Kontrolle von antimikrobieller Resistenz und COVID-19: Zusammenhang oder Parallelen?
Eine Sondernummer des Swiss Medical Forum im Rahmen der «Antibiotic Awareness Week»

Kontrolle von antimikrobieller Resistenz und COVID-19: Zusammenhang oder Parallelen?

Editorial
Ausgabe
2020/4748
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2020.08638
Swiss Med Forum. 2020;20(4748):672-673

Affiliations
Abteilung Übertragbare Krankheiten, Bundesamt für Gesundheit, Bern, und Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 17.11.2020

In der aktuellen Sondernummer des Swiss Medical Forum diskutieren Forschende die Parallelen und Zusammenhänge zwischen der akuten Bedrohung durch SARS-CoV-2 und der schleichenden Problematik der antimikrobiellen Resistenz.

Am 6. Oktober 2020 vermeldete das COVID-19-Dashboard der Johns Hopkins University 35 576 574 Fälle von COVID-19 weltweit, darunter 1 045 563 Todesfälle [1]. In der Schweiz wurden bis zu diesem Tag 56 632 Krankheitsfälle und 1787 Todesfälle gemeldet [2]. PubMed® verzeichnete bis zu diesem Datum im Jahr 2020 unter dem Suchbegriff «COVID-19» schon die beachtliche Zahl von 61 058 publizierten Artikeln.
Im Jahr 2019 berichtete die «Interagency Coordination Group of Antimicrobial Resistance» in ihrem Bericht an den UN-Generalsekretär («No time to wait: securing the future from drug-resistance infections» [3]),dass weltweit mindestens 700 000 Todesfälle pro Jahr durch ­antibiotikaresistente Erreger verursacht sind, darunter 230 000 durch multiresistente Tuberkulose. Die Autoren schätzen den potentiellen Anstieg im schlimmsten Szenario auf 10 Millionen Todesfälle pro Jahr bis ins Jahr 2050. Gleichzeitig wurden die attributablen Todesfälle durch antimikrobielle Resistenz (AMR) in der Schweiz auf 276 pro Jahr geschätzt [4].In PubMed® lassen sich unter den Begriffen «antibiotic stewardship OR antimicrobial stewardship» im Jahr 2020 bisher nur 1340 Artikel finden, unter den Suchbegriffen «antibiotic resistance OR antimicrobial resistance» lediglich 12 746 Suchresultate. Ob dies die Notwendigkeit aufzeigt, dass sich Forschende auf die akute Bedrohung durch SARS-CoV-2 fokussieren mussten, oder die unterschiedliche Wahrnehmung und Gewichtung der Bedrohung durch AMR, bleibt offen.
Die Krankheitslast durch COVID-19 und diejenige durch AMR sind somit durchaus in einer vergleichbaren Grös­senordnung angesiedelt, wenn auch in ent­wickelten Ländern die Bedrohung durch AMR (noch) weniger stark ausgeprägt ist. Doch wo liegen sonst die Parallelen zwischen der neu entdeckten viralen, primär respiratorischen Infektion und einem Problem, das so alt ist wie die Antibiotika selbst? Sowohl bei COVID-19 als auch bei der AMR dürfte die Dunkelziffer der Krankheitslast die berichteten oder geschätzten Zahlen um ein Mehrfaches übersteigen. Auch bei der AMR zeigt sich eine Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen mit niedrigerem sozioökonomischem Status. Und obwohl AMR alle treffen kann, gibt es wie bei COVID-19 besonders vulnerable Gruppen, insbesondere Personen mit prädisponierenden Vorerkrankungen. Der Stellenwert von infektpräventiven Massnahmen zur Kontrolle der Ausbreitung von COVID-19 ist bis in die breite Bevölkerung unbestritten, bei AMR (zumindest in Fachkreisen) ebenfalls. Als weitere Parallele hat die genetische Sequenzierung als Diagnostiktool bei der Beschreibung der Ausbreitung sowohl von AMR als auch von COVID-19 an Stellenwert massiv gewonnen. Bei beiden Bedrohungen sind innovative Impfprojekte in Forschung und Entwicklung und es bleibt zu hoffen, dass diese in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit baldmöglichst erfolgreich sein werden. Und sowohl für COVID-19 als auch für AMR stehen nur eingeschränkt wirksame Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Letztlich führen uns beide Bedrohungen eindrücklich vor Augen, wie limitiert in einer globalisierten Welt mit teilweise monopolisierten Medikamenten- und Impfstoffmärkten in der von Überfluss verwöhnten Schweiz plötzlich der Zugang zu Antibiotika oder Impfstoffen sein kann. Die Liste an Parallelen könnte wohl noch weiter verlängert werden.
Ob es einen Zusammenhang zwischen der Kontrolle der AMR und COVID-19 gibt, werden die Zukunft und weiterführende wissenschaftliche Analysen zeigen müssen [5]. Während der Pandemie wird ein gesellschaftlicher Hauptfokus auf die Kontrolle von infektiösen ­Gefahren und auf Hygienemassnahmen, insbesondere Distanzregeln, Händehygiene und Flächendesinfektion, gelegt. In Praxis und Spital mussten nicht zwingend notwendige Behandlungen verschoben werden und es könnten so weniger Patienten antibiotisch überbehandelt und damit der Resistenzdruck verringert worden sein. Gleichzeitig ist es aber auch unklar, ob Antibiotic-Stewardship-Anstrengungen während der Krise in gleichem Ausmass stattfinden konnten und wie gezielt der Antibiotika­gebrauch bei COVID-19-Patienten mit vermuteten oder nachgewiesenen bakteriellen Superinfektionen war. Die anekdotische Evidenz aus einzelnen Schweizer Spitälern lässt aber zumindest erhoffen, dass es während dieser Phase weniger Übertragungen von Problemkeimen wie zum Beispiel Vancomycin-resistenten Enterokokken gab. Ob der Netto-Effekt positiv oder negativ war, wird sich im Laufe der Zeit zeigen.
Zwischen den beiden Bedrohungen gibt es aber auch bedeutsame Unterschiede. Im Gegensatz zur Kontrolle der AMR kamen Anfang 2020 im Kontext der anrollenden COVID-19-Welle weltweit die Zutaten für eine erfolgreiche Kurskorrektur rasch zusammen: Dazu gehören unter anderem ein Gefühl von Vordringlichkeit («sense of urgency»), die Zusammenstellung von führenden Koalitionen unter Einbezug einflussreicher Persönlich­keiten, die Entwicklung und Kommunikation von ­gemeinsamen Visionen und Strategien und die Ermächtigung von Individuen, Verantwortung zu übernehmen und Änderungen in Bezug auf die Zielerreichung umzusetzen («empowerment») [6]. Kurzfristig war dieses Rezept in vielen Ländern erfolgreich. Ob diese Anstrengungen auch nachhaltig sein werden, bleibt abzuwarten. Es bleibt aber zu hoffen, dass bei der Aufarbeitung der COVID-19-Pandemie erkannt wird, dass auch andere infektiöse Gefahren – darunter die AMR – ein schleichendes pandemisches Potential haben und längerfristig einen immensen Schaden ver­ursachen können. Und dass bei diesen Bedrohungen rascheres, gezielteres und schlagkräftigeres Handeln notwendig ist.
Programme wie das Nationale Forschungsprogramm «Antimikrobielle Resistenz» (NFP 72) leisten hier­bei einen wichtigen Beitrag. Das NFP 72 erarbeitet ­wissenschaftliche Grundlagen und praxisorientierte Lösungsansätze, um die Problematik von AMR zu überwinden. Es umfasst 45 Forschungsprojekte in drei Modulen («Wie Resistenzen entstehen und sich verbreiten», «Neue Wirkstoffe und schnellere Diagnostik» und «Optimierter Einsatz von Antibiotika»). Das NFP 72 ist stark interdisziplinär aufgestellt und legt grossen Wert auf den «One Health»-Ansatz, also die ­Berücksichtigung sowohl der Humanmedizin, der Tiermedizin wie der Umwelt in Hinblick auf die Problematik von AMR. In der aktuellen Sondernummer des Swiss Medical Forum diskutieren Forschende, die oft auch als Kliniker in die Bewältigung der COVID-19-­Pandemie involviert waren, die Parallelen und Zusammenhänge zwischen der akuten Bedrohung durch SARS-CoV-2 und der schleichenden Problematik der AMR, mit Blick auf unterschiedliche Themen von Dia­gnostik und Surveillance über Stewardship bis zur Verhaltensänderungen in der Bevölkerung. Den Forschenden gebühren Dank und grosse Anerkennung für das Vorantreiben ihrer Forschungstätigkeiten in einer Zeit, wo der Fokus in Klinik, Wissenschaft und Gesellschaft zumindest kurzfristig woanders liegt, wie PubMed® und nicht wissenschaftliche Publikationsorgane eindrücklich zeigen.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Stefan Kuster, MSc, EMBA UZH
Abteilung Übertragbare Krankheiten
Bundesamt für Gesundheit
Schwarzenburgstrasse 157
CH-3003 Bern
und
Universität, Zürich
Stefan.Kuster[at]bag.admin.ch
1 Johns Hopkins University. Coronavirus Research Center. https://coronavirus.jhu.edu/map.html
3 No time to wait: securing the future from drug-resistant infections. Report to the secretary-general of the United Nations, April 2019. Abrufbar unter: www.who.int/antimicrobial-resistance/interagency-coordination-group/IACG_final_report_EN.pdf?ua=1
4 Gasse M, Zingg W, Cassini A, Kronenberg A, Swiss Centre for Antibiotic Resistance. Attributable deaths and disability-adjusted life-years caused by infections with antibiotic-resistant bacteria in Switzerland. Lancet Infect Dis. 2019;19(1):17–8.
5 Rawson TM, Moore LSP, Castro-Sanchez E, Charani E, Davies F, Satta G, et al. COVID-19 and the potential long-term impact on antimicrobial resistance. J Antimicrob Chemother. 20201;75(7):1681–4.
6 Kotter JP, Rathgeber H. Our iceberg is melting: Changing and succeeding under any conditions. New York: St. Martin’s Press; 2006.