Eine eigenwillige Hypotonie
Auf der Suche nach einer Ursache

Eine eigenwillige Hypotonie

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2021/3940
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08685
Swiss Med Forum. 2021;21(3940):672-674

Affiliations
a Université de Lausanne; b Service de médecine interne, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne; c Service d’immunologie et allergie, CHUV, Lausanne; d Département de médecine interne, CHUV, Lausanne

Publiziert am 29.09.2021

Ein 81-jähriger Patient wird aufgrund der Verschlechterung seines Allgemeinzustands ins Spital eingeliefert. Er berichtet von Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust seit einigen Tagen.

Fallbeschreibung

Ein 81-jähriger Patient wird aufgrund der Verschlechterung seines Allgemeinzustands ins Spital eingeliefert. Er berichtet von Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust von 4 kg seit ­einigen Tagen. Seit zwei Monaten erhält er Ipilimumab und Nivolumab (die letzte Dosis vor zwei Wochen; beides Immuncheckpoint-Inhibitoren) zur Behandlung eines Nierenzellkarzinoms, aufgrund dessen er rechts bereits einer Nephrektomie unterzogen wurde. Er leidet an chronischer Niereninsuffizienz im Stadium G3aA1 sowie an Hypertonie, die mit Enalapril behandelt wird. Im Status finden sich ein «Glasgow Coma Score» (GCS) von 15/15, eine Herzfrequenz (HF) von 104/min, ein Blutdruck (BP) von 90/56 mm Hg, eine Atemfrequenz (AF) 27/min sowie eine Sättigung von 94%. Der Patient hat 38,4 °C Fieber. Die Lungenauskultation ergibt knisternde Rasselgeräusche basal beidseits. Der übrige Status ist unauffällig. Die paraklinische Untersuchungen ergeben eine Leukozytenzahl von 11,5 G/l (Norm [N]: 4–10), ein Hämoglobin von 166 g/l (N: 133–177), eine Thrombozytenzahl von 125 G/l (N: 150–350; in der Regel im Normalbereich), eine Natriämie von 134 mmol/l (N: 135–145), Kaliämie von 5,4 mmol/l (N: 3,5–4,6), Kreatininämie von 219 mmol/l (N: 62–106; in der Regel bei 120), ein Gesamtbilirubin von 7 µmol/l (N: 0–21), ein C-reaktives Protein (CRP) von 41 mg/l (N: <10) sowie normale Leberwerte und ein unauffälliges Blutbild. Arterielle Blutgasanalyse mit pH 7,33 (N: 7,35–7,45), Kohlendioxid-Partialdruck (pCO2) 31,7 mm  Hg (N: 35–45), Sauerstoff-Partialdruck (pO2) 95 mm Hg (N: 73–103), Bikarbonat 18,2 mmol/l (N: 22–26), Laktat 1,51 mmol/l (N: 0,63–2,44). In der Thorax-Röntgenuntersuchung findet sich eine Verschattung der rechten Lungenbasis, vereinbar mit einem alveolären Syndrom.

Frage 1: Welche zusätzliche Untersuchung ist in diesem Stadium am wenigsten indiziert?


a) Thorakoabdominale Computertomographie
b) Blutkulturen
c) PCR-Untersuchung des Stuhls auf Campylobacter jejuni, Clostridioides difficile, Salmonella spp., Shigella spp.
d) Urinuntersuchung und -kultur
e) Legionella-pneumophila-Antigen im Urin
Angesichts eines solchen klinischen Bildes sollte ­zunächst nach einem infektiösen Fokus gesucht werden. Es werden daher zwei Paare von Blutkulturen und eine Urinkultur angelegt. Bei einem Patienten unter Immunsuppression sollte im Zusammenhang mit akutem Durchfall und Fieber der Stuhl auf Erreger, die man mit einer bakteriellen Gastroenteritis in Verbindung bringen könnte, untersucht werden. Zudem wird im Rahmen des Infektionsherdes, der im Thorax-Röntgen festgestellt wurde, nach Legionella-(L.-)pneumophila-Antigen im Urin gesucht. Für eine thorakoabdominale Computertomographie (CT) ist es innerhalb des diagnostischen Prozesses jedoch noch zu früh.

Frage 2: Wie lautet Ihre Differenzialdiagnose?


a) Sepsis pulmonalen Ursprungs
b) Zytokin-Freisetzungssyndrom
c) Nebenniereninsuffizienz
d) Sepsis digestiven Ursprungs
e) Alle Antworten sind korrekt
Tachypnoe, arterielle Hypotonie und Fieber deuten in erster Linie auf eine Sepsis, bestätigt mit einem Delta-SOFA-Score («Sequential Organ Failure Assessment») von 3 (der basale SOFA-Score des Patienten betrug 1, der neue Score-Wert hingegen 4). Denkbar ist eine pulmonale oder digestive Ursache. Bei vorliegender Hypotonie und bei Immuntherapie ist ausserdem eine Nebenniereninsuffizienz in Betracht zu ziehen. Möglicherweise liegt bei diesem Patienten das Zytokin-Freisetzungssyndrom (CRS) vor. Hierbei handelt es sich um eine systemische Entzündungsreaktion, die normalerweise unmittelbar nach Infusionen im Rahmen einer Chemotherapie oder von Biologika auftritt. Das CRS kann sich in Form vielfältiger Symptome äussern – von leichten grippeähnlichen Symptomen bis hin zu schweren, lebensbedrohlichen Manifestationen. Zu den benignen Symptomen gehören Fieber, ­Müdigkeit, Kopfschmerzen, Arthralgie, Myalgien, Hypotonie, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Atemwegssym­ptome bis hin zum Atemnotsyndrom in den schwersten Ausprägungen [1]. Allerdings spricht das späte Auftreten nicht für eine solche Ätiologie.
Angesichts dieser unterschiedlichen Ergebnisse und des starken Verdachts auf eine Sepsis pulmonalen oder gastrointestinalen Ursprungs bei einer immungeschwächten Person wird eine Antibiotikatherapie mit Piperacillin-Tazobactam begonnen. Am Tag darauf verschlechtert sich Allgemeinzustand des Patienten, mit einer mittleren arteriellen Hypotonie von 50 mm Hg, einer HF von 130/min, Temperatur von 38,6 °C und einer AF von 28/min. Im Status werden eine marmorierte Verfärbung der Haut und kalte Extremitäten festgestellt. Der arterielle Laktatspiegel beträgt 1,04 mmol/l. Laborchemisch finden sich eine Natri­ämie von 133 mmol/l, Kaliämie von 5,2 mmol/l, Kreatininämie von 348 mmol/l, ein CRP von 180 mg/l und eine Leukozytose von 13,9 G/l. Blutkulturen und Urinkultur sind steril, die Untersuchung auf das L.-pneumophila-Antigen im Urin ist negativ, ebenso die PCR-­Untersuchung der Stuhlprobe. Der Patient benötigt reichliche Flüssigkeitszufuhr und Noradrenalin, um einen mittleren arteriellen Druck von über 65 mm Hg zu gewährleisten.

Frage 3: Was ist beim weiteren Management erforderlich? (Mehrere Antworten möglich)


a) Thorakoabdominale CT
b) Bestimmung des Plasmacortisols
c) Einführung von Meropenem
d) Einführung von Dobutamin
e) Bestimmung der Tryptase
Bei einem Patienten mit Fieber und Hypotonie, der nicht auf eine empirische Antibiotikatherapie anspricht, sollte eine thorakoabdominale CT erfolgen, um nach einem tiefliegenden Infektionsherd zu suchen. Der mittels Immuntherapie behandelte Patient ist auf eine Nebenniereninsuffizienz hin zu untersuchen. Die Umstellung der Antibiotikatherapie mit Carbapenem ist nicht erforderlich, da keine Hinweise auf Enterobakterien vorliegen, die Beta-Laktamase mit erweitertem Spektrum erzeugen. Ferner sollte bei Behandlung des kardiogenen Schocks erwogen werden, aufgrund seiner inotropen und chronotropen Eigenschaften Dobutamin zu verabreichen. Der Patient zeigt angesichts eines normalen EKGs und pro-BNP-Spiegels keine Anzeichen einer Herzfunktionsstörung. Im Kontext einer Hypotonie nichtallergischen Ursprungs ist ein Tryptasetest nicht sinnvoll.
Die thorakoabdominale CT zeigt keinen tiefliegenden Infektfokus, bestätigte jedoch nicht den pulmonalen Herd, der auf dem Thorax-Röntgenbild rechtsbasal entdeckt wurde. Der Plasmacortisolspiegel beträgt um 8 Uhr morgens 20 nmol/l (N: 110–520).

Frage 4: Wie interpretieren Sie dieses Ergebnis?


a) Die Untersuchung sollte durch die Bestimmung anderer Nebennierenhormone (Aldosteron, Katecholamine) ergänzt werden.
b) Es sollte ein Synacthen-Test erfolgen.
c) Die primäre Nebenniereninsuffizienz ist damit nachgewiesen.
d) Die Nebenniereninsuffizienz ist damit nachgewiesen. Es sollte der ACTH-Spiegel bestimmt werden.
e) Die Nebenniereninsuffizienz ist damit nachgewiesen. Es sollten die anderen Hypophysenhormone (TSH, FSH, LH, GH, PRL) bestimmt werden.
Durch einem Cortisolspiegel von über 550 mol/l um 8 Uhr morgens kann eine Nebenniereninsuffizienz plausibel ausgeschlossen werden; ein Wert unter 85 nmol/l bestätigt sie hingegen [2]. Liegt der Wert in der Grauzone (zwischen 85 und 550 nmol/l), muss zur Bestätigung der Nebenniereninsuffizienz ein Synacthen-Stimulationstest erfolgen. Als Differenzierung zwischen primärer und ­sekundärer Nebennieren­insuffizienz ist ein ACTH-Plasmaspiegel von 2 ng/l erforderlich (N: 9–50). Es ist damit eine sekundäre Nebenniereninsuffizienz nachgewiesen. Man beachte, dass die Bestimmung anderer Nebennieren- und Hypo­physenhormone nicht zur Differenzierung zwischen einem primären und sekundären Ursprung beiträgt.
Der Patient erhält einen Bolus von 100 mg Hydrocortison i.v., der ihn von den Aminen befreien und einen normalen Blutdruck wiederherstellen sollte. Die Hy­drocortison-Behandlung wird auf 3× 50 mg i.v. täglich angepasst, und der weitere Verlauf ist zufriedenstellend.

Frage 5: Um welche Untersuchung ergänzen Sie diese Laborresultate?


a) Hirn-Magnetresonanztomographie
b) Echokardiographie
c) Nebennieren-CT
d) PET-CT
e) Keine der Antworten ist korrekt
Eine Hirn-Magnetresonanztomographie (-MRT) ist indiziert, um bei sekundärer Nebenniereninsuffizienz und Immuntherapie nach einer Hypophysenerkrankung zu suchen. Eine Echokardiographie ist ohne Hinweis auf einen kardiogenen Schock nicht sinnvoll. Eine abdominale CT ist indiziert, wenn eine primäre Nebenniereninsuffizienz nachgewiesen wurde, um die Ursache der Nebennierenerkrankung (Neoplasie, Blutung, Infektion) zu ermitteln. Eine Positronenemmissionstomographie-(PET-)CT ist in diesem klinischen Kontext nicht sinnvoll.
Aufnahmen der Hirn-MRT des Patienten sind in ­Abbildung 1 dargestellt. Sie zeigen eine normal grosse Hypophyse ohne Hinweise auf einen Tumor, eine Blutung oder Infektion. Dies deutet in Richtung einer Hypophysitis, auch wenn keine radiologischen Hinweise vorhanden sind. Die finale Verdachtsdia­gnose ist also eine sekundäre Nebenniereninsuffizienz im Zusammenhang mit einer Hypophysitis unter Immuntherapie.
Abbildung 1: Hirn-Magnetresonanztomogramm, das eine unauffällige, nicht tumoröse Hypophyse zeigt, die keinen Kontrast aufnimmt (Pfeil). A) Sagittalschnitt, T1-gewichtete Spin-Echo-Aufnahme mit Gadolinium-Injektion. B) Axialschnitt, T1-­gewichtete Spin-Echo-Aufnahme mit ­Gadolinium-Injektion. Wir danken Dr. Silvia Pistocchi und Prof. Philippe Maeder (Abteilung für Radiodiagnostik und interventionelle Radiologie, ­Universitätsspital Lausanne) für die Auswertung dieser Aufnahmen.
Der Patient wird mit einer morgens einzunehmenden Dosis Hydrocortison von 20 mg p.o. und – für den Fall, dass er am Tagesende eine besondere Aktivität plant –einer Reservedosis von 10 mg p.o. für den Nachmittag entlassen. Eine endokrinologische Nachbetreuung ist eingeleitet.

Diskussion

Die Inzidenz einer Nebenniereninsuffizienz als Folge einer immuntherapiebedingten Hypophysitis variiert je nach Art des verwendeten Checkpoint-Inhibitors. Bei einer dualen Therapie mit einem Anti-CTLA-4- (Ipilimumab) und einem Anti-PD1- (Nivolumab, Pembrolizumab) oder Anti-PD-L1-Antikörper (Atezolizumab, Avelumab, Durvalumab) beispielsweise wurde eine ­Inzidenz von 6,4% geschätzt [3]. Dabei kann das klinische Bild dem einer akuten Hypophysenerkrankung ähneln: Kopfschmerzen, Erbrechen, plötzliche Minderung der Sehschärfe, Meningismus, Hypotonie; dies kann zu einem Schock führen, wenn der Verlust der Hypophysenfunktion plötzlich eintritt und schwerwiegend ist [4].
Was die Pathophysiologie betrifft, bewirkt der Rückgang des von der Hypophyse ausgeschütteten ACTH eine verminderte Glukokortikoidsekretion aus der ­faszikulären Zone der Nebenniere. Dieser Cortisolmangel kann zur Entwicklung einer Hypotonie beitragen, indem er die vaskuläre Reaktion auf Angiotensin II und Noradrenalin verringert. Ausserdem bewirkt er eine Reduzierung der Reninsynthese sowie eine ­Erhöhung der Prostazyklinproduktion.
Die Diagnose basiert auf der Bestimmung des Plasmacortisols, wenn ein klinischer und paraklinischer Verdacht vorliegt. Für die nächste zusätzliche Untersuchung ist dann der ACTH-Plasmawert ausschlaggebend. Im Falle ­einer primären Nebenniereninsuffizienz (mit erhöhtem ACTH) ist eine CT-Untersuchung des Abdomens im Hinblick auf einen Tumor, eine Blutung oder Infektion der Nebenniere indiziert. Wird jedoch eine sekundäre Nebenniereninsuffizienz (mit niedrigem ACTH- oder ACTH-Spiegel im unteren Normbereich) diagnostiziert, erfolgt eine Hirn-MRT, um einen raumfordernden hypothalamisch-hypophysären Prozess oder ein Empty-Sella-Syndrom als möglichen Hinweis auf eine Hypophysitis auszuschliessen.
Die Behandlung der akuten Nebenniereninsuffizienz basiert auf der intravenösen Verabreichung von Hy­drocortison. Anschliessend wird die Hydrocortison-Dosis schrittweise reduziert, und wenn sich der Patient stabilisiert hat, geht man zu oraler Verabreichung über. Der auslösende Faktor ist zu korrigieren.
Abschliessend lässt sich sagen, dass die Immuntherapie das onkologische Management radikal verändert hat, indem sie eine deutlich verbesserte Prognose vieler Krebsarten ermöglicht. Angesichts der zahlreichen immuninduzierten (darunter auch endokrinologischen) unerwünschten Wirkungen sollte bei der ­Differentialdiagnose einer ungeklärten Hypotonie ohne offensichtlichen alternativen Ansatzpunkt eine Nebenniereninsuffizienz mit hohem klinischem ­Verdacht in Betracht gezogen werden. Die Bedeutung der Bestimmung von Plasmacortisol und ACTH ist unbestritten und steuert die weitere Vorgehensweise bei der Suche nach der zugrunde liegenden Ursache.

Antworten:


Frage 1: a. Frage 2: e. Frage 3: a und b. Frage 4: d. Frage 5: a.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Raphaël Porret, dipl. Arzt
Service d’immunologie et allergie
Département de médecine
Rue du Bugnon 46
CH-1011 Lausanne
raphael.porret[at]chuv.ch
1 Shimabukuro-Vornhagen A, Gödel P, Subklewe M, Stemmler HJ, Schlößer HA, Schlaak M, et al. Cytokine release syndrome. J immunotherapy cancer. 2018;6:56.
2 Collomb B, Oboni JB, Vollenweider P, Waeber G. Mon patient souffre-t-il d’une insuffisance corticosurrénalienne? Rev Med Suisse. 2014;10:2014–7.
3 Barroso-Sousa R, Barry WT, Garrido-Castro AC, Hodi FS, Min L, Krop IE. Incidence of endocrine dysfunction following the use of different immune checkpoint inhibitor regimens – a systematic review and meta-analysis. JAMA Oncol. 2018;4(2):173–82.
4 Randeva HS, Schoebel J, Byrne J, Esiri M, Adams CBT, Wass JAH. Classical pituitary apoplexy: clinical features, management and outcome. Clinical Endocrinology. 2001;51:181–8.
5 Martins F, Sofiya L, Sykiotis GP, Lamine F, Maillard M, Fraga M. Adverse effects of immune-checkpoint inhibitors: epidemiology, management and surveillance. Nat Rev Clin Oncol. 2019;16(9):563–80.