilllegung einzelner Fabrik Probleme in der Lieferkette (Qualitätsprobleme; Unfälle)Mangelnde Planung in der BeschaffungAufwendiger Herstellungs­prozess (IV Produkte)Gesteigerte regulatorische Anforderungen
 Geringe Lagerbestände Abhängigkeit von einem ­LieferantenWenig alternative Produkte mit gleicher WirkungAusfuhrverbote
In der Schweiz sind rund 70% der Versorgungsstörungen auf Probleme in der Lieferkette und 11% auf Marktrückzug zurückzuführen (Abb. 1).
Abbildung 1: Ursachen von Versorgungsstörungen (Mehrfachnennungen möglich).
(Quelle: Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL, Meldestelle für ­lebenswichtige Humanarzneimittel, Bericht 2019, Seite 8; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung).
Dies hängt mit den zunehmend komplexen Lieferketten in der pharmazeutischen Industrie zusammen. Oft findet jeder der in Abbildung 2 dargestellten Produktionsschritte in einem anderen Werk/Land statt. Traditionell ist China ein wichtiger Standort für die potentiell stark verschmutzende Rohstoffherstellung, während die indische Industrie sich mehr auf die Herstellung der aktiven Wirkstoffe («active pharmaceutical ingredient» [API]) und die weiteren Produktionsschritte spezialisiert hat. Beide Produktionsschritte arbeiten traditionell mit geringen Gewinnmargen bei hohem Volumen. In den vergangenen Jahren hat sich das Gewicht in der aktiven Wirkstoffherstellung zunehmend nach China verlagert, das nunmehr der weltgrösste Hersteller von API ist mit einem geschätzten Marktanteil von 40% [11]. Indien, der weltgrösste Hersteller von Generika, bezieht mittlerweile 70% der API aus China [12].
Abbildung 2: Vereinfachte schematische Darstellung der Produktionsschritte von ­Medikamenten. API: «active pharmaceutical ingredient».
Vor allem bei niedrigpreisigen Produkten führt der Margendruck zur Kostenoptimierung bei der Herstellung – beispielsweise der Wechsel von eigener Herstellung des API zu externen Herstellern – und der Optimierung der Lieferkette und Lagerhaltung allgemein, was Lieferprobleme begünstigen kann. Die Ultima Ratio ist der komplette Marktrückzug. Die Begründung von GlaxoSmithKline plc (GSK) vom Juni 2020 bezüglich der Einstellung der Produktion eines der meist­gebrauchten Penicilline im Vereinigten Königreich ist dafür symptomatisch [13]: «Nach globaler Überprüfung der Antibiotika-Produktion durch GSK kamen wir zum Schluss, dass die sterile Produktion von Amoxicillin in dem hochkompetitiven Umfeld nicht mehr wett­bewerbsfähig ist. Deshalb ist der Entscheid gefällt ­worden, die Produktion für Europa einzustellen. Dies betrifft in der Schweiz das parenterale Antibiotikum Clamoxyl®. Wir möchten Sie deshalb frühzeitig darüber informieren, dass Clamoxyl® künftig nicht mehr in der Schweiz vertrieben wird.»
Damit ist Sandoz mit seinem Werk im östereichischen Kundl der letzte grosse vertikal integrierte Hersteller von Penicillin/Amoxillicin in Europa. Nur eine millionenschwere Subvention vonseiten der österreichischen Regierung konnte in diesem Jahr verhindern, dass Sandoz diese traditionsreiche Herstellung aufgibt. 2015 hat Sandoz bereits eine Anlage für die Herstellung der API für Cephalosporine in Frankfurt verkauft [14]. Grund ist auch hier der Margendruck bei der Herstellung der API, die sich deutlich günstiger auf dem Weltmarkt, insbesondere aus China beziehen lassen. Niedrigere Arbeits- und Produktionskosten, aber auch Umweltauflagen für diese chemischen Produktionsprozesse sind einige Gründe dafür [15].
Marktrückzüge bei Antibiotika sind kein Einzelfall: In der Schweiz sind rund 11% der auf der Heilmittelplattform gemeldeten Störungen Marktrückzüge (21 Meldungen, in der Mehrheit parenterale Produkte). 62% dieser Marktrückzüge betrafen Antibiotika (7× Co-Amoxicillin, 3× Ciprofloxacin, 2× Piperacillin/Tazobactam und 1× Norfloxacin). In der Schweiz gibt es damit nur noch einen Anbieter von parenteralem Co-Amoxicillin, was zu Versorgungsunterbrüchen führt, die auch durch die Pflichtlager nicht vollständig kompensiert werden konnten. Für orale antibiotische Formulierungen für Kinder gibt es von insgesamt 13 Wirkstoffen in der Schweiz nur bei 5 Wirkstoffen mehr als einen Anbieter [16]. In Deutschland gab es 2015 für insgesamt 23 Antibiotikawirkstoffe nur einen Anbieter [17]. Siehe dazu auch das Beispiel von Benzylpenicillin (Kasten).

Das Beispiel von Benzylpenicillin

Benzylpenicillin, wichtig für die Behandlung von Syphilis, ist ein gutes Beispiel für die globale Entwicklung. Seit Beginn des Jahrtausends haben sechs Wirkstoffhersteller und mehr als 40 Unternehmen, die die endgültige Formulierung herstellen, den Markt verlassen, sodass es heute nur noch vier Wirkstoffhersteller weltweit gibt. Die häufigen Lieferunterbrüche lassen sich auf drei wesentliche Gründe zurückführen:
1) Viele Länder beziehen Benzylpenicillin von einem Grosshändler, der das Produkt von einem Endhersteller bekommt, der den Wirkstoff von einem API-(«active pharmaceutical ingredient»-)Hersteller bezieht, sodass bei Problemen in der Lieferkette keine Alternativen bestehen.
2) Benzylpenicillin kostet in den meisten Ländern nur wenige Cents pro Dosis, ist aber in der Form als sterile Injektion in der Herstellung komplex und verhältnismässig teuer, was dazu geführt hat, dass sich mehr und mehr Hersteller zurückgezogen haben.
3) Inakkurate Mengenvorhersagen, schwache Beschaffungssysteme und Wissenslücken in der Behandlung von Syphilis [18].
Generell gilt, je geringer die Anzahl der Anbieter, desto grösser die Gefahr eines Lieferunterbruchs. Die Zahl der Anbieter eines Medikamentes kann dabei irreführend sein: Als es 2017 in China bei einem Hersteller für den Wirkstoff für das Antibiotikum Piperacillin eine Explosion gab, führte dies zu weltweiten Lieferschwierigkeiten für Piperacillin (und der Kombination Pipera­cillin/Tazobactam), obwohl es eigentlich verschiedene Marktzulassungsinhaber gab [19]. Der Unfall zeigte auf, dass diese Hersteller den API alle von dem ausgefallenen Hersteller in China bezogen. Wo Marktzulassungsinhaber den API einkaufen, ist aber allein dem Unternehmen und der Regulierungsbehörde – in der Schweiz Swissmedic – bekannt. Es ist daher schwierig abzuschätzen, wie stark die Abhängigkeit von gewissen gros­sen API-Herstellern ist. Im Rahmen eines Projekts der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde geschätzt, dass von zehn ausgewählten Antibiotika, bei denen es zu wiederholten Lieferunterbrüchen gekommen ist, mehr als 50% der Marktzulassungsinhaber den API von nur zwei Herstellern beziehen [20].
Da die Herkunft des API und die Lieferketten Teil des Geschäftsgeheimnisses sind, ist es sehr schwierig, die Produkte zu identifizieren, bei denen eine besonders starke Abhängigkeit von wenigen Herstellern die Versorgungssicherheit in einem Land gefährdet.

Der Einfluss des regulatorischen Umfelds

Jede Änderung in der Lieferkette, beispielsweise bei Ausfall einer Fabrik die Verlagerung der Produktion oder der Bezug von API bei einem anderen Hersteller, muss allen nationalen oder regionalen Regulierungsbehörden der Länder, in denen das Produkt vertrieben wird, gemeldet und von ihnen genehmigt werden. Allein die regulatorischen Anforderungen führen daher dazu, dass der Wechsel eines Wirkstoffherstellers für ein globales Unternehmen mehrere Jahre im Voraus geplant werden muss, da alle nationalen Marktzulassungen angepasst werden müssen. Gestiegene regulatorische Anfordungen für qualitativ komplexere Produkte wie Injektionen haben auch einen Einfluss auf die Produktionskosten.

Warum regeln die Marktgesetze von Angebot und Nachfrage das Problem nicht?

In einem normalen Markt würde zu grosser Preisdruck im Zusammenspiel mit Konkurrenz zu einer Situation führen, dass am Ende nur einer oder wenige Anbieter überbleiben, die die Preise dann erhöhen, was nach dem Gesetz des Marktes wiederum neue Anbieter auf den Plan rufen sollte. Während insbesondere in den Vereinigten Staaten solche extremen Preissteigerungen bei Monopolstellungen von alten Generika aufgetreten sind, wie das Beispiel Daraprim® zeigt [21], ist weniger sicher, dass dies neue Anbieter auf den Markt ruft.
Die Anfangsinvestitionen in die Produktion eines ­Medikamentes sind sehr hoch. Dazu kommt die Notwendigkeit, in jedem Land eine neue Marktzulassung beantragen zu müssen, um dann in einen preislich hochregulierten Markt einzutreten, der im Vergleich zu neueren Generika oder Biosimilaren vergleichsweise unattraktiv ist. Es ist daher selten, dass auch dann, wenn nur noch einer oder wenige Anbieter auf dem Markt sind, neue Generikaanbieter mit alten Produkten in den Markt eintreten, insbesondere nicht in kleinen Märkten oder für Nischenprodukte [22].

Was haben die Länder unternommen in den vergangenen Jahren?

Viele Länder wie die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Schweiz und Deutschland haben öffentliche Register auf freiwilliger Basis geschaffen [23] oder die Unternehmen verpflichtet, Lieferunterbrüche möglichst vorab zu melden. In der Schweiz bestehen Pflichtlager, die von der Industrie finanziert werden und die im Falle von Lieferunterbrüchen genutzt werden können. Deutschland hat auch die Einfuhr nicht zugelassener Medikamente im Falle von Versorgungsschwierig­keiten erlaubt. Ähnliche Massnahmen finden sich in vielen europäischen Ländern. Die meisten dieser Massnahmen zielen allerdings nicht darauf ab, die Gründe für die zunehmenden Lieferunterbrüche zu beheben, sondern Lieferunterbrüche zu managen und abzufedern. Die Massnahmen haben sich gerade auch in der Schweiz bewährt und wie der Bericht des BWL zeigt, auch erlaubt, viele Lieferengpässe zu erkennen und rechtzeitig zu überbrücken. Die Heilmittelplattform und die Auswertung des BWL erlauben es auch, die ­wesentlichen Gründe für die Lieferengpässe und besonders gefährdete Produkte zu identifizieren und den Umfang des Problems zu quantifizieren, was wichtig ist, um langfristige Lösungen zu entwickeln. Die eingangs genannten Zahlen und die zahlreichen Marktrückzüge legen den Schluss nahe, dass das Problem in der Zukunft eher wachsen als kleiner werden wird.

Neue Lösungsansätze

COVID-19 hat sowohl in den USA als auch in Europa vielen Politikern die grosse Abhängigkeit im Medikamentenmarkt aufgezeigt. In den USA hat BARDA [24] der Pharmafirma Phlow im Mai 2020 $ 354 Millionen über vier Jahre zugesprochen mit einer Option auf $ 812 Millionen über zehn Jahre mit dem Auftrag, essentielle Medikamente in den USA herzustellen. Phlow, ist ein Medikamentenhersteller, der erst kürzlich gegründet wurde und sich als «public benefit corporation dedicated to manufacturing and securing our Nation’s most essential medicines, 100% in the US» bezeichnet und sich zu transparenten Preisen verpflichtet [25].
Phlow ist verbunden mit CivicaRx, einem nicht gewinn­orientierten Medikamentenhersteller, der 2018 von sieben privaten amerikanischen Gesundheitsdienstleistern gegründet wurde mit dem Ziel, solche Generika zu beschaffen und zu produzieren, die regelmässig von Lieferunterbrüchen oder Preiswucher betroffen sind. Mittlerweile repräsentiert CivicaRx mehr als 1200 Spitäler respektive 30% der Spitalbetten in den USA [26]. CivicaRx verfolgt die Strategie, entweder die notwendigen Medikamente selber herzustellen oder langfristige Lieferverträge mit vertikal integrierten Herstellern zu schliessen, verbunden mit langfristig vorhergesagten Volumina und transparenten Preisen, und so Liefersicherheit zu garantieren. Mit diesem Ziel hat CivicaRx im Mai 2019 seinen ersten Vertrag mit Xellia Pharmaceuticals über die Herstellung von Vancomycin und Daptomycin abgeschlossen. Xellia produziert selber API und sterile Injektionen [27]. Im Juli 2020 haben CivicaRx und Sandoz bekanntgegeben, einen fünfjährigen Herstellungs- und Liefervertrag für sechs parenterale Medikamente (Antibiotika, Blutdrucksenker, Blutverdünner und säurereduzierende Mittel) abgeschlossen zu haben [28].
In Frankreich hat President Macron im Juni 2020 eine Politik der Relokalisierung der Medikamtenproduktion angekündigt. € 120 Millionen sollen in neue Produktionslinien für komplett lokal produziertes Paracetamol investiert werden, das während der Pandemie schwer erhältlich war [29].
In Deutschland hat die Regierungskoalition beschlossen, dass Deutschland unter anderem im Bereich der Herstellung von medizinischen Wirkstoffen und deren Vorprodukten über grössere Kapazitäten und mehr Unabhängigkeit verfügen sollte, und will dafür € 1 Milliarde bereitstellen [30].
Österreich hat wie oben erwähnt jüngst Sandoz subventioniert, um die Penicillinherstellung in Kundl über die kommenden zehn Jahre zu erhalten.
In der Schweiz wird diskutiert, die Armeeapotheke, die über eine Bewilligungen der Swissmedic zur Herstellung von Arzneimitteln verfügt, mit der Herstellung einzelner Medikamente zu beauftragen. Sowohl die Armeeapotheke also auch die in den Unispitälern angesiedelten Spitalapotheken wären aber in den meisten Fällen darauf angewiesen, die API extern einzukaufen.
Subventionen von Herstellern wie in Österreich können sinnvoll sein, wenn sie unmittelbar anstehende Produkionseinstellungen verhindern. Langfristig beschleunigen Subventionen aber die preisliche Abwärtsspirale. Wenn die Herstellung in Europa so stark subventioniert wird, dass die Unternehmen mit ausländischen Herstellern erfolgreich mitbieten können, ist absehbar, dass die Konkurrenz die Preise weiter senken wird, um ihre bestehenden Produktionskapazitäten auszulasten. Der Margendruck nimmt damit weiter zu, weitere nicht subventionierte Hersteller steigen aus und Subventionen müssen gegebenenfalls erhöht werden, um weiter konkurrenzfähig zu bleiben. Der Staat würde letztlich die zu niedrigen Preise der Einkäufer subventionieren.
Langfristig wird sich die Produktion von Antibiotika durch private Firmen in Europa nur aufrechterhalten lassen, wenn ihre Produkte konkurrenzfähig sind. Die Konkurrenzfähigkeit ist aber auf preislicher Ebene nicht gegeben, wie Roland Berger im Auftrag von progenerika für die Herstellung von Cephalosporinen in Deutschland in einer Studie dargestellt hat [31]. Lediglich Preise zu erhöhen, kann für einen kleinen Markt wie die Schweiz auch keine Lösung sein, da sie Entscheidungen, wie die von GSK, mangels Marktvolumen nicht nachhaltig beeinflussen und auch nicht zwingend zu einer besseren Versorgungssicherheit führen würde.
Es wäre langfristig wohl sinnvoller, wenn die Einkäufer mehr zahlen würden für mehr Versorgungssicherheit. CivicaRx ist dafür ein gutes Beispiel. Eine dauerhaftere Lösungen könnte sein, wenn Einkäufer in Europa in ­ihren Ausschreibungen im Rahmen der beschaffungsrechtlichen Möglichkeiten systematisch Bedingungen bezüglich der Versorgungssicherheit stellen und diese neben dem Preis in die Bewertung der Angebote einfliessen, beispielsweise [32]:
– systematisch Zuschläge mindestens an zwei Hersteller zu erteilen und nicht die Gesamtmenge dem preislich günstigsten Anbieter (schwierig bei kleinen Volumina und wenn es nur noch einen Anbieter gibt);
– von Herstellern verlangen, ihre Lieferkette transparent zu machen;
– von Herstellern zu verlangen, in dem Angebot Alternativszenarien darzulegen, für den Fall, dass es Probleme in der Lieferkette gibt;
– von Herstellern verlangen darzulegen, warum sie besonders resilient gegen Lieferunterbrüche sind (z.B. aufgrund moderner Produktionsanlagen);
– von Herstellern verlangen, zwei Wirkstoffhersteller unter Vertrag zu haben;
– Garantie der Einhaltung hoher Umweltstandards in der gesamten Lieferkette;
– kurze Lieferketten in der Bewertung der Angebote belohnen.
Wichtig wäre dabei, dass nicht jeder Einkäufer unterschiedliche Standards verlangt, da dies zu erheblichen Mehrkosten führen würde. Denkbar wäre ein Label oder ein internationaler Standard, wie es die amerikanische «Federal Drug Authority» vorgeschlagen hat [33]. Auch CivicaRx könnte ein privat gemanagtes Modell für die Schweiz sein, das sich lohnen würde zu explorieren, wobei es die Marktgrösse (30% der Spitalbetten der USA) CivicaRx entscheidend erleichtern dürfte, vorteilhafte Verträge zu schliessen.
Ausschreibungen sollen die Unternehmen begünstigen, die in widerstandsfähigen Lieferketten, Versorgungs­sicherheit, Umweltstandards und lokale Produktion investieren. Der Preis verliert damit bei der Auswahl relativ an Bedeutung, das heisst höherpreisige Angebote werden konkurrenzfähig, wenn sie in anderen Bereichen punkten können. Würden grosse Einkäufer in Europa systematisch ähnliche Bedingungen in ihren Ausschreibungen stellen, hätte dies das Potenzial, die Dynamik des Antibiokamarktes zu verändern. In den Diskussionen um nachhaltige Lösungen der Lieferengpässe ist es daher unabdingbar, die Einkäufer und die Hersteller miteinzubeziehen: Die Einkäufer, um sie zu überzeugen, dass eine nachhaltigere Ausschreibungspraxis ihnen langfristig Kosten ersparen wird, die ­Hersteller, um zu eruieren, welche Optionen sie sehen, um Lieferketten resilienter zu gestalten. So haben sich die Mitglieder der «AMR Industry Alliance» dazu verpflichtet, in der gesamten Lieferkette bestimmte Umweltstandards einzuhalten [34], und haben damit ein Interesse daran, dass auch andere diese Standards einhalten.
Parallel dazu sollten Regulatoren wie die Swissmedic für Transparenz bei den Lieferketten sorgen, indem sie zumindest die Wirkstoffhersteller bekannt machen. Dies ist in anderen Industriezweigen bereits weitgehend der Standard, so publizieren beispielsweise Apple oder Hennes & Mauritz alle ihre Zulieferer [35]. In Deutschland und Frankreich könnten die neuen Gesetze zur Verantwortung für die Lieferkette hier für mehr Transparenz auch in der Pharmabranche sorgen [36]. Diese Transparenz und die Verantwortung dafür, dass Zulieferer Umweltstandards einhalten und Menschenrechte respektieren, würde auch dazu beitragen, dass mit gleich langen Spiessen gefochten wird.

Ausblick

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass COVID-19 die Problematik der Fragilität der Lieferketten für Medikamente und die zunehmende Abhängigkeit von wenigen Herstellern sehr deutlich gemacht hat. Dies hat die Diskussion um dauerhaftere Lösungen sehr stark ­belebt. Schon vor der Pandemie haben Regierungen ­verschiedene naheliegende staatliche Massnahmen getroffen, die das Problem abschwächen, aber nicht langfristig lösen. COVID-19 hat nun in Ländern zu einem gewissen Aktionismus geführt, der möglicherweise zu kurzfristigen oder dauerhaften Subventionen oder zum Aufbau paralleler staatlicher Versorgungs­kapazitäten führt. Am nachhaltigsten wären allerdings Lösungen, die im grenzüberschreitenden Dialog mit den Marktteilnehmern, den Einkäufern und produzierenden Unternehmen dazu führen, dass das ökonomische Gesamtgefüge langfristig nachhaltiger wird.
Ich danke Stephan Harbarth, Enea Martinelli, Stefan Mühlebach, ­Sarah Paulin, Cyril Stucki und Maarten van der Heijden für die ­wertvollen Anregungen zu diesem Artikel.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. iur. Peter Beyer
Department of Global Coordination and Partnership, Antimicrobial Resistance Division
World Health Organization
Avenue Appia 20
CH-1202 Geneva
beyerp[at]who.int
 1 Vindu Goel. As Coronavirus Disrupts Factories, India Curbs Exports of Key Drugs. New York Time. 6. März 2020. https://www.nytimes.com/2020/03/03/business/coronavirus-india-drugs.html
 2 Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL, Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel, Bericht 2019.
 3 Ausführlich dazu: Mühlebach, S, Haudenschild, U, Schäublin, M, Versorgungsstörungen bei wichtigen Arzneimitteln, Pharm. Ind. 80, Nr 5, p. 594-601 (2018).
 4 Ministère des Solidarités et de la Santé, Lutter contre les pénuries et améliorer la disponibilité des médicaments en France. Feuille de route 2019-2022 https://solidarites-sante.gouv.fr/IMG/pdf/31142_dicom_pe_nurie_de_me_dicamentsv8.pdf; https://www.vie-publique.fr/sites/default/files/rapport/pdf/274702.pdf
 5 Federal Drug Administration, Drug Shortages and Root Causes and Potential Solutions, 2019.
 6 Federal Drug Administration, Drug Shortages and Root Causes and Potential Solutions, 2019; Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL, Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel, Bericht 2019.
 7 Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL, Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel, Bericht 2019.
 8 EAHP. Survey on Medicines Shortages to improve patient outcomes (2018) https://www.eahp.eu/sites/default/files/report_medicines_shortages2018.pdf.
 9 Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL, Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel, Bericht 2019.
11 OptimaInsights, China API Market By Drug Type and Forecast 2026, Feb 2019, https://www.optimainsights.org/reports/69-china-api-market; in 2009 schätzte die Weltbank den Marktanteil noch auf 20%: Janet Bumpas & Ekkehard Betsch, Exploratory Study on Active Pharmaceutical Ingredient Manufacturing for Essential Medicines, World Bank Health, Nutrition and Population (HNP) Discussion Paper, Sept. 2009.
12 Chatterjee P. Indian pharma threatened by COVID-19 shutdowns in China. The Lancet 2020; 395(10225): 675.
14 Michael McCoy. Sandoz to shore up Europe’s last antibiotics plant Company and Austrian government will invest to ensure local antibiotic production. Chemical & Engineering News. Vol98, Issue 30. July 30, 2020. https://cen.acs.org/pharmaceuticals/pharmaceutical-chemicals/Sandoz-shore-Europes-last-antibiotics/98/i30
15 Janet Bumpas & Ekkehard Betsch, Exploratory Study on Active Pharmaceutical Ingredient Manufacturing for Essential Medicines, World Bank Health, Nutrition and Population (HNP) Discussion Paper, Sept. 2009
16 Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL, Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel, Bericht 2019.
17 IGES Institut, Versorgungsrelevanz generischer Antibiotika –Marktentwicklung, Regulierung und Versorgungssicherheit, Januar 2017.
18 Nurse-Findlay S, Taylor MM, Savage M, Mello MB, Saliyou S, Lavayen M, Seghers F, Campbell ML, Françoise Bigirimana F, Ouedraogo L, Pyne-Mercier L. Supply, Demand, and Shortages of Benzathine Penicillin for Treatment of Syphilis: A Market Assessment. PLoS Medicine. 2017;14 (12):e1002473.
19 Judy Stone. Fragile Antibiotic Supply Chain Causes Shortages And Is A National Security Threat. Forbes. 1 June 2018. https://www.forbes.com/sites/judystone/2018/06/01/fragile-antibiotic-supply-chain-causes-shortages-and-is-a-national-security-threat/#18840078adf3
20 WHO, Meeting report: antibiotic shortages: magnitude, causes and possible solutions, 2019. https://www.who.int/publications/i/item/meeting-report-antibiotic-shortages-magnitude-causes-and-possible-solutions
21 Andrew Pollack. Drug Goes From $13.50 a Tablet to $750, Overnight. New York Times Sept. 20, 2015. https://www.nytimes.com/2015/09/21/business/a-huge-overnight-increase-in-a-drugs-price-raises-protests.html
22 FDA 2019.
24 Biomedical Advanced Research and Development Authority des U.S. Department of Health and Human Services
30 Bundesregierung, Corona-Folgen bekämpfen,Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken, Ergebnis Koalitionsausschuss 3.Juni 2020, Berlin 2020, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/E/eckpunktepapier-corona-folgen-bekaempfen.pdf?__blob=publicationFile&v=6
31 Roland Berger, Studie zur Versorgungssicherheit mit Antibiotika: Wege zur Produktion von Antibiotikawirkstoffen in Deutschland bzw. der EU, Ergebnisbericht, 2018
32 Möglich sind auch Vertragsstrafen bei Lieferstörungen. Dieses Mittel setzt allerdings voraus, dass die Unternehmen vorausschauend investieren, um die Zahlung evtl. Strafen zu vermeiden. Ob das der Fall ist, lässt sich bezweifeln, da der Verkauf nicht zwingend mit Investitionsentscheidungen rückgekoppelt ist.
33 Federal Drug Administration, Drug Shortages and Root Causes and Potential Solutions, 2019.
36 The German Federal Government. National Action Plan Implementation of the UN Guiding Principles on Business and Human Rights 2016-2020. Berlin: Federal Foreign Office, 2017; Loi n°2017-399 relative au devoir de vigilance des sociétés mères et entreprises donneuses d’ordre, aussi dite «loi sur le devoir de vigilance».