Chronischer Schmerz – vom Symptom zur Krankheit
Wenn Schmerzen trotz korrekter Behandlung weiterbestehen

Chronischer Schmerz – vom Symptom zur Krankheit

Editorial
Ausgabe
2021/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08708
Swiss Med Forum. 2021;21(1314):207-208

Affiliations
Institut für Anästhesiologie, Universitätsspital Zürich

Publiziert am 31.03.2021

Wenn Schmerzen trotz korrekter Behandlung weiterbestehen.

Die Behandlung chronischer Schmerzen stellt Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten ­weiterhin vor grosse Herausforderungen. Dies mag ­zumindest teilweise damit zusammenhängen, dass Schmerz nach wie vor nur als Sym­ptom einer ­zugrunde liegenden Verletzung oder Erkrankung gesehen wird und nach deren Heilung respektive erfolgreichen Behandlung abklingen sollte. Schmerz als unleid­liche Begleiterscheinung – diese Vorstellung ist ­sowohl bei Ärztinnen und Ärzten als auch Patientinnen und Patienten gleichermassen präsent. Und die Erwartungshaltung an eine schmerzlindernde Behandlung ist hoch: Wurden wir doch von Kindsbeinen an daran gewöhnt, dass man nichts weiter zu tun braucht, als eine Tablette zu schlucken, und nach kurzer Zeit ist alles wieder gut! Entsprechend gross sind Enttäuschung und Verzweiflung der Betroffenen, wenn Schmerzen trotz korrekter Behandlung und vollständiger Heilung weiterbestehen. Enttäuschung oder ­Verzweiflung können sich in solchen Situationen manchmal auch bei der Therapeutin oder dem Therapeuten bemerkbar machen, und der Griff zum nächstpotenteren Analgetikum mag verlockend erscheinen. Dass der Schmerz hier nicht mehr nur ein Begleitsymptom, sondern eine eigenständige chronische Erkrankung darstellen kann – dieser Gedanke scheint erst langsam in den Köpfen der Fachpersonen, aber auch der Betroffenen Fuss zu fassen.
Einen eminent wichtigen Schritt in der Akzeptanz chronischer Schmerzen als eigenständige Erkrankung hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Kurzem getan: Im neu aufgelegten internationalen Diagnose-Klassifikationssystem ICD-11 räumt sie erstmals die Möglichkeit ein, chronische Schmerzen als unabhängige Diagnose zu erfassen [1]. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen chronischen ­sekundären Schmerzen, bei denen der Schmerz weiterhin Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung ist, und chronischen primären Schmerzen, wo keine eindeutige Ursache des Schmerzes (mehr) fassbar ist. Chronische primäre Schmerzen sind sinngemäss ­definiert als «Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, welche über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten auftreten und mit signifikantem emotionalem Leiden und funktioneller ­Beeinträchtigung verbunden sind (d.h. Einschränkungen in Aktivitäten des täglichen Lebens oder der sozialen Rollen) und durch keine andere Diagnose besser erklärbar sind» [2].
Aus schmerzmedizinischer Sicht werden unter anderem Erkrankungen wie die Fibromyalgie oder das Reizdarmsyndrom zu den chronischen primären Schmerzen gezählt [3]. Ein weiteres Krankheitsbild, das in diese Kategorie eingeordnet wird, ist das komplexe ­regionale Schmerzsyndrom («complex regional pain syndrom» [CRPS]), dem das Swiss Medical Forum in ­dieser und der nächsten Ausgabe einen zweiteiligen Übersichtsartikel widmet. Das CRPS ist in vielerlei ­Hinsicht paradigmatisch für chronische Schmerzerkrankungen: Es handelt sich um überproportionalen Schmerz, der trotz Abheilen der ursprünglichen ­Läsion weiterbesteht. Es finden sich Zeichen gesteigerter Empfindlichkeit, möglicherweise auch Hinweise auf generalisierte Sensibilisierung. Der genaue Pathomechanismus ist unbekannt, dennoch sind subjektiver Leidensdruck und funktionelle Einschränkungen enorm. Der Invaliditätsgrad ist hoch, je nach Quelle 30% bis >50% [4, 5], und Betroffene haben neben den Schmerzen oftmals mit erheblichen beruflichen, sozialen und finanziellen Konsequenzen zu kämpfen. Einzig eine multimodale und multidisziplinäre Therapie vermag der Vielschichtigkeit dieser Problematik gerecht zu werden.
Die beiden Artikel von Harnik und Kollegen bringen die genannten Gesichtspunkte in einen sinnvollen ­Gesamtkontext. Sie beleuchten in einem ersten Teil [6] die Epidemiologie und sozioökonomischen Faktoren der Erkrankung, diskutieren aktuelle pathophysiologische Auffassungen und beschreiben die derzeit geltenden Diagnosekriterien und Differenzialdiagnosen. Der zweite Teil [7] widmet sich schwerpunktmässig den verschiedenen Therapieansätzen des CRPS. Besondere Beachtung verdient dabei der Umstand, dass bei der Therapie nicht nur dem Erhalt der Funktion, sondern auch der Linderung des Schmerzes Rechnung getragen wird. Denn Schmerz ist eben nicht Begleiterscheinung, sondern Kardinalsymptom dieser Erkrankung. Die ­Autoren diskutieren die gängigen physikalischen, ­systemischen und topischen medikamentösen, interventionellen und psychosozialen Therapien. Dass für viele von diesen teils keine oder nur schwache Empfehlungen ausgesprochen werden können, liegt möglicherweise nicht so sehr daran, dass sie unwirksam ­wären, sondern dass sie ungenügend erforscht oder nur bei gewissen Subgruppen von Patientinnen und Patienten effektiv sind. Therapeutinnen und Therapeuten sollten dies also keinesfalls zum Anlass nehmen, ­Patientinnen und Patienten gewisse Behandlungen vorzuenthalten, im Gegenteil: Bestenfalls eröffnen sich dadurch Möglichkeiten, Betroffenen ein wirklich multimodales Therapiekonzept anzubieten. Nicht rein medikamentöse, nicht rein physikalische, nicht rein interventionelle Behandlungen, sondern sinnvolle – und wahrscheinlich für jede Patientin und jeden Patienten individuelle – Kombinationen aus all diesen ­Optionen sind letztendlich gefragt.
Harnik und Kollegen vermitteln den Leserinnen und Lesern zum Schluss einen Behandlungspfad, der, obschon die Erkrankung das Wort «komplex» im Namen trägt, leicht verständlich und pragmatisch umsetzbar ist. Ich wünsche den Autoren und den betroffenen Patientinnen und Patienten, dass er breit zur Anwendung kommen möge.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med.
Jürg ­Schliessbach
Leiter interdisziplinäres Schmerzambulatorium
Institut für Anästhesiologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
juerg.schliessbach[at]usz.ch
1 WHO. International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th revision) 2018 [Available from: https://icd.who.int/browse11/l-m/en].
2 Treede RD, Rief W, Barke A, Aziz Q, Bennett MI, Benoliel R, et al. A classification of chronic pain for ICD-11. Pain. 2015;156(6):1003–7.
3 Nicholas M, Vlaeyen JWS, Rief W, Barke A, Aziz Q, Benoliel R, et al. The IASP classification of chronic pain for ICD-11: chronic primary pain. Pain. 2019;160(1):28–37.
4 de Mos M, Huygen FJ, van der Hoeven-Borgman M, Dieleman JP, Ch Stricker BH, Sturkenboom MC. Outcome of the complex regional pain syndrome. Clin J Pain. 2009;25(7):590–7.
5 Schwartzman RJ, Erwin KL, Alexander GM. The natural history of complex regional pain syndrome. Clin J Pain. 2009;25(4):273–80.
6 Harnik MA, Streitberger K, Brunner F, Hanusch KU, Reisig F. Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) – Teil 1. Swiss Med Forum. 2021;21(13–14):209–13.
7 Harnik MA, Streitberger K, Brunner F, Hanusch KU, Reisig F. Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) – Teil 2. Swiss Med Forum. 2021;21(15–16).