COVID-19: ein geschlechtsbezogener Blick auf die Pandemie
Frauen und Männer unterschiedlich betroffen

COVID-19: ein geschlechtsbezogener Blick auf die Pandemie

Aktuell
Ausgabe
2021/0304
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08713
Swiss Med Forum. 2021;21(0304):

Affiliations
a Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Bern; b Institut für Labortierkunde, Universität Zürich; c Universitätsklinik für Viszerale Chirurgie und Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern und Universität Bern; d Centre Universitaire de Médecine Générale et Santé Publique (Unisanté), Université de Lausanne; e Klinik für Nuklearmedizin, Universitätsspital Zürich; f Zentrum für Molekulare Kardiologie, Universität Zürich

Publiziert am 19.01.2021

Die COVID-19-Pandemie zeigt, dass das Geschlecht im Gesundheitsbereich eine bedeutende Rolle spielt. Dies dürfte sowohl biologische als auch soziale Ursachen haben.

Einleitung

Die COVID-19-Pandemie hat die Welt in den vergangenen Monaten in einen Ausnahmezustand versetzt. Forschende aus allen Fachrichtungen versuchen, anhand der meist limitiert vorhandenen Daten und Studien, zu verstehen, welche Massnahmen zur Verhinderung der Infektion, zur Therapie der Erkrankung sowie zur gesellschaftlichen Verträglichkeit der Begleitmassnahmen beitragen. Dabei zeigt sich immer deutlicher: COVID-19 betrifft Frauen und Männer unterschiedlich. Abbildung 1 gibt einen Überblick über mögliche Gründe für diese Unterschiede auf soziokultureller und biologischer Ebene.

Biologische Unterschiede

Daten der Forschungsinitiative «Global Health 50/50» bestätigen, dass Männer oft schwerer an COVID-19 erkranken und häufiger an der Infektion sterben. So ist die Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu versterben, für infizierte Männer in der Schweiz 1,6-mal höher, in den Niederlanden doppelt so hoch und in Thailand gar 2,6-mal so hoch wie bei infizierten Frauen [1]. Während hierzulande 53% aller positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Personen weiblich sind, machen Frauen nur 40% aller COVID-19-bedingten Hospitalisationen und 42% aller Todesfälle aus [2]. Europaweit ist der Anteil der intensivmedizinisch betreuten Männer mit 70–80% noch höher [1].
Die genauen Gründe für diesen Geschlechterunterschied sind noch unklar. Basierend auf Daten der SARS-Epidemie in den Jahren 2002/2003 wird vermutet, dass der Angiotensin-Converting-Enzym-(ACE-)2-Rezeptor, der sowohl im Blut als auch in der Zell­membran vorkommt, eine zentrale Rolle bei den Geschlechterunterschieden spielt [3–5]. Das Protein ermöglicht das Eindringen von SARS-CoV-2 in die Zelle. Eine kürzlich publizierte Studie zeigte, dass Männer mit chronischer Herzinsuffizienz höhere ACE-2-Konzentrationen im Blut aufweisen als Frauen mit Herzinsuffizienz [6]. Auch steigt die ACE-2-Konzentration im Blut bei Knaben während der Pubertät stärker an als bei Mädchen [7]. Tierexperimentelle Studien lassen zudem vermuten, dass Östrogene sowohl die ACE-2-Expression in der Zellmembran senken [8] als auch die Interaktion von SARS-CoV-2 mit ACE-2 in der Lunge hemmen [9]. Das Enzym transmembrane Serinprotease 2 (TMPRSS2) ist für die Spaltung des SARS-CoV-2-­Spike-Proteins notwendig und ermöglicht somit das Eindringen des Virus in die Zellen. TMPRSS2 ist normalerweise im Gewebe der Prostata zu finden, in hoher Konzentration beim Prostatakrebs. Es wird daher vermutet, dass hohe Testosteronspiegel TMPRSS2 hochregulieren und somit das Eindringen des Virus in die Zelle erleichtern. Entsprechend hat eine Studie aus Italien gezeigt, dass Patienten mit Prostatakrebs, die eine testosteronhemmende Therapie erhalten, ein geringeres Risiko haben, an COVID-19 zu erkranken als Patienten ohne antiandrogene Therapie [10]. Auch berichten mehrere Studien über ein gehäuftes Auftreten von androgenbedingtem Haarausfall bei männlichen Patienten, die unter einem schweren Verlauf der SARS-CoV-2 Infektion litten [11–13], und es wird ein Zusammenhang zwischen hohen Testosteronwerten und einem erhöhten Risiko thromboembolischer Ereignisse, einer gefürchteten Komplikation der COVID-19-Erkrankung, diskutiert [14, 15]. Gegen einen ungünstigen Einfluss von Testosteron auf den Verlauf der COVID-19-Erkrankung spricht jedoch die Tatsache, dass jüngere Männer, die generell höhere Testosteronwerte aufweisen, überwiegend einen leichten Krankheitsverlauf zeigen [16]. In der Tat stützen mehrere Studien die Hypothese, dass nicht nur hohe, sondern auch niedrige Testosteronspiegel einen schweren Krankheitsverlauf der SARS-CoV-2-Infektion begünstigen [17–19].
Auch bei der Immunabwehr von Virusinfektionen spielt Testosteron eine ambivalente Rolle: Da Androgene in der Regel eher supprimierend auf das Immunsystem wirken [16, 20], könnten hohe Testosteronwerte vor dem lebensbedrohlichen Zytokinsturm schützen, einer überschiessenden Immunantwort, die bei schwersten COVID-19-Verläufen beobachtet wird. Allerdings zeigte eine erst kürzlich in der Zeitschrift Nature publizierte Studie, dass der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Immunantwort weitaus komplexer ist:
Gemäss dieser Analyse generieren an COVID-19 erkrankte Männer eine weniger effiziente T-Zell-Antwort – vor allem was zytotoxische T-Zellen betrifft – als infizierte Frauen [21]. Zudem nahm diese effiziente T-Zell-Antwort mit dem Alter bei Männern ab, nicht jedoch bei Frauen. Hingegen wurden bei den Männern eher höhere Werte der beiden Zytokine Interleukin-(IL-)8 und IL-18 gemessen, die Komponenten des sogenannten angeborenen Immunsystems sind und bestimmte Monozytensubpopulationen aktivieren. Wurden bei Frauen erhöhte Mengen dieser beiden Zytokine gemessen, war dies ein Hinweis für einen schweren Verlauf der COVID-19-Erkrankung, nicht jedoch bei Männern. Andererseits war eine ineffiziente T-Zell-Antwort nur bei Männern, nicht aber bei Frauen mit einer schlechten Prognose assoziiert.
Die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Immunantwort könnten somit für den oft schwereren Verlauf von COVID-19 bei Männern mitverantwortlich sein und eröffnen die Möglichkeit gezielter immunmodulierender Therapien für Männer und Frauen. Insgesamt ist die Rolle der Geschlechtshormone bei der COVID-19-Erkrankung jedoch komplex (Abb. 1) und viele Fragen hinsichtlich der Geschlechterunterschiede bei der SARS-CoV-2-Infektion sind derzeit noch ungeklärt.
Abbildung 1: Geschlechterunterschiede, die das Infektionsrisiko, die Immunantwort und den Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion beeinflussen könnten. TMPRSS2: Enzym transmembrane Serinprotease 2; ACE-2: Angiotensin-Converting-Enzym-2; IL-8 bzw. -18: Interleukin-8 bzw. -18.
Daher untersuchen Forschende der Universitäten Zürich und Basel unter Leitung von Catherine Gebhard die Rolle geschlechtsspezifischer Faktoren auf den Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion in einem vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekt [22]. Das Projekt umfasst die Analyse der Immunantwort, die Untersuchung geschlechtsspezifischer biologischer und sozialer Risikofaktoren für einen schweren Krankheitsverlauf und Spätschäden sowie die Expression und Regulation der Viruseintrittsproteine ACE-2 und TMPRSS2.

Soziokulturelle Unterschiede

Neben dem Einfluss biologischer Faktoren auf den Krankheitsverlauf von COVID-19 spielen vermutlich auch geschlechtsspezifische Unterschiede im Risiko- und Gesundheitsverhalten eine Rolle (Abb. 1). Letztere unterliegen soziokulturellen Einflussfaktoren und lassen sich auf die Geschlechterrollen von Männern und Frauen in der Gesellschaft, die sogenannte «Gender-Dimension», zurückführen. Männer zeigen insgesamt eine grössere Risikobereitschaft und weisen häufiger Risikofaktoren auf wie Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum, ungesunde Ernährung sowie riskantes Verhalten im Strassenverkehr oder Sport. Dieses geschlechtsspezifische Gesundheitsverhalten wirkt sich auch auf die Prävalenz chronischer Erkrankungen und Risikokonstellationen wie Lungenerkrankungen, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes und Übergewicht aus, die alle einen schweren Verlauf von COVID-19 begünstigen [23]. Auch könnte sich ein riskanteres Risikoverhalten bei Männern auf die Einhaltung von Hygieneregeln und anderer Schutzmassnahmen gegen das Virus auswirken. Hierfür spricht eine Umfrage in den USA, die gezeigt hat, dass mehr Männer als Frauen das freiwillige Tragen von Mund- und Nasenschutzmasken ablehnen [24].
Dennoch dürften Frauen vielerorts eher in Kontakt mit dem Virus kommen als Männer: Statistiken der Initiative «Global Health 50/50» zeigen, dass die Infek­tionsraten in vielen europäischen Ländern bei Frauen höher liegen als bei Männern. Während in der Schweiz in den ersten Wochen der Pandemie die überwiegende Mehrheit der Infizierten männlich waren, änderte sich das Geschlechterverhältnis während des Lockdowns: Laut Daten des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) infizierten sich Frauen häufiger als Männer [25]. Ursächlich hierfür könnte die Tatsache sein, dass Frauen öfter als Männer in systemrelevanten Berufen wie Pflege, Administration und Verkauf tätig sind. Zudem übernehmen Frauen einen grossen Teil der unbezahlten Betreuungsarbeit im engeren Umfeld, hierunter Kinderbetreuung, Unterstützung im Krankheitsfall und Pflege betagter Angehöriger. Eine Umfrage in Deutschland bestätigt, dass Frauen während der Pandemie traditionelle Rollen wieder verstärkt übernahmen [26]. Dass dies für Frauen auch berufliche Konsequenzen hat, zeigen Untersuchungen, die die Beteiligung von Wissenschaftlerinnen an Studien zu COVID-19 analysierten: Frauen waren deutlich seltener als Männer an wissenschaftlichen Artikeln beteiligt und stellen auch nur einen Viertel der COVID-19-Experten in den Medien und nationalen Task Forces [27, 28].

Impfungen und Therapien für beide Geschlechter entwickeln

Wichtig – und keineswegs selbstverständlich – ist, dass die gewonnenen Erkenntnisse zu geschlechtsbedingten Unterschieden in die Entwicklung von Impf- und Arzneistoffen einfliessen. Für die Impfstoffentwicklung hat die Forderung nach Einschluss beider Geschlechter in die Toxizitätsprüfung schon Eingang in die Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gefunden [29]. In der klinischen Phase der Arzneistoffentwicklung wird ebenfalls verlangt, dass Arzneistoffe auch an Frauen getestet werden.
Dennoch sind Frauen in klinischen Studien deutlich unterrepräsentiert [30, 31]. Die Folge dieser Praxis: Die Kinetik der Medikamente ist im weiblichen Organismus nur lückenhaft erfasst, obwohl sich der Abbau eines Arzneistoffes im weiblichen Organismus von demjenigen im männlichen Organismus unterscheidet. Ursächlich hierfür sind Geschlechtsunterschiede bei der Nierenfunktion sowie beim Körperfett-, Wasser- und Muskelanteil. Entsprechend treten unerwünschte Nebenwirkungen bei Frauen 1,5–2-mal häufiger auf als bei Männern. Ein Beispiel sind die kardialen Nebenwirkungen von Hydroxychloroquin, einem Medikament, das derzeit für die Behandlung von COVID-19 «off-label» angewendet und dessen Wirksamkeit in klinischen Studien untersucht wird. Hydroxychloroquin kann gefährliche Rhythmusstörungen auslösen, sogenannte Torsades-de-Pointes-Tachykardien. Aufgrund der Besonderheiten des weiblichen Reizleitungssystems treten diese Nebenwirkungen zu 65–75% bei Frauen auf [32].
Für die HIV-Medikamente Lopinavir und Ritonavir, die bereits in einer randomisierten Studie an COVID-19-Patientinnen und -Patienten (davon 60% Männer) getestet und dort als wirkungslos beschrieben wurden [21], sind ebenfalls geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Pharmakokinetik und Wirksamkeit bekannt [33]. Auch der Nutzen des entzündungshemmenden Medikamentes Colchicin im weiblichen Organismus ist nicht sicher nachgewiesen. Colchicin wird derzeit für die Behandlung von COVID-19 getestet [34]. In einer kürzlich durchgeführten Studie bei Herzinfarkt­patientinnen und -patienten hatte Colchicin zwar die Pro­gnose bei der männlichen Studienpopulation verbessert, in einer Subgruppenanalyse bei Studienteilnehmerinnen zeigte das Medikament jedoch kaum Wirksamkeit [35]. Ob dies biologisch begründet ist oder ob der Effekt bei Frauen nicht gezeigt werden konnte, weil nur rund ein Fünftel der Studienteilnehmenden Frauen waren, ist unklar.
Diese geschlechtsspezifischen Einflussfaktoren sollten bei der Entwicklung und Implementierung neuer Therapien gegen das SARS-CoV-2 berücksichtigt werden, damit sowohl Männer als auch Frauen eine wirksame Prophylaxe und Therapie erhalten.

Häusliche Gewalt während des ­Lockdowns

Aber auch die Bewältigung der Massnahmen gegen die Pandemie trifft die Geschlechter unterschiedlich. So verzeichneten mehrere Länder weltweit einen Anstieg der – meist gegen Frauen gerichteten – häuslichen Gewalt. Die Vereinten Nationen sprechen gar von einer «Schatten-Pandemie» neben COVID-19 [36]. Frankreich, Zypern und Singapur meldeten eine 30%ige Zunahme an häuslicher Gewalt während des Lockdowns, Argentinien eine Zunahme um 25% und Länder wie Deutschland, Spanien, Grossbritannien, Kanada und die USA verzeichneten einen noch nicht bezifferbaren Anstieg bei der Nachfrage nach Notunterkünften und Frauenhäusern [37]. Auch in der Schweiz stellten die Opferhilfestellen in einigen Kantonen ab Mai 2020 eine Zunahme der Anfragen fest. Auf Seiten der Polizei sei insgesamt kein Anstieg der häuslichen Gewalt festgestellt worden, teilte das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann im Juni 2020 mit [38]. Ein definitiver Vergleich mit den Vorjahreszahlen werde aber erst mit der Kriminalstatistik und der Opferhilfestatistik Ende des Jahres möglich sein.
Eine weitere Belastung ist im Zuge der Pandemie die Angst vor Jobverlust. «Weltweit, wie auch in der Schweiz, sind Frauen in einer wirtschaftlich heikleren Situation: Sie verdienen weniger, haben weniger Ersparnisse, haben die unsichereren Jobs und sind eher im Dienstleistungssektor tätig», schreibt die Swiss National COVID-19 Science Task Force im Kurzdossier «Gender aspects of COVID-19 and pandemic response» [39]. Entsprechend zeigen verschiedene Studien, dass das Risiko einer Depression oder Angststörung während der Pandemie für Frauen höher ist als fürs Männer [40].
Die COVID-19-Pandemie trifft Frauen und Männer auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlichem Ausmass. Um die Kontrolle über das Virus zu gewinnen und die Folgen der Pandemie zu bewältigen, ist es deshalb unerlässlich, Daten differenziert und geschlechtsspezifisch zu erheben, zu analysieren und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.
Die Autorinnen und Autoren danken der Leitung des CAS «Sex- and Gender-Specific Medicine», die diesen Beitrag ermöglicht hat. Das CAS «Sex- and Gender-Specific Medicine» ist eine Weiterbildung der Universität Bern und Zürich (www.gender-medicine.ch/).
Die Autorinnen und Autoren sind Studien- beziehungsweise Programmleitungsmitglieder des CAS in «Sex- and Gender-Specific Medicine» der Uni­versitäten Bern und Zürich.
Dr. phil. nat. Nicole Steck
Institut für Sozial- und Präventivmedizin
Universität Bern
Mittelstrasse 43
CH-3012 Bern
nicole.steck[at]
ispm.unibe.ch