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Mein Vater erkrankte 1961 an Lungentuberkulose, gerade als ich meine Maturitätsprüfung ablegte. Er erhielt Streptomycin-Injektionen und schluckte Isoniazid- und unzählige Paraaminosalizylsäure-(PAS-) Tabletten. Erst nach 1945 war die Tuberkulose (TB) dank Medikamentenkombination überhaupt heilbar geworden. 1968 wurde dann von der CIBA, heute Novartis, das auch heute immer noch wichtigste TB-Medikament Rifampicin auf den Markt gebracht. Meine ersten Erfahrungen damit machte ich 1973 am Bellevue Hospital in New York auf der TB-Abteilung für Häftlinge. Beim Drogenentzug mit Methadon kamen die Insassen wegen der Interaktion mit Rifampicin mit beschleunigtem Abbau des Methadons auf Entzug und rebellierten entsprechend heftig. Zurück in der Schweiz habe ich während meiner Zeit als Chefarzt in der Zürcher Höhenklinik Wald zusammen mit meinen Mitarbeitern mehrere randomisierte Studien durchgeführt, die es ermöglichten, dank einer fixen Medikamentenkombination die Therapiedauer auf sechs Monate zu verkürzen. Seither sind viele Jahre vergangen. Aus heutiger Sicht sind sechs Monate eine sehr lange, vielleicht sogar zu lange Behandlungsdauer und die multiplen Interaktionen mit Rifampicin ein immer noch ungelöstes Problem.
Bereits 1981 wurden erste Fälle von gegen Rifampicin und Isoniazid resistenter, multiresistent genannter, TB (MDR-TB) entdeckt [1]. Sie haben leider seither stark zugenommen. Heute sind weltweit bereits 3,4% der neu mit TB Infizierten und sogar 18% der bereits Vorbehandelten multiresistent, das sind gegen 600 000 der über 10 Millionen TB-Kranken jedes Jahr! Die Behandlung wird dadurch viel langwieriger und mehr als zehnmal teurer, und im Fall von Unverträglichkeiten oder noch höhergradiger Resistenz sogar fast wieder so erfolglos wie vor der antibiotischen Ära. Weltweit sterben heute mehr als eine Million Menschen an der TB-Pandemie, und das jedes Jahr! Dies sollte doch die gleich grosse Beachtung finden und Forschungsanstrengungen auslösen wie die COVID-19-Pandemie 2020!
TB-Bakterien werden ebenso wie die SARS-CoV-2 durch Speicheltröpfchen und Aerosole übertragen. Deshalb haben die TB-Fachpersonen der Lungenligen schon lange Erfahrung, mit Umgebungsuntersuchungen nach Angesteckten zu suchen und damit die TB einzudämmen, genauso wie heute die Corona-Kontakttracer. Wir haben von der TB gelernt, dass Kontrollen an der Landesgrenze, wie das letztes Jahr von einem Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei vehement gefordert wurde, als präventive Massnahme gegen TB allein nicht helfen. Die Schweiz ist weder eine TB- noch eine Corona-Insel!
Viel wichtiger wäre es, die Entwicklung neuer Medikamente auch gegen TB zu unterstützen und insbesondere die sehr teuren Phase-III- und -IV-Studien zur Wirksamkeit von neuen Medikamentenkombinationen zur Behandlung der MDR-TB und von noch extremer resistenten («extensively drug-resistant tuberculosis» [XDR-TB]) Erregern zu finanzieren. Diese können die Pharmafirmen allein nicht stemmen, denn die Kosten sind derart hoch, dass sie von den TB-Kranken selbst nicht zurückbezahlt werden können. Sie leben vorwiegend in Ländern mit den kleinsten oder mittleren Einkommen. Deshalb müssten dringend mehr staatliche Mittel gesprochen werden, genauso grosszügig wie heute für die Forschung über COVID-19.
Der seit 2001 jährlich verliehene «Swiss TB Award» der Schweizerischen Stiftung für Tuberkuloseforschung (www.swisstb.ch) soll dazu beitragen, dass auch in der Schweiz weiter nach neuen Medikamenten und einer Impfung gegen die TB geforscht wird. Einer der Preisträger ist Andreas Diacon [2], der im südafrikanischen Kapstadt lebt und dort die ersten Studien mit dem neuen TB-Medikament Bedaquilin durchgeführt hat. Die Forschergruppe um Stewart Cole an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Lausanne erhielt den Preis für die Entwicklung von PBTZ 169, einer Substanz mit Potenzial für ein neues TB-Medikament [3]. Weitere vielversprechende Moleküle mit neuem Wirkungsansatz sind ebenfalls in den ersten Phasen der klinischen Erprobung [4] .
Es ist heute von grösster Wichtigkeit, Kombinationstherapien zusammen mit den ersten seit Rifampicin (von 1968!) neu zugelassenen Medikamenten (Linezolid, Bedaquilin, Delamanid und, bisher nur in den USA, Pretomanid) zu testen. Die überraschend guten Resultate von 2019 in Südafrika mit drei der neuen Medikamente (Bedaquilin, Linezolid, Pretomanid) – nur während sechs statt den bisher üblichen 12–24 Monate und alle oral verabreicht – sind ein Hoffnungsschimmer, aber bei Weitem nicht die Lösung für die Behandlung der MDR- und XDR-TB. Dies vor allem auch wegen der Nebenwirkungen von Linezolid [5].
Auch bleibt mangels kontrollierter Studien weiter unklar, wie und ob überhaupt Kontaktpersonen von resistenten TB-Patienten präventiv behandelt werden sollen [6]. Deshalb sind Expertenmeinungen heute ebenfalls in der Schweiz gesucht und regelmässige Fortbildung auch für TB mit aktualisierten Übersichtsarbeiten – wie der aktuelle Beitrag von Kaelin et al. [7] in der vorliegenden Ausgabe des Swiss Medical Forum – weiterhin notwendig.
Die TB ist schon seit vielen Jahren die tödlichste Pandemie und man soll auch in der Schweiz immer daran denken!
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Dr. med. Otto Brändli
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