Infektiöse Endokarditis: Prävention und Prophylaxe
Empfehlungen der Expertengruppe «Infective Endocarditis Prevention»

Infektiöse Endokarditis: Prävention und Prophylaxe

Richtlinien
Ausgabe
2021/0506
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08717
Swiss Med Forum. 2021;21(0506):84-89

Affiliations
a Klinik für Infektiologie und Abteilung für Spitalhygiene, Universitätsspital Basel und Universität Basel; b Institut für Infektionskrankheiten, Universität Bern; c Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene, Universitätsspital Zürich; d Herzinsuffizienz und Transplantationen, Universitäres Herzzentrum Zürich, Universitätsspital Zürich; e Zentrum für Innere Medizin, Hirslanden Klinik Aarau; f Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene, Kantonsspital St. Gallen; g Service des Maladies Infectieuses, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne; h Universitäres Herzzentrum, Universitätsspital Basel und Universität Basel; i Kardiologie, Spital Emmental, Standort Langnau; j Infektiologie, Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Inselspital Bern; k Kardiologie, Universitäts-­Kinderspital Zürich; i Angeborene Herzerkrankungen, Universitäres Herzzentrum Zürich, Universitätsspital Zürich

Publiziert am 02.02.2021

Empfehlungen der Expertengruppe «Infective Endocarditis Prevention».

Die Artikel in der Rubrik «Richtlinien» geben nicht unbedingt die Ansicht der SMF-Redaktion wieder. Die Inhalte unterstehen der redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden Fachgesellschaft bzw. Arbeitsgruppe. In diesem Artikel werden die Empfehlungen der Expertengruppe «Infective Endocarditis Prevention» wiedergegeben, die von den entsprechenden Fachgesellschaften (s. oben) anerkannt worden sind.

Hintergrund und Vorgehen

Die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie (SSI) hat mit Unterstützung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) seit 2017 eine Plattform geschaffen, um für praxisrelevante Indikationen Richtlinien zur Antibiotikatherapie zu erarbeiten mit dem Ziel einer Optimierung des Antibiotikagebrauchs in der Schweiz [1]. Dazu gehören die Richtlinien zur Endokarditisprophylaxe. Nach umfassenden Änderungen der Empfehlungen durch die «American Heart Association» im Jahr 2007 wurden die schweizerischen Empfehlungen für die ­Endokarditisprophylaxe letztmals 2008 angepasst und revidiert [2]. Auf Initiative der SSI wurden diese Richtlinien nun in einer Expertengruppe gemeinsam mit den Schweizerischen Gesellschaften für Kardiologie und pädiatrische Kardiologie sowie der Pädiatrischen Infektiologie Gruppe Schweiz angepasst. Entsprechend den Vorgaben der SSI wurden dafür durch die Expertengruppe die bereits publizierten internationalen Richtlinien konsultiert und eine «Referenz-Guideline» ausgewählt. Für das Thema der Prävention der infek­tiösen Endokarditis (IE) wurden dafür die Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) 2015 ausgewählt [3]. Abweichungen von dieser Referenz-Guideline wurden von der Expertengruppe formuliert und als sogenannte «Swiss Guideline Digest» konzis präsentiert. Sie sind kostenlos online als Mobil- und Webversion verfügbar (https://ssi.guidelines.ch/ → Infektiöse Endokarditis/Prävention).

Prävention und Prophylaxe

Traditionell wird der Begriff der «Antibiotikaprophylaxe» oder «Endokarditisprophylaxe» benutzt. Dabei ist die einmalige Gabe einer antibiotischen Substanz vor einem (zum Beispiel zahnmedizinischen) Eingriff gemeint. Ziel dieser Antibiotikaprophylaxe ist eine rasche Eliminierung der transienten Bakteriämie (die im Rahmen der Intervention auftreten kann) und damit eine Verminderung des Risikos einer Endokarditis. Viele Studien haben aber gezeigt, dass nur ein ganz ­geringer Teil aller Endokarditiden tatsächlich nach zahnärztlichen Eingriffen auftritt. Eine viel grössere Bedeutung für die Entstehung einer Endokarditis haben Bakteriämien, die bei alltäglichen Verrichtungen auftreten (zum Beispiel Zähneputzen, Kauen etc.). Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass der Fokus von Empfehlungen auf ­einer allgemeinen Präventionsstrategie liegt. Diese umfasst insbesondere die Patienten­edukation bezüglich Risiken einer Endokarditis und Empfehlungen zu allgemeinen Haut- und Zahnhygienemassnahmen. Deshalb ist die Terminologie «Prävention und Prophylaxe» wichtig.

Antibiotikaprophylaxe weiterhin nur bei einer Gruppe indiziert

Nachdem die Indikation für eine Antibiotikaprophylaxe auf eine Gruppe beschränkt wurde (Herzkrankheiten mit hohem Risiko für eine IE), berichteten Studien aus England über eine Abnahme der Antibiotika­verschreibungen und Zunahme der IE-Inzidenz [4, 5]. Die Resultate und Überlegungen bezüglich einer (erneuten) Erweiterung der Indikation wurden kritisch diskutiert [6, 7], zumal andere Studien in der gleichen Zeitperiode keine Zunahme der IE-Inzidenz beobachten [8, 9]. Basierend auf der Herzkrankheit und der Schwere einer Valvulopathie gibt es unterschiedliche Risikokategorien für eine IE (moderates oder hohes ­Risiko) [10]. In Übereinstimmung mit den europäischen Richtlinien beschränkt die Expertengruppe die Indikation für die Antibiotikaprophylaxe auf Patienten mit hohem Risiko einer Endokarditis, das heisst nur auf eine Risikogruppe. Dies wird in der Schweiz ­bereits seit 2008 empfohlen.

Neuerungen im Vergleich zu den ­Richtlinien 2008

In den letzten Jahren konnten mehrere grosse Studien bestätigen [10], dass Patienten mit durchgemachter ­Endokarditis in der Vorgeschichte und Patienten mit prothetischem Klappenersatz oder Klappenrekon­struktionen mit Prothesenmaterial das höchste Risiko für eine IE haben (siehe Liste unten). Deshalb werden die Indikationen in dieser Risikogruppe in einer bewussten Rangfolge dargestellt.
Abweichungen der bisherigen schweizerischen Empfehlungen wurden bei fehlender Evidenzlage eliminiert und an die europäischen Empfehlungen angepasst (keine Empfehlung zur Antibiotikaprophylaxe bei Patienten mit unoperierten Ventrikelseptum­defekten oder offenem Ductus arteriosus).

Indikationen für Antibiotikaprophylaxe bei Patienten mit hohem Risiko

1. Patientinnen und Patienten mit einer früher durchgemachten Endokarditis.
2. Patientinnen und Patienten mit jeglicher Form ­einer Klappenprothese (mechanisch oder biologisch inklusive Transkatheterklappen-Implantation) oder Patientinnen und Patienten, bei denen jegliche Form von Fremdmaterial zur Herzklappenrekonstruktion verwendet wurde.
3. Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herzfehlern:
a) Alle Formen von zyanotischen angeborenen Herzfehlern.
b) Alle Formen von angeborenen Herzfehlern, die mit Fremdmaterial behandelt wurden (mit chirurgischer oder katheterinterventioneller Technik).
→ Erhöhtes Risiko für die ersten 6 Monate nach dem Eingriff.
c) Alle Formen von angeborenen Herzfehlern, die mit Fremdmaterial repariert wurden (mit chirurgischer oder katheterinterventioneller Technik), mit persistierendem Shunt oder persistierendem relevantem Residualbefund nach Eingriff (zum Beispiel: nicht komplett eingewachsenes Fremdmaterial).
→ Erhöhtes Risiko lebenslang respektive solange der Befund persistiert.
4. Es gibt keinen Nachweis, der den Nutzen einer Prophylaxe bei Patientinnen und Patienten mit Herztransplantation aufzeigt. Eine allfällige Antibiotikaprophylaxe sollte von Fall zu Fall mit dem Patienten / der Patientin und dem ärztlichen Betreuer / der ärztlichen Betreuerin des Herztransplantationszentrums vor einer entsprechenden Intervention diskutiert werden.

Zahnmedizinische und nicht ­zahnmedizinische Interventionen

Empfehlungen zur antibiotischen Prophylaxe für Intervention im Hals-Nasen-Ohren-Bereich, der Haut, am Respirations-, Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakt sind bewusst nicht mehr Teil der eigentlichen Empfehlungen zur Endokarditisprophylaxe. Insbesondere elektive chirurgische Abdominaleingriffe und gynäkologische Interventionen werden meist in einem Spital durchgeführt. SwissNoso hat für diese Eingriffe Empfehlungen zur perioperativen Antibiotikaprophylaxe veröffentlicht [11]. Diese gelten grundsätzlich auch für Patienten mit erhöhtem Risiko für eine IE. Abweichungen von diesen allgemeinen Empfehlungen bei Personen mit hohem Risiko für eine IE sind auf der Website https://ssi.guidelines.ch/ unter «Infektiöse Endokarditis / Prävention» publiziert (siehe auch Liste unten). Dies betrifft zum Beispiel die Inzision von Hautabszessen oder die Wahl des Antibiotikums bei abdominalen Eingriffen (Amoxicillin/Clavulansäure statt Cefuroxim oder Cefazolin). Die Schweizerische Gesellschaft für Gastroenterologie hat spezifische Empfehlungen zur Antibiotikaprophylaxe bei endo­skopischen Untersuchungen und Eingriffen veröffentlicht [12]. Aufgrund dieser Aspekte beschränken sich die Empfehlungen bezüglich Antibiotikaprophylaxe im Endokarditis-Ausweis auf zahnmedizinische Eingriffe (siehe Liste unten). Für nicht zahnmedizinische Eingriffe ­verweisen wir auf die publizierten Empfehlungen der einzelnen Fachgesellschaften (siehe Liste unten und https://ssi.guidelines.ch/ → «Infektiöse Endokarditis / Prävention»).

Zahnmedizinische Interventionen

• Die antibiotische Prophylaxe ist nicht empfohlen bei Lokalanästhesien in nicht infiziertes Gewebe, Behandlung von oberflächlicher Karies, Entfernung von Fäden, Durchführung von Röntgenbildern, ­Anfertigung oder Anpassung von abnehmbaren Zahnprothesen oder orthodontischen Hilfsmitteln beziehungsweise Spangen.
• Die antibiotische Prophylaxe ist nicht empfohlen nach dem natürlichen Verlust von Milchzähnen oder nach oberflächlichen traumatischen Verletzungen der Lippen oder der Mundschleimhaut.
• Die antibiotische Prophylaxe sollte daher primär bei zahnmedizinischen Interventionen mit Blutungsfolge gegeben werden, besonders bei:
– Manipulation an der Gingiva oder in der periapikalen Region (Endodontie);
– Perforation der Mundschleimhaut bei zahnärztlich-chirurgischen Eingriffen.
• Zur Antibiotikaprophylaxe wird die Einnahme der in Tabelle 1 aufgeführten Medikamente eine Stunde vor dem Eingriff empfohlen.
Tabelle 1: Antibiotikaprophylaxe vor zahnärztlichen Eingriffen und Dentalhygiene*.
Zur Antibiotikaprophylaxe wird die Einnahme der hier gelisteten Medikamente eine Stunde vor dem Eingriff empfohlen.
Amoxicillin 2 g Erwachsene: Amoxicillin 2 g p.o.
Kinder: Amoxicillin 50 mg/kg (maximale Dosis 2 g) p.o.
Alternative bei Penicillin-AllergieErwachsene: Cefuroxim-Axetil 1 g p.o. bei Allergie vom Spättyp
Kinder: Cefuroxim-Axetil 50 mg/kg p.o. (maximale Dosis 1 g) bei Allergie vom Spättyp
Erwachsene: Clindamycin 600 mg p.o. bei Allergie vom Soforttyp
Kinder: Clindamycin 20 mg/kg p.o. (maximale Dosis 600 mg) bei Allergie vom Soforttyp
Falls das Medikament nicht geschluckt werden kannErwachsene: Amoxicillin 2 g i.v.
Kinder: Amoxicillin 50 mg/kg i.v. (maximale Dosis 2 g)
Alternative bei Penicillin-Allergie, wenn das ­Medikament nicht geschluckt werden kannErwachsene: Cefazolin 1 g i.v. oder Ceftriaxon 2 g i.v. bei Allergie vom Spättyp
Kinder: Cefazolin 25 mg/kg i.v. (maximale Dosis 1 g) oder Ceftriaxon 50 mg/kg i.v. (maximale Dosis 2 g) bei Allergie vom Spättyp
Erwachsene: Clindamycin 600 mg i.v. oder Vancomycin 1 g i.v. bei Allergie vom Soforttyp
Kinder: Clindamycin 20 mg/kg i.v. (maximale Dosis 600 mg) oder Vancomycin 20 mg/kg i.v. (maximale Dosis 1 g) bei Allergie vom Soforttyp.
* Für Erwachsene und Kinder wird je ein separater Ausweis ausgestellt.

Nicht zahnmedizinische Interventionen

Eingriffe im ORL-Bereich

• Eine perioperative Antibiotikaprophylaxe ist nicht empfohlen für Tonsillektomie bei Patienten ohne ­Risiko für IE. Es existieren keine evidenzbasierten Empfehlungen für eine perioperative Antibiotika­prophylaxe bei Patienten mit Risiko für IE.
• Die Tonsillektomie ist häufig assoziiert mit einer Bakteriämie. Es gibt keine Evidenz, dass – bei Personen mit erhöhtem Risiko für IE eine perioperative Antibiotikaprophylaxe die Bakteriämie oder eine Endokarditis verhindert.
• Die Mehrheit der Expertengruppe favorisiert die Gabe einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe bei Tonsillektomie bei Patienten mit hohem ­Risiko für IE. Die antibiotische Substanz soll aktiv gegen Mikroorgansimen der oralen Flora sein.
• Die Expertengruppe kategorisiert diese Aussage als Meinungsäusserung und nicht als Richt­linienempfehlung.

Eingriffe am Respirationstrakt

• Antibiotikaprophylaxe ist nicht empfohlen für Bronchoskopie, Laryngoskopie, transnasale oder endotracheale Intubation.
• Bei invasiven Eingriffen zur Behandlung einer etablierten Infektion (z.B. Abszessdrainage) antibiotische Therapie mit Aktivität gegen Staphylokokken (Staphylococcus aureus).

Eingriffe am Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt

• Antibiotikaprophylaxe ist nicht empfohlen für Gas­troskopie, Koloskopie, laparoskopische Eingriffe an den Gallenwegen mit niedrigem Risiko (siehe auch Swissnoso-Empfehlungen zur perioperativen Prophylaxe 2015), Zystoskopie, vaginale Geburt/Kaiserschnittgeburt oder transösophageale Echokardiographie (TEE).
• Falls eine antibiotische Therapie zur Behandlung ­einer etablierten Infektion indiziert ist, sollte eine empirische antibiotische Therapie mit Aktivität ­gegen Enterokokken appliziert werden.
• Falls eine antibiotische Therapie zur Prävention ­einer Wundinfektion oder Bakteriämie (perioperative oder perinterventionelle Antibiotikaprophylaxe) indiziert ist, sollte eine empirische antibiotische Therapie mit Aktivität gegen Enterokokken appliziert werden (Tab. 2).
Tabelle 2: Medikation bei chirurgischen Eingriffen im Abdominalbereich.
Perioperative antimikro­bielle ProphylaxeKeine Penicillin-AllergiePenicillin-Allergie
Erwachsene
30–60 min vor Intervention Einzeldosis
Amoxicillin/Clavulansäure 2,2 g i.v.Vancomycin 1 g i.v.
plus Gentamicin1 3 mg/kg i.v. (oder Ciprofloxacin 400 mg i.v.)
plus Metronidazol 500 mg i.v.
Kinder
30–60 min vor Intervention Einzeldosis
Amoxicillin/Clavulansäure 50/5 mg/kg i.v. (max. 2,2 g i.v.)Vancomycin 20 mg/kg i.v. (max. 1 g i.v.)
plus Gentamicin 2,5 mg/kg i.v. (max. 80 mg)
plus Metronidazol 10 mg/kg i.v. (max. 500 mg i.v.)
1 Anstelle Gentamicin kann auch ein anderes Aminoglykosid (z.B. Amikacin) angewendet werden. Bitte kontaktieren Sie den Infektiologen Ihres Behandlungszentrums.

Eingriffe an der Haut und an Weichteilen

• Sofern keine Infektion vorliegt ist eine Antibiotikaprophylaxe nicht empfohlen, unabhängig von der ­Intervention.
• Bei chirurgischen Eingriffen aufgrund etablierter Haut-/Weichteilinfektion (zum Beispiel Abszess­inzision) ist eine antibiotische empirische Therapie mit Aktivität gegen Staphylokokken sowie beta-­hämolysierende Streptokokken empfohlen.

Eingriffe am Herz oder den Gefässen

• Vor elektiven Eingriffen am Herz: präoperatives Screening auf Staphylococcus aureus (nasal)
→ Träger präoperativ dekolonisieren.
• Systematische lokale Behandlung ohne Screening für Staphylococcus-aureus-Träger ist nicht empfohlen.
• Mögliche Infektherde (z.B. dentaler Fokus) sollten ≥2 Wochen vor dem Eingriff saniert werden.
• Perioperative Antibiotikaprophylaxe ist empfohlen beim Implantieren eines Herzschrittmachers oder eines Defibrillators.
• Perioperative Antibiotikaprophylaxe ist empfohlen beim (chirurgisch oder transkatheter) Implantieren einer Herzklappenprothese, intravaskulären Prothesenmaterials oder anderer Fremdkörper (z.B. Graftimplantation bei endovaskulärer Aneurysmarekonstruktion).
• Beginn der Prophylaxe: unmittelbar vor der Operation; Wiederholen bei prolongierter Operationsdauer; Stoppen spätestens 48 Stunden nach Eingriff.

Indikationen mit schwacher Evidenzlage

Im Prozess der Erarbeitung der aktuellen Empfehlungen wurden folgende Themen innerhalb der Expertengruppe intensiv diskutiert:

Herztransplantation

Die ESC empfiehlt (2015) – aufgrund der fehlenden ­Evidenzlage –, die Herztransplantation per se von der Indikationsliste für eine Antibiotikaprophylaxe zu entfernen [3]. Demgegenüber steht die Empfehlung der Internationalen Gesellschaft für Herz- und Lungentransplantation (ISHLT, 2010), welche die Indikation bei transplantierten Patienten, die eine Valvulopathie ­entwickeln, weiter fortführt [13]. Bei transplantierten Patienten besteht ein hohes Risiko für die Entwicklung ­einer Trikuspidalinsuffizienz [14]. Es existieren nur ­wenige (heterogene) Publikationen, welche die Assoziation zwischen Trikuspidalinsuffizienz und Endokarditis untersucht haben [15, 16]. Die Begründung der ISHLT (Expertenmeinung und Konsensusaussagen) ­beruht auf Beobachtungen mit schweren Verläufen und hoher Mortalität bei transplantierten Patienten mit IE [17]. Die Expertengruppe hält fest, dass aufgrund fehlender wissenschaftlicher Evidenz keine Empfehlungen für oder gegen eine Antibiotikaprophylaxe ­geäussert werden können. Die Mehrheit der Expertengruppe schliesst sich der Empfehlung der ESC an. Gleichzeitig erachtet es die Expertengruppe nicht für sinnvoll, eine allgemeingültige Empfehlung für eine in der Schweiz vergleichsweise kleine Patientenpopulation mit (zum Teil unterschiedlichen) komplexen Krankengeschichten zu veröffentlichen. Da alle Patienten nach Herztransplantation an spezialisierten Zentren betreut werden, bleibt es den betreuenden Spezialisten der Transplantationszentren überlassen, im individuellen Einzelfall weiterhin eine Antibiotikaprophylaxe vor einer entsprechenden Intervention zu empfehlen.

Tonsillektomie

Eine Tonsillektomie ist häufig assoziiert mit einer Bakteriämie [18–21]. Dennoch wird eine perioperative Antibiotikaprophylaxe bei Tonsillektomien bei Patienten ohne Risiko für eine IE nicht empfohlen [11, 22]. Bei ­fehlender wissenschaftlicher Evidenz für den Nutzen ­einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe bei Patienten mit Risiko für eine IE wird in den europäischen Richtlinien keine Empfehlung festgelegt. In der schweizerischen Expertengruppe favorisiert die Mehrheit der Expertengruppe die Gabe einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe bei Tonsillektomie bei Patienten mit hohem Risiko für eine IE [2, 21, 23]. Die antibio­tische Substanz soll aktiv gegen Mikroorgansimen der oralen Flora sein (zum Beispiel Amoxicillin/Clavulansäure 2,2 g bei Erwachsenen und 50 mg/kg [maximale Dosis 2,2 g) bei Kindern, intravenös 30 Minuten vor Schnitt). Aufgrund der fehlenden Evidenz kategorisiert die schweizerische Expertengruppe diese Empfehlung als Meinungsäusserung und nicht als Richtlinien­empfehlung.

Erweiterung der Informations- und Empfehlungsvermittlung

Während sich die Empfehlungen zur eigentlichen Antibiotikaprophylaxe für Hochrisikopatienten im Vergleich zu den Empfehlungen aus dem Jahre 2008 nur in wenigen Punkten verändert haben, lag der Fokus der aktuellen Revision in der Erarbeitung einer umfassenden Präventionsstrategie, die alle Patienten mit erhöhtem Risiko für eine IE erreichen soll (Abb. 1).
Abbildung 1: Alle Menschen mit erhöhtem Risiko (d.h. moderates und hohes Risiko) für Endokarditis profitieren von der Präventions- und Informationskampagne. Den Endokarditis-Ausweis mit Hinweisen zur Antibiotikaprophylaxe vor zahnärztlichen Eingriffen und vor der Dentalhygiene benötigen nur Personen mit besonders hohem Risiko für eine infektiöse Endokarditis. © Schweizerische Herzstiftung.
Die Informationsstrategie umfasst folgende Kern­themen:
• Wissensvermittlung zur Notwendigkeit einer guten Zahn- und Hauthygiene;
• Information zu Symptomen einer IE und zum richtigen Verhalten bei Auftreten solcher Symptome (rasche Kontaktaufnahme mit Arzt, Wichtigkeit der Abnahme von Blutkulturen vor Beginn einer antibiotischen Therapie).
Da bei der IE eine rasche Diagnose und unverzügliche Einleitung einer adäquaten Therapie lebensrettend sein können, erachtet die Expertengruppe eine Verbesserung der Patientenedukation als zentralen Bestandteil einer umfassenden Präventionsstrategie. Zur Umsetzung dieser Ziele hat die Expertengruppe in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Herzstiftung ein Informationskonzept erarbeitet. Zentraler ­Bestandteil dieses Konzepts ist eine Informationsbroschüre zum Thema Endokarditis, die allen Patienten mit erhöhtem Risiko für eine IE abgegeben werden kann (Abb. 1). Sie soll die Patientenedukation im klinischen Alltag durch betreuende Ärzte und Pflegende unterstützen und eignet sich auch zum Selbststudium. Patienten mit hohem Risiko für eine IE, für die weiterhin eine Antibiotikaprophylaxe vor zahnmedizinischen Eingriffen empfohlen wird, erhalten zusätzlich einen Ausweis im Kreditkartenformat, der den ­bisherigen Endokarditis-Ausweis ersetzt (Abb. 1). Sowohl für die Informationsbroschüre wie auch für den Endokarditis-Ausweis gibt es jeweils eine Variante für Kinder und Jugendliche sowie ­Erwachsene. Für nicht zahnmedizinische Eingriffe ­verweisen wir auf die publizierten Empfehlungen der einzelnen Fachgesellschaften (Abb. 2). Weitere Informationsmöglichkeiten wie eine Website (www.endocarditis.ch [deutsch], www.endocardites.ch [französisch], www.endocardite.ch [italienisch]) und ein Informationsfilm sind in Bearbeitung.
Abbildung 2: Die Antibiotikaprophylaxe vor zahnärztlichen Eingriffen und vor der Dentalhygiene ist auf dem Endokarditis-­Ausweis vermerkt. Für nicht zahnmedizinische Interventionen wird auf die Website und auf Leitlinien verwiesen. © Schweizerische Herzstiftung.
Ein Kommentar zu diesen Richtlinien in englischer Sprache ist in Cardiovascular Medicine erschienen (https://doi.org/ 10.4414/cvm.2021.10042).
Wir danken der Schweizerischen Herzstiftung für die gute Zusammenarbeit und grosszügige Unterstützung in der Öffentlichkeits­arbeit. Wir danken Prof. Dr. med. dent. Michael M. Bornstein, Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel, UZB, Klinik für Oral Health & Medicine, für die zahnmedizinisch fachliche und redaktionelle Unterstützung.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Prof. Dr. med. Parham Sendi
Klinik für Infektiologie und Abteilung für Spitalhygiene
Universitätsspital Basel
CH-4031 Basel
parham.sendi[at]usb.ch

Institut für Infektions­krankheiten
Universität Bern
CH-3010 Bern
parham.sendi[at]
ifik.unibe.ch
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