Clarkson-Syndrom: idiopathisches Kapillarlecksyndrom
Klinik und Verlauf anhand zweier Fälle mit Literaturübersicht

Clarkson-Syndrom: idiopathisches Kapillarlecksyndrom

Übersichtsartikel
Ausgabe
2021/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08755
Swiss Med Forum. 2021;21(2526):429-434

Affiliations
Universitätsklinik für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie, Inselspital, Bern

Publiziert am 23.06.2021

Das idiopathische Kapillarlecksyndrom, seine Komplikationen und hohe Mortalität sind nach wie vor ebenso wenig bekannt wie rätselhaft. Ein besseres Verständnis des Syndroms könnte das Leid der Patienten und seine Letalität verringern.

Einleitung

Das idiopathische oder systemische Kapillarlecksyndrom («systemic capillary leak syndrome» [SCLS]) ist durch Episoden von Flüssigkeitsverlust in das Interstitium gekennzeichnet. Typisches klinisches Zeichen ist die Triade aus Hypotonie, Hämokonzentration und paradoxer Hypalbuminämie, begleitet von Gewichtszunahme mit Ödemen und Oligurie. Die Komplikationen (deren häufigste ein Kompartmentsyndrom ist) können zu einem hypovolämischen Schock, Multiorganversagen und zum Tod führen. Seit der Erstbeschreibung im Jahr 1960 durch Dr. Bayard Clarkson, nach dem das Syndrom benannt ist, wurden über 250 Fälle gemeldet [1, 2]. Das ursprünglich als selten geltende Syndrom ist wahrscheinlich unterdiagnostiziert, da es schwer zu erkennen ist und eine hohe Mortalität aufweist [3, 4]. Dieser Artikel beschreibt die Fälle einer Patientin und eines Patienten aus dem Kanton Bern, die an diesem Syndrom leiden, für das noch keine wirksame Behandlung entwickelt werden konnte, und enthält einen Überblick über die einschlägige Fachliteratur. Ziel ist es, ein seltenes klinisches Krankheitsbild mit häufig unvorhersehbar dramatischem und komplikationsreichem Verlauf vorzustellen sowie die derzeitigen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten aufzuzeigen.

Kasuistik

In den letzten Jahren wurden eine Patientin und ein Patient aus dem Kanton Bern aufgrund akuter Krisen eines SCLS wiederholt am Berner Inselspital behandelt. Diese beiden gehören zu dem halben Dutzend derzeit bekannter Fälle in der Schweiz.

Patientin A

Patientin A ist 35 Jahre alt und sucht im November 2004 die Notfallabteilung auf, da sie an allgemeiner Schwäche, Erbrechen, Hitzewallungen, Schwindel und zunehmenden peripheren Ödemen leidet, durch die sie innert einiger Tage 25 kg zugenommen hat. Die klinische und labormedizinische Untersuchung ergeben eine arterielle Hypotonie, eine Hämokonzentration und eine Hypalbuminämie. Trotz intravenöser Rehydratation und der Verabreichung von hochdosierten Glukokortikoiden und von Vasopressoren wird aufgrund der sich verstärkenden Hämokonzentration mit Zeichen einer Nieren- und Pankreasstörung eine Verlegung auf die Intensivstation erforderlich. Abgesehen vom Vorliegen einer monoklonalen Gammopathie vom Typ IgG kappa fallen alle Tests negativ aus. Da die anderen möglichen Diagnosen (Tab. 1) so auszuschliessen sind, wird ein SCLS diagnostiziert.
Tabelle 1: Differenzialdiagnose beim idiopathischen Kapillarlecksyndrom (angepasst nach [3, 5]) und Ursachen eines sekundären Kapillarlecksyndroms [2].
Differenzialdiagnose
Septischer Schock
Toxisches Schocksyndrom
Hereditäres oder erworbenes Angioödem
Anaphylaxie
Polycythaemia vera
Nephrotisches Syndrom
Gleich-Syndrom
Mastzellenerkrankung
Neuroendokriner Tumor
Nierenamyloidose
Ursachen eines sekundären Kapillarlecksyndroms
Lymphom, Leukämie, Makrophagenaktivierungssyndrom
Virus- oder Bakterieninfektion
Arzneimittel, Chemotherapie
Operation, Trauma
Kawasaki-Syndrom
Ovarielles Überstimulationssyndrom
Während der Krisen ist Interleukin-(IL-)2 nicht erhöht, im Gegensatz zu IL-6 und IL-10. Die Werte von IL-6 und des Tumornekrosefaktors alpha (TNF-α) sind dann vermindert, bevor sich alle Werte im Zuge der vollständigen Remission wieder normalisieren. Es folgen zwei weitere schwere Ereignisse (im Oktober 2005 und im Juni 2006 – siehe Abbildung S1 im Online-Appendix des Artikels). Die Verabreichung von Theophyllin und Terbutalin geht nicht mit der gewünschten Wirkung, aber mit starken Nebenwirkungen einher. Ab August 2008 erleidet die Patientin beinahe alle drei Wochen eine Krise. Man vermutet einen Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus, das Kontrazeptivum Cerazette® (Desogestrel) wirkt sich indes nicht auf die Rezidive aus. Im August 2009 versucht man, mit Loratadin und Prednisolon eine Wirkung in Verbindung mit einer potenziellen Immunreaktion zu erzielen, allerdings ohne Erfolg. Seit September 2009 alle drei Wochen intravenös verabreichte Immunglobulin-Infusionen (IVIG) stellen sich als unwirksam heraus; sie werden zudem schlecht vertragen (aseptische Meningitis). Im Dezember 2011 kommt es zur vierten schweren Krise, die eine Intubation und eine Fasziotomie an den vier Extremitäten erfordert. Ein Jahr danach legt die gemessene Abnahme des Werts des funktionellen C1-Esterase-Inhibitors (kompatibel mit einem hereditären Angioödem Typ 2) die Verabreichung von Icatibant während einer Krise nahe; dies bleibt allerdings ohne Erfolg. Im gleichen Zeitraum wird aufgrund eines zu geringen Vitamin-D-Spiegels eine diesbezügliche Supplementierung begonnen, nachdem bei der Patientin bereits zuvor eine leichte Osteopenie festgestellt worden ist. Im Februar 2013 löst eine Influenza-B-Infektion eine Krise mit schwerer, akuter Hypovolämie aus, die zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand führt. Die Nierenfunktion fällt stark ab, die infolge einer Volumenüberlastung dekompensierte Patientin muss notfallmässig dialysiert werden. Da anschliessend im Verlauf von sechs Wochen keine Krise auftritt, wird die Frage aufgeworfen, ob die Dialyse dabei eine Rolle spielt. Ab Mai 2013 nehmen die Krisen leider zu und treten alle drei bis fünf Tage auf, weshalb eine ambulante Volumensubstitution erforderlich ist. 2014 wendet sich die Patientin der Alternativmedizin zu, insbesondere der Kraniosakraltherapie und der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln. Zwischen der letzten Krise im Juli 2015 (nach der Operation einer Nabelhernie) und einer leichten Krise im Zuge einer Influenza-A-Infektion im Januar 2019 tritt bei der Patientin keine Episode auf, die eine Infusion erfordert. Die Niereninsuffizienz (Stadium G3bA2 laut «Kidney Disease: Improving Global Outcomes» [KDIGO]) bleibt stabil, die Einnahme von Furosemid ein- bis zweimal pro Woche ermöglicht die Regulierung der persistierenden, leichten peripheren Ödeme. Als mögliche Erklärung für diese deutliche Besserung nennt die Patientin die tägliche Einnahme des Lebertran-Präparats Halibut® classic. Von der ersten Episode 2004 bis Ende 2019 hat Patientin A insgesamt 131 Krisen erlitten, davon fünf schwere.

Patient B

Patient B ist 38 Jahre alt und leidet an subklinischer Hypothyreose und diversen Allergien. Im Januar 2011 sucht er aufgrund allgemeiner Schwäche, Übelkeit und Parästhesien am ganzen Körper die Notfallabteilung auf. Festgestellt werden eine Hypotonie, eine Polyglobulie und eine Hypalbuminämie. Die alternativen Schockzustand-Diagnosen werden ausgeschlossen, und ein SCLS wird diagnostiziert. Durch die Verabreichung von Kolloidlösungen, IVIG in der Akutphase und Vasopressoren normalisiert sich das Blutdruckprofil. Der Patient weist mehrere Komplikationen auf: eine Herztamponade, mehrere Milzinfarkte, eine akute, vorübergehend hämodialysepflichtige Niereninsuffizienz, ein posteriores reversibles Enzephalopathie-Syndrom (PRES), ein Kompartmentsyndrom an den vier Extremitäten (das Fasziotomien sowie Hauttransplantationen erfordert) und in der Folge eine Polyneuropathie. Zwei Jahre danach löst eine Infektion eine zweite Krise aus, die zu einem hypovolämischen Schock führt (siehe Abbildung S2 im Online-Appendix des Artikels). Während der Krisen sind die IL-6- und IL-10-Werte erhöht, der IL-2-Wert ist normal, anschliessend sind die Werte von IL-6 und des TNF-α verringert. Eine monoklonale Gammopathie vom Typ IgG lambda wird nachgewiesen. Die Konstellation einer Immunschwäche mit Verringerung der peripheren B-Lymphozyten, der IgG1, IgG3 und des IgA-Gesamtwerts sowie der IgG-Antikörper gegen Pneumokokken entspricht zudem einem variablen Immundefektsyndrom. Ab September 2013 kommt es rund alle drei Monate zu moderaten Rezidiven mit Hämokonzentration und beginnenden Ödemen, oftmals im Zusammenhang mit einer Virusinfektion der Atemwege. Im April 2014 wird infolge einer Verdichtung der Krisenfrequenz auf alle fünf bis 15 Tage eine monatliche Prophylaxe mit IVIG geplant. Da es aber zwei bis drei Tage nach jeder Infusion zu einer Exazerbation kommt, wird die Prophylaxe abgebrochen. Im Juli 2015 versucht man eine neue Behandlung, die Prednison (zehn Tage lang) sowie Theophyllin und Terbutalin umfasst (diese Therapie befolgt der Patient noch heute), begleitet von Acetylsalicylsäure, einer homöopathischen Behandlung und Nahrungsergänzungsmitteln, die Lebertran enthalten. Mehrere Monate lang (von Februar bis September 2016) bleibt der Patient stabil. Ab September 2017 erhält er im Falle einer Krise IVIG, wodurch sich ihre Frequenz auf alle vier bis acht Wochen stabilisiert. Im April 2019 löst eine virale Atemwegsinfektion eine dritte schwere Krise mit akutem Nierenversagen aus. Da er seine Krankheit gut kennt, sucht der Patient jeweils bei den ersten Symptomen das Spital auf, wodurch es ihm gelingt, die Schwere der Krisen zu begrenzen. Zweimal in der Woche absolviert er Physio- und Ergotherapie­sitzungen, zusätzlich macht er täglich Übungen, um die Polyneuropathie an den vier Extremitäten zu mildern. Von der ersten Episode im Januar 2011 bis Ende 2019 hat Patient B insgesamt 85 Krisen erlitten, davon drei schwere.

Diskussion

Klinische Manifestation

Das SCLS betrifft in praktisch gleichem Ausmass Männer und Frauen und tritt durchschnittlich im Alter von 45 Jahren auf, auch wenn vereinzelt Fälle im pädiatrischen und geriatrischen Alter beschrieben wurden [2]. Es manifestiert sich durch akute Krisen, zwischen denen es zur Remission kommt, deren Dauer stark schwanken kann (von einigen Tagen bis zu mehreren Jahren). Das klinische Bild ist individuell unterschiedlich (Tab. 2), gliedert sich allerdings im Allgemeinen in drei Phasen:
Prodromalphase, in der unspezifische Zeichen (Müdigkeit, Muskelschmerz, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall) und rasche Gewichtszunahme auftreten;
Leckphase, die durch periphere Ödeme, arterielle Hypotonie, Tachykardie und Oligurie geprägt ist und in der es als Komplikation zu einem Schock­zustand kommen kann (je nach Ausmass der Flüssigkeitsverschiebung);
Post-Leckphase mit Normalisierung des Blutdrucks, Polyurie, Ödemresorption und Gewichtsverlust innert fünf bis sieben Tagen.
Tabelle 2: Symptome, klinische Zeichen und Komplikationen der akuten Krise eines idiopathischen Kapillarlecksyndroms [4–6].
ProdromalsymptomeNicht erklärbare Müdigkeit
Schwindel
Grippesymptome
Muskelschmerz
Heiserkeit
Oligurie, dunkler Harn
Reizbarkeit
Gewichtszunahme
Symptome in der AkutphaseÜbelkeit, Erbrechen
Dyspnoe
Durstgefühl
Salzhunger
Hyperhidrose
Rhinorrhoe
Tränenfluss
Juckreiz
Gelenkschmerzen
Dysphagie
Klinische Zeichen in der AkutphaseHypotonie
Hämokonzentration
Hypalbuminämie ohne Albuminurie
Hyperleukozytose
Ödeme
Rötungen
Tachykardie
Tachypnoe
Kalte Extremitäten
Erhöhte Rekapillarisierungszeit
KomplikationenKompartmentsyndrom/Fasziotomie/Amputation
Niereninsuffizienz
Rhabdomyolyse
Perikarderguss/Herztamponade
Myokardödem und -dysfunktion
Lungenödem
Thrombose/Lungenembolie
Hirnödem
Muskelkrämpfe, Epilepsieanfall
Ischämischer Schlaganfall
Pankreatitis
Sensomotorische Neuropathie / Fallfuss
Der Verlauf ist bisweilen dramatisch, die wichtigste Komplikation ist das Kompartmentsyndrom, das durch die Extravasation und die anschliessende Ödembildung verursacht wird (dies kann durch massive Volumensubstitution verstärkt werden) [2, 4]. Oftmals wird eine Niereninsuffizienz berichtet (die durch eine Hypoperfusion oder eine durch Rhabdomyolyse bedingte Myoglobin­urie verursacht sein kann), aber auch Perikard- und Pleuraergüsse, arterielle oder venöse Thrombosen mit möglicher Lungenembolie, Hirnödeme und Muskelkrämpfe wurden beschrieben. In der Post-Leckphase sind die Komplikationen auf eine Flüssigkeitsüberladung aus dem interstitiellen Bereich in den vaskulären Bereich zurückzuführen, wodurch es zu Perikardergüssen und Lungenödemen kommen kann.

Pathogenese

Ausgelöst werden kann das SCLS im Rahmen einer Infektion, vor allem der Atemwege, in der perimenstruellen Phase oder durch intensive körperliche Anstrengung. Die Mechanismen, die dem Austritt intravaskulärer Flüssigkeit in das Interstitium zugrunde liegen, sind noch ungeklärt, häufig liegt allerdings eine Entzündungskomponente vor. In zwei aktuellen Studien konnte keine gemeinsame Nukleotidvariation, die den SCLS-Phänotyp erklären könnte, gezeigt werden [7, 8].
Während der Krisen in den beiden eingangs beschriebenen Fällen wurden erhöhte IL-6- und IL-10-Werte nachgewiesen, in der Fachliteratur wird zudem von der Erhöhung anderer Zytokine und Entzündungsfaktoren berichtet [2, 4]. IL-2 induziert die Freisetzung von Zytokinen, wodurch es zu einer erhöhten Kapillarpermeabilität und Verringerung des Gefässwiderstands kommt [2]. Da nicht alle Betroffenen das gleiche Zytokinprofil aufweisen, könnte die erhöhte Durchlässigkeit der Kapillargefässe ein Symptom sein, das einer heterogenen Gruppe von Pathologien gemein ist [3]. Interessanterweise sind die Werte von Bradykinin, Hist­amin, der Prostaglandine und der Proteine des Komplementsystems, welche die Kapillarpermeabilität steigern können, im Rahmen eines SCLS normal [3]. Bei 85 bis 95% der Betroffenen [9] liegt wie in den beiden anfangs beschriebenen Fällen gleichzeitig eine monoklonale Gammopathie vor (hauptsächlich vom Typ kappa); diese kann von Beginn an vorhanden sein oder nach kurzem Verlauf auftreten und wird als monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS) klassifiziert [2, 4]. Die MGUS fehlt in den pädiatrischen Fällen und spielt wahrscheinlich keine zentrale Rolle bei der Pathogenese [10, 11]. Gereinigte IgG-Antikörper allein lösen nicht die gleiche Reaktion wie während einer Krise entnommenes Serum aus [11, 12]. Die Funktionalität der Endothelzellen ist in vitro nur in Gegenwart von Patientenserum beeinträchtigt, das während einer Krise entnommen wurde. Lösliche Faktoren verringern möglicherweise die Konzentration des vaskulär-endothelialen Cadherins an den Kontaktstellen aneinandergrenzender Endothelzellen, wodurch eine Lücke zwischen den Zellen entsteht und ein Flüssigkeitsaustritt in das Interstitium möglich ist [11]. Die vaskulären endothelialen Wachstumsfaktoren (VEGF) und Angiopoetin 2 (Ang2), die in den Krisen bisweilen erhöht sind, könnten dabei eine Rolle spielen [12]. Eine dauerhafte Strukturanomalie konnte nicht gezeigt werden: Die Funktionsstörung der Endothelbarriere ist somit wohl reversibel [3].
Seit Patientin A und Patient B Nahrungsergänzungsmittel mit Lebertran und vor allem Vitamin D einnehmen, hat sich ihr Zustand verbessert, besonders jener von Patientin A, die in vier Jahren keine Krise erlitten hat. Aktuellen Studien zufolge wirkt Vitamin D stabilisierend auf die Endothelzellen, indem es die Kontaktstellen zwischen den Zellen stärkt und den destabilisierenden Effekt von Entzündungsfaktoren wie IL-1β und TNF-α hemmt [13]. Beachtenswert ist, dass diese beiden Faktoren bei bestimmten SCLS-Betroffenen während einer Krise erhöht sind [2, 4]. Andere Studien ergaben, dass Vitamin D die Gefässregeneration fördert und möglicherweise die Funktionsstörung des Endothels bei kardiovaskulären Krankheiten reguliert [14–16]. Umfassendere Studien sind nötig, um zu ermitteln, ob Vitamin D auch die endotheliale Dysfunktion beim SCLS beeinflusst.

Diagnose

Zwischen den Krisen sind die labormedizinischen Standarduntersuchungen unauffällig. Es gibt keine pathognomonischen Biomarker oder Zeichen; die Triade Hypotonie, Hämokonzentration und Hypalbumin­ämie (siehe Tab. S1 im Online-Appendix des Artikels) genügt zur Ausschlussdiagnose (Abb. 1). Aufgrund des ähnlichen klinischen Bildes wird das SCLS oftmals fälschlicherweise als septischer Schock oder Anaphylaxie diagnostiziert (Tab. 1). Eine Erhöhung der Tryptasen spricht eher für eine Anaphylaxie (Mastzellen-Aktivierung), während ein erworbenes oder hereditäres Angioödem auszuschliessen ist, wenn die Konzentration und die Funktion des C1-Esterase-Inhibitors (C1-INH) normal sind. Ein SCLS kann auch sekundär infolge einer anderen Krankheit auftreten (Tab. 1), die Unterscheidung ist allerdings nicht immer einfach. Bei der sekundären Form betrifft die erhöhte Kapillardurchlässigkeit ebenfalls die Lunge (bei der idiopathischen Form ist dies primär nicht der Fall), die Hämokonzentration ist nicht so ausgeprägt und das Ereignis ist meist einmalig. Beim SCLS sind die Krisen rezidivierend, bleibt das Bewusstsein ungeachtet des stark verminderten Blutdrucks erhalten und wird in den meisten Fällen eine MGUS nachgewiesen [1, 2].
Abbildung 1: Diagnosealgorithmus bei nicht erklärbarer akuter Hypotonie (angepasst nach [9]: Xie Z, Chan E, Yin Y, Ghosh CC, Wisch L, Nelson C, et al. Inflammatory Markers of the Systemic Capillary Leak Syndrome (Clarkson Disease). J Clin Cell Immunol. 2014;5:1000213. doi: 10.4172/2155-9899.1000213. © 2014 Xie Z, et al.). Beim idiopathischen Kapillarlecksyndrom (SCLS) sprechen Hypotonie und Hämokonzentration nicht gut auf die Rehydratation an, diese kann die Ödeme sogar verstärken. Der Kreatininwert ist häufig erhöht, was auf akutes Nierenversagen (ANV) hinweist. Das C-reaktive Protein (CRP) deutet auf eine Entzündung hin, wenn es den Grenzwert von 20 mg/dl überschreitet. Das SCLS gilt als chronisch, wenn die Hypalbuminämie und die Ödeme zwischen den Krisen nicht abklingen [15]. Hb: Hämoglobin.

Therapie

Bisher hat sich noch kein bestimmtes Arzneimittel als wirksam erwiesen, die Behandlung ist darum hauptsächlich symptomatisch und beruht auf probatorischen Empfehlungen und Fallberichten. Häufig folgt die Behandlung den Leitlinien für einen septischen Schock, allerdings kann eine massive Volumensubstitution die Ödeme verschlimmern und einem Kompartmentsyndrom Vorschub leisten [3]. Vasopressoren in Verbindung mit einem rasch infundierten Bolus einer Kolloidlösung sind einer kontinuierlichen Kristalloidinfusion vorzuziehen (Tab. 3) [1, 3, 4]. Aufgrund ihres höheren Molekulargewichts bleiben die Kolloide im intravaskulären Raum und fördern so die Aufrechterhaltung des kolloidosmotischen Drucks [3]. Die Zuführung von Sauerstoff unterstützt die Atemarbeit, die zur Kompensierung der durch die verringerte Gewebeperfusion bedingten Azidose gesteigert ist. Eine engmaschige Überwachung ist unabdingbar, um allfällige Komplikationen zu erkennen [1, 3, 4]. Die Abnahme der Hämokonzentration und des Bedarfs an Flüssigkeit, die zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Organperfusion nötig ist, kennzeichnet den Übergang zwischen der Leck- und der Post-Leckphase. Folglich geht die Behandlung zur Verabreichung von Diuretika über, um der Volumenüberladung und Lungenödemen vorzubeugen. Bei Niereninsuffizienz kann eine Ultrafiltration erforderlich sein [10, 11].
Tabelle 3: Behandlung in der Akutphase und langfristige Prophylaxe.
Behandlung in der AkutphaseKolloidlösung [1, 3, 4]
Vasopressoren [1, 3, 4]
Sauerstofftherapie [3]
Diuretika [10, 11]
Eventuell IVIG [2–4, 6]
Antikoagulation (bei Thromboserisiko) [4]
Fasziotomie (bei Kompartmentsyndrom) [4]
Ultrafiltration (bei Niereninsuffizienz) [10, 11]
ProphylaxeIVIG (1–2 g/kg Körpergewicht) [1, 2, 6]
Terbutalin 400–1600 mg/Tag (Ziel: Serumkonzentration 10–20 mg/dl) [4]
Theophyllin 20–25 mg/Tag [4]
Prednison [5]
Leukotrienantagonisten (Montelukast, Zafirlukast) [5]
IVIG: Intravenöse Immunglobuline.
Sowohl in der Akutphase als auch als Prophylaxe wurden diverse Therapien untersucht (Tab. 3), insbesondere Wirkstoffe, welche die intrazelluläre Konzentration des zyklischen Adenosinmonophosphats (cAMP) erhöhen, etwa β-adrenerge Agonisten (Terbutalin) und Phosphodiesterase-Hemmer (Theophyllin), welche die vaskulär-endothelialen Cadherine stabilisieren (diese stärken die Kontaktstellen aneinandergrenzender Zellen) [12]. Bei Patientin A erwies sich Prednisolon als unwirksam. In der Fachliteratur wird eine mögliche Zytokinmodulation durch Steroide in der Akutphase berichtet [4, 5]. Bei einem vierjährigen Patienten verringerte Montelukast die Frequenz und Schwere der Krisen deutlich [5], bei unserer Patientin A war dieser Arzneistoff unwirksam. Die Beeinflussung der VEGF- und Ang2-Erhöhung kann die reversible Endotheldysfunktion möglicherweise lindern [12]. In akuten Krisen und zur Prophylaxe waren IVIG wirksam [4, 6], bei Patientin A und Patienten B allerdings nicht. Sie leiden an demselben Syndrom, allerdings unterscheidet sich ihr Immunstatus: Patient B weist eine Immunschwäche auf, die ihn infektionsanfällig macht, während bei Patientin A keine Anomalie des Immunsystems festgestellt wurde. In der Fachliteratur war kein analoger Fall von SCLS mit deutlicher Immunschwäche zu finden. Aufgrund des hohen Molekulargewichts (150 000 Dalton) steigern die IgG den kolloidosmotischen Druck und hemmen so den Austritt von Flüssigkeit aus den Kapillaren [2, 3]. Möglicherweise erzielen grössere Moleküle (etwa IgM) eine bessere Wirkung [4]. IVIG beeinflussen zudem die Lymphozytenproliferation und -selektion und hemmen so die Komplementkaskade und die Zytokinfreisetzung. Bei Anwendung in der Akutphase sind IVIG nicht mit einer Erhöhung der Überlebensrate assoziiert, sie können aber die Frequenz der Krisen verringern; zur Prophylaxe sollten sie mit Vorsicht angewendet werden [3]. Die Dosierung und optimale Dauer der Therapie müssen noch definiert werden. Die Fachliteratur empfiehlt derzeit die monatliche Behandlung mit 2 g/kg Körpergewicht, je nach Verlauf kann auf 1 g/kg verringert werden [3, 11]. Die Mayo-Klinik meldete, dass infolge einer Plasmapherese die Symptome abklangen [5]. Interessanterweise trat bei unserer Patientin A in dem Zeitraum, in dem sie dialysiert wurde, keine Krise auf. Die Pathogenese des SCLS ist noch nicht genau geklärt, im Blut könnten sich allerdings Fragmente oder Stoffwechselreste von Pathogenen, Zellen oder des Komplementsystems befinden, die durch Dialyse oder Plasmapherese entfernt werden könnten.

Prognose

Die Prognose bei SCLS ist unsicher, Schätzungen zufolge liegt die 5-Jahres-Überlebensrate jedoch bei 70% [4]. Das Risiko der Progression der MGUS zu einem Multiplen Myelom beträgt 1% pro Jahr, ähnlich wie bei Personen, die eine alleinige MGUS aufweisen [4, 5].

Schlussfolgerung

Das SCLS ist durch eine rasche Gewichtzunahme mit Ödemen, arterieller Hypotonie, Hämokonzentration und paradoxer Hypalbuminämie geprägt und bleibt, obwohl es sich um eine schwerwiegende Krankheit handelt, in medizinischen Fachkreisen wenig bekannt. Oftmals wird die Diagnose verspätet gestellt, wodurch sich Prognose und Morbidität verschlechtern. Ein besseres Verständnis der Pathophysiologie des Syndroms ist von entscheidender Bedeutung, um die derzeitige, hauptsächlich symptomatische Behandlung zu optimieren.

Das Wichtigste für die Praxis

• «3 H»: Hypotonie, Hämokonzentration, Hypalbuminämie.
• Beim idiopathischen Kapillarlecksyndrom ist eine massive Volumensubstitution nicht angebracht. Vasopressoren in Verbindung mit einem rasch infundierten Bolus einer Kolloidlösung sind einer kontinuierlichen Kristalloidinfusion vorzuziehen. Nach Normalisierung der Diurese kann mithilfe von Diuretika (und einer Ultrafiltration im Falle von Niereninsuffi­zienz) der Volumenüberladung vorgebeugt werden.
• Durch regelmässige Hämatokritmessung kann die Entwicklung verfolgt (Verstärkung des Flüssigkeitsaustritts aus den Kapillaren oder Übergang in die Post-Leckphase) und Komplikationen vorgebeugt werden.

Abkürzungen


Ang2 Angiopoetin 2
ANV Akutes Nierenversagen
C1-INH C1-Esterase-Inhibitor
cAMP Zyklisches Adenosinmonophosphat
CRP C-reaktives Protein
IgA Immunglobulin A
IgG Immunglobulin G
SCLS «systemic capillary leak syndrome» (idiopathisches (oder systemisches) Kapillarlecksyndrom)
IL Interleukin
IVIG Intravenöse Immunglobuline
KDIGO «Kidney Disease: Improving Global Outcomes»
MGUS Monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz
PRES Posteriores reversibles Enzephalopathie-Syndrom
TNF-α Tumornekrosefaktor α
VEGF Vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktoren
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Prof. Dr. med.
Arthur ­Helbling
Universitätsklinik für Rheumatologie, Immuno­logie und Allergologie
Inselspital
Freiburgstrasse 16p
CH-3010 Bern
Arthur.Helbling[at]insel.ch
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