Ungewöhnliche Manifestation einer Aortendissektion in der Praxis
Seltene Differentialdiagnose bei Thoraxschmerzen

Ungewöhnliche Manifestation einer Aortendissektion in der Praxis

Der besondere Fall
Ausgabe
2021/0506
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08547
Swiss Med Forum. 2021;21(0506):93-96

Affiliations
a Hausarztpraxis, Botenhof AG, Eich, Luzern; b Hausarztpraxis, Pilatus Praxis, Luzern; c Institut für Hausarztmedizin & Community Care Luzern, Departement Gesundheitswissenschaften und Medizin, Universität Luzern

Publiziert am 02.02.2021

Ein 53-jähriger Patient stellte sich mit zirka sechs Stunden zuvor plötzlich eingetretenen, brennenden, thorakalen Schmerzen in der Hausarztpraxis vor.

Hintergrund

Patienten mit thorakalen Schmerzen sind in der Hausarztpraxis sowie auf Notfallstationen häufig. In vielen Fällen handelt es sich dabei um eine harmlose, muskuloskelettale Ursache, jedoch sollten weitere, potentiell lebensbedrohliche Differenzialdiagnosen (z.B. akutes Koronarsyndrom, Lungenembolie, Aortendissektion, Spannungspneumothorax) ausgeschlossen werden. Im vorliegenden Fall berichten wir über eine atypische Manifestation einer Aortendissektion in der Hausarztpraxis, die aufgrund einer thorakalen Hautveränderung initial als Herpes Zoster interpretiert wurde.

Fallbeschreibung

Anamnese

Ein 53-jähriger Patient stellte sich mit vor zirka sechs Stunden plötzlich eingetretenen, brennenden, thorakalen Schmerzen in der Hausarztpraxis vor. Bereits zuvor hatte er sich etwas müde und körperlich nicht leistungsfähig gefühlt. Der Beginn der Schmerzen sei plötzlich gewesen und sie seien mit einem Druckgefühl mittig auf der Brust verbunden gewesen. Dieses Druckgefühl sei im späteren Verlauf in den Bereich der linken Thoraxhälfte gewandert und dort hätte sich eine «punkt- bis fleckenförmige» Rötung abgezeichnet. Eine topische Medikamentenapplikation wurde vom Patienten verneint. Bis auf eine leichtgradige arterielle Hypertonie (behandelt mit Perindopril 5 mg täglich) war der Patient bis anhin gesund gewesen. In der persönlichen Anamnese zeigte sich ein persistierender Nikotinabusus (ca. 40 packyears), jedoch keine vorgängigen thorakalen oder pektanginösen Beschwerden.

Status

Der Patient präsentierte sich in leicht reduziertem Allgemeinzustand. Kardial zeigten sich rhythmische, reine Herztöne ohne pathologische Geräusche und an den Oberarmen beidseits normotone Blutdruckwerte (links: 120/63 mm Hg, rechts: 116/63 mm Hg). Der Pulsstatus gestaltete sich unauffällig. Im Bereich der Dermatome Th 5/6 fand sich linksseitig eine scharf begrenzte, die Mittellinie nicht überschreitende, erythematöse Makula in segmentaler Anordnung. Vesikel fanden sich keine. Die thorakalen Schmerzen waren auf Druck nicht reproduzierbar.

Befunde

Im Ruhe-EKG zeigten sich ein normokarder Sinusrhythmus, keine ST- Streckenveränderungen, jedoch T-Negativierungen in den Ableitungen III, aVF sowie V4–V6 (Abb. 1). Mit einer Kreatinkinase (CK) von 113 U/l und einem Troponin I von <10 ng/l fanden sich im Labor keine Auffälligkeiten.
Abbildung 1: Ruhe-EKG (rot eingekreist: unspezifische ­T-Negativierungen).

Beurteilung und Therapie

Bei unspezifischen T-Negativierungen und unauffälligen Herzenzymen wurde ein akutes Koronarsyndrom als unwahrscheinlich eingestuft. Aufgrund des leicht reduzierten Allgemeinzustandes und den linksseitigen thorakalen Schmerzen mit dermatombezogener, erythematöser Makula wurde bei Verdacht auf einen beginnenden Herpes Zoster eine Therapie mit Valacyclovir (3× 1000 mg/Tag für 7 Tage) sowie Analgesie mit Paracetamol (3× 1 g/Tag) und Metamizol 500 mg (4× 2/d) eingeleitet.

Verlauf

Aufgrund des Verdachtes auf einen Herpes Zoster wurde eine Verlaufskontrolle nach drei Tagen vereinbart, bei welcher der Patient berichtete, dass die Hautveränderung binnen eines Tages langsam wieder verblasst und dann nicht wieder aufgetaucht sei. Neu beklagte er nun jedoch ein wiederkehrendes, belastungsabhängiges thorakales Druckgefühl.
Im körperlichen Untersuch war die makulöse Hautveränderung nicht mehr sichtbar. Bei Auskultation im Stehen respektive Sitzen fiel neu ein Perikardreiben auf. Aufgrund der Beschwerden erfolgte eine weiterführende Abklärung mit erneuter Bestimmung der Herzenzyme, einem Blutbild, einem weiteren EKG sowie einem grobkursorischen Ultraschall mit kardiovaskulärem Fokus.
Im Labor fanden sich erneut negative Herzenzyme (CK 50 U/l), jedoch erhöhte Infektparameter (Leukozyten 15,6 G/l, CRP 113 mg/l). Das EKG ergab keine Dynamik zum Voruntersuch. Im Ultraschall zeigten sich eine normkalibrige abdominale Aorta ohne einsehbare Plaque und ein kleiner Perikarderguss (Abb. 2).
Abbildung 2: Ultraschall, Schnitt von subxiphoidal: weisser Pfeil = Perikarderguss.
Aufgrund der Befunde eines Perikardergusses, der erhöhten Infektparameter und des belastungsabhängigen thorakalen Druckgefühls erfolgte schliesslich die Überweisung auf die Notfallstation bei Verdacht auf eine Perikarditis. Dort wurde der Perikarderguss durch eine Echokardiographie bestätigt und aufgrund von zusätzlich erhöhten D-Dimeren (901 ng/ml) eine Computertomographie (CT) mit Frage nach Lungenembolie, kardialen Stauungszeichen sowie pulmonalen Infiltraten durchgeführt. Erst bei der CT-Befundung stellte sich schliesslich eine Aortendissektion Typ Stanford A mit Aneurysma der Aorta ascendens (maximaler Durchmesser 54 mm) und Ausdehnung in den Truncus brachiocephalicus bei regelrechter Perfusion der Koronararterien aus dem wahren Lumen heraus. Zudem zeigte sich ein langstreckiges, aortales, intramurales Hämatom.
Es erfolgte die notfallmässige operative Versorgung mittels Aortenwurzelersatz mit einem «Composite Graft» sowie Ascendens- und Hemibogenersatz. Der postoperative Verlauf gestaltete sich insgesamt komplikationslos. Der Patient wurde weiter in der ambulanten Kardiorehabilitation sowie hausärztlich betreut. Bis auf eine noch bestehende Leistungsminderung sowie Schmerzen im Bereich der Thorakotomienarbe fühlt sich der Patient rund drei Monate nach dem Eingriff in einem guten Zustand.

Diskussion

In der Standford-Klassifikation wird die Aortendissektion in einen proximalen, zum Herzen nahegelegen (Typ A) und einen distalen (Typ B) Befall der Aorta eingeteilt. Ferner wird aufgrund der Symptomdauer eine «akute» (<14 Tage) und «chronische» (>14 Tage) Form unterschieden. Die Tatsache, ob die Aorta ascendens mitbetroffen ist, ist auch für die Behandlung von gros­ser Bedeutung. In der Regel werden eine akute Typ-A-Aortendissektion chirurgisch und eine akute Typ-B-Aortendissektion konservativ oder mittels katheterbasiertem Verfahren behandelt.
Epidemiologische Untersuchungen zeigen eine Inzidenz der akuten Aortendissektionen von 2–4/100 000 Personenjahren mit deutlicher Bevorzugung des männlichen Geschlechts (80–90%). Das akute Aortensyndrom äussert sich in akut auftretenden thorakalen Schmerzen von vernichtendem Charakter in >80% der Fälle. Die Lokalisation des thorakalen Schmerzes ist bei Typ-A-Dissektion häufig ventral und bei Typ-B-Dissektion dorsal interskapulär angegeben. Synkopen finden sich bei 5–10% der Patienten mit Dissektion als Hinweis für eine Perikardtamponade oder Dissektion in die supraaortalen Arterien.
Arterielle Hypertonie kommt bei >70% der Patienten vor. Hypotonien finden sich eher bei Typ-A-Dissektionen als Folge der Aortenklappeninsuffizienz oder als Zeichen der Herzbeuteltamponade oder auch vasovagal aufgrund der Schmerzen. Pulsdefizite treten häufig bei Dissektion im Aortenbogen oder in der thorako­abdominellen Aorta auf.
Da die aortale Dissektion bei Nichterkennen mit einer hohen Morbidität verbunden ist, gilt es, bei suggestiver Klinik die Verdachtsdiagnose rasch zu erheben und abzuklären.
Eine atypische Klinik bei Typ-A-Aortendissektion wird in der Literatur in einer Häufigkeit von ca. 20% beschrieben. Wobei sich Patienten mit einer akuten Typ-A-Dissektion und Beteiligung respektive Malperfusion der supraaortalen Gefässe oft unter dem Bild einer Synkope präsentieren und primär neurologisch behandelt werden. Eine chronische Aortendissektion (>14 Tage) ist üblicherweise asymptomatisch und wird oft als Zufallsbefund entdeckt.
Im vorliegenden Fall wurde initial aufgrund der Trias (reduzierter Allgemeinzustand, makulöses, dermatombezogenes Erythem sowie Schmerzen thorakal linksseitig) an einen Herpes Zoster gedacht und eine kardiale Genese bei unspezifischen EKG-Veränderungen sowie negativen Herzenzymen in den Hintergrund gestellt. Wobei zu sagen ist, dass der Herpes Zoster in der Praxis mit einer Inzidenz von 1000/100 000/Jahr im Vergleich zur Aortendissektion mit 2–4/100 000/Jahr deutlich häufiger vorzufinden ist. Aktuell geht man von einem Patientenstamm von ca. 1200 pro Hausarzt aus. Rechnet man dies hoch, so sieht ein Hausarzt jährlich ca. 10–12 Patienten mit einem Herpes Zoster, eine Aortendissektion hingegen nur etwa alle 20 Jahre.
Das plötzliche Einsetzen der Schmerzen, einige Risikofaktoren (Alter und Geschlecht des Patienten, arterielle Hypertonie, Nikotinabusus) sowie die unspezifischen EKG-Veränderungen gaben Hinweise, die für eine Dissektion sprechen und mit dem Herpes Zoster nicht gänzlich erklärt werden können. Auch in der initialen Fragestellung an die Radiologie auf der Notfallstation wurde jedoch in erster Linie nicht an eine Aortendissektion gedacht, sondern an eine Lungenembolie, kardiale Stauungszeichen oder pulmonale Infiltrate. Die Diagnose Aortendissektion kam daher eher überraschend. Durch Rekonstruktionen des initial durchgeführten Lungenembolie-CT (leider keine optimale arterielle Phase) konnte der Abgang der Interkostalarterien rechtsseitig klar veranschaulicht werden, wogegen sich die Abgänge auf Höhe TH 4–6 linksseitig kaum darstellen liessen, bei sichtbarem in­tramuralem Hämatom (Abb. 3 und 4).
Abbildung 3: «Curved planar reconstruction» der Lungenembolie-Computertomographie: ­Abgang der Interkostalarterien rechts (weisse Pfeile); aortales intramurales Hämatom (*). ­Die Abbildung wurde von PD Dr. med. Justus Roos, Chefarzt Radiologie, Luzerner Kantonsspital, freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Abbildung 4: «Volume rendering» aus der Lungenembolie-Computertomographie. Abgänge der Interkostalarterien (Pfeile): Abgänge Rippe 2 und 3; im ­Bereich der Rippen 4–6 (R4–6) keine Gefässe darstellbar. Die Abbildung wurde von PD Dr. med. Justus Roos, Chefarzt Radiologie, Luzerner Kantonsspital, freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
In Anbetracht dieser Kenntnisse könnte auch die These gestellt werden, dass aufgrund des intramuralen Hämatoms eine Minderperfusion der linksseitigen Intervertebralarterien auf Höhe Rippe 4–6 vorlag. Hier würde man allerdings als kutane Reaktion eher eine Blässe oder allenfalls Livedo und keine erythematöse Makula erwarten.
Eine alleinige erythematöse Makula kann initial beim Herpes Zoster auftreten. Es käme dann aber innerhalb von 12–24 Stunden zu einer Vesikelbildung. Schmerzen könnten im Rahmen eines Herpes Zoster ebenfalls vor der Hautveränderung auftreten und ein Ausbleiben der Hautreaktion bei rascher Initiierung der Therapie wäre allenfalls denkbar. Bei der Nachkontrolle drei Tage nach Symptombeginn wurde an der Therapie mit Val­acyclovir für insgesamt sieben Tage weiter festgehalten, obwohl der Patient zu diesem Zeitpunkt ein unauffälliges Integument aufwies. Allerdings sprach die Anamnese mit Verblassen des Exanthems binnen eines Tages klar gegen die Verdachtsdiagnose eines Herpes Zoster.
Die initiale Hautveränderung wurde nicht fotografisch dokumentiert. Retrospektiv könnte das Erythem allenfalls auch als eine makulöse Veränderung im Sinne einer Livedo interpretiert werden, was die These der Hypoperfusion durch die Dissektion eher stützen würde. Schlussendlich lässt sich retrospektiv jedoch nicht eindeutig klären, was die makulöse Hautveränderung verursachte.

Das Wichtigste für die Praxis

• Die Aortendissektion ist eine seltene, jedoch potentiell lebensbedrohliche Differentialdiagnose bei Thoraxschmerzen.
• Auch in der Hausarztpraxis sollte man die Pathophysiologie und Klinik seltener Differenzialdiagnosen wie einer Aortendissektion stets im Hinterkopf behalten und sich nicht von unspezifischen Symptomen oder Häufigkeiten beirren lassen.
• Da die aortale Dissektion bei Nichterkennen mit einer hohen Morbidität und Mortalität verbunden ist, gilt es, bei suggestiver Klinik, die Verdachtsdiagnose rasch zu erheben und eine adäquate Behandlung einzuleiten.
• Die akute Aortendissektion präsentiert sich nicht immer mit einer typischen Klinik und sollte daher auch bei geringem Verdacht aktiv gesucht respektive ausgeschlossen werden.
Andreas Kurmann, dipl. Arzt
Pilatus Praxis
Hallwilerweg 2
CH-6003 Luzern
botenhofag[at]hin.ch
1 Divchev D, Najjar T, Tillwich F, Aboukoura M, Rehders T, Nienaber CA. Risk assessment of acute aortic dissection. Dtsch Med Wochenschr. 2014;139(39)1947–51.
2 Raffa GM, Pilato M, Armaro A, Ruperto C, Gentile G, Follis F. Chronic Stanford type A aortic dissection. J Cardiovasc Med (Hagerstown). 2016;17 Suppl 2:e138–e140.
3 Husmann M. Aortenaneurysma und -dissektion: Pathophysiologie, Epidemiologie und Diagnostik. Zeitschrift für Gefäßmedizin. 2015:12(2):4–8.