Neuere, schonendere (?) Verfahren in der Behandlung der morbiden Adipositas
Kommentar aus Sicht der «Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and metabolic Disorders»

Neuere, schonendere (?) Verfahren in der Behandlung der morbiden Adipositas

Editorial
Ausgabe
2021/3536
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08800
Swiss Med Forum. 2021;21(3536):594-595

Affiliations
Clarunis – Universitäres Bauchzen­trum Basel, St. Claraspital, Basel
Präsident der «Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and metabolic Disorders» (SMOB)

Publiziert am 01.09.2021

Der Vorstand der «Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and metabolic Disorders» (SMOB) ist der Redaktion des Swiss Medical Forum dankbar, dass wir einen Kommentar zum in vorliegender Ausgabe publizierten Artikel über den endoskopischen Schlauchmagen («endoscopic sleeve gastroplasty» [ESG]) von Adler et al. [1] verfassen dürfen. Die SMOB ist eine interdisziplinäre und interprofessionelle Fachgesellschaft, die vor Jahren vom Bundesamt für Gesundheit den Auftrag erhalten hat, Richtlinien zur chirurgischen Therapie von Patientinnen und Patienten mit morbider Adipositas und assoziierten Folgekrankheiten zur erstellen (www.smob.ch). Darin sind die interdisziplinäre Abklärung und Vorbereitung, die erlaubten Eingriffe und die Nachsorge definiert sowie mehrere Qualitätssicherungsmassnahmen formuliert (Struktur- und Prozessqualitätsmerkmale der Zentren mit Mindestfallzahlen, eine dreimonatige Bedenkfrist für die Patientinnen und Patienten, Registerpflicht etc).
Wir schliessen uns der Beurteilung der Autoren an, dass dieser endoskopische Eingriff nur Patientinnen und Patienten angeboten werden darf, die die Kriterien gemäss SMOB-Richtlinien erfüllen (Body-Mass-­Index [BMI] >35 kg/m2, erfolglose konservative Therapiemassnahmen kumulativ über zwei Jahre, bei BMI >50 kg/m2 ein Jahr). Wie jedes neue experimentelle Verfahren darf es nur an bariatrischen Referenzzen­tren im Rahmen einer von einer Ethikkommission bewilligten Studie angewandt werden. Die Patientinnen und Patienten müssen also eine Einwilligungserklärung unterschrieben, die auf den experimentellen Charakter des Eingriffes aufmerksam macht. Eine fachgerechte interdisziplinäre und interprofessionelle Nachbetreuung gehört dazu, die eine ausgewogene ­Ernährung und ausreichende Bewegung miteinschliesst sowie ungünstige Entwicklungen oder Komplikationen rechtzeitig erkennen lässt.
Die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Gastroenterologie, im Speziellen der interventionellen Endoskopie, ist hervorragend. Sie sind in den meisten Zentren Mitglieder des interdisziplinären Teams. Wir können den Wunsch absolut nachvollziehen, endoskopische Verfahren in der bariatrischen Therapie einfliessen zu lassen. Aus der Erfahrung von über 35 Jahren mit rein restriktiv wirkenden Verfahren (Gastroplastik, Magenbandoperation, Gastroplikatur oder Gastric Pacing etc.) sind wir sehr skeptisch, dass der ESG langfristig erfolgreich sein wird. All diese Verfahren waren kurzzeitig erfolgreich – die langfristige Erfolgsrate war aber selten über 10% [2] – und haben kaum mehr eine Bedeutung in der Bariatrie. Es gibt zurzeit nur 2-Jahres-Resultate von grösseren ESG-­Serien mit einer nicht dokumentierten Nachkontrollrate. Auch sind die Frühkomplikationen nur in der Häufigkeit, aber nicht im Schweregrad dokumentiert, so wie es in der Chirurgie sonst üblich ist. Tödliche Komplikationen sind den Autoren bekannt, sind aber nicht publiziert.
Der ESG wird oft mit der chirurgischen Methode des Schlauchmagens verglichen. Dabei ist die komplette Entfernung des Fundus für ein gutes Resultat ausschlaggebend (Effektivität und Nebenwirkungen, vor allem Reflux). Dass dies nun beim ESG nicht wichtig sein soll, erstaunt. Es ist natürlich nachvollziehbar, dass man nicht gerne transmurale Nähte ohne Einsicht auf Milz und Pankreas legen möchte. Die Annahme, dass es zu einer Verkürzung des Magens kommt mit Reduktion der Peristaltik gefolgt von Sättigungsgefühl, ist spekulativ und wissenschaftlich zu belegen.
Der SMOB-Vorstand möchte nicht dem Fortschritt in der Bariatrie im Weg stehen, die ESG-Eingriffe werden auch im SMOB-Register erfasst. Wir begrüssen sehr, dass die Autoren eine entsprechende Multizenterstudie zum ESG initiiert haben, auch wenn es sich dabei neben mechanistischen Aspekten mehrheitlich um eine Beobachtungsstudie handelt mit relativ geringem Evidenzgrad. Wünschenswert wären randomisiert kontrollierte Studien (RCTs) zum Vergleich mit chirurgischen oder aber auch neueren medikamen­tösen Therapieoptionen. Bezüglich der Effektivität des ESG-Verfahrens berichten die Autoren von einer ­Gewichtsreduktion von 18,6% 24 Monate nach der Intervention. Aus unserer Sicht kann jedoch bereits jetzt davon ausgegangen werden, dass das ESG-Verfahren hinsichtlich der erzielten Gewichtsreduktion den eta­blierten chirurgisch-bariatrischen Verfahren klar unterlegen ist. Da die Anbieter der ESG oft das Argument der geringeren Invasivität gegenüber den chirurgischen Verfahren anführen, sollte das Verfahren auch mit den relativ neuen Optionen der medikamentösen Adipositastherapie verglichen werden, über deren ­Effektivität solide Daten aus RCTs vorliegen. Diesbezüglich sei erwähnt, dass in der primären Zulassungsstudie des aktuell oft eingesetzten Medikaments ­Saxenda® (Liraglutid) eine Gewichtsreduktion von 8% nach 56 Wochen unter der Behandlung mit Liraglutid beobachtet wurde, während diese in der mit Plazebo behandelten Gruppe 2,6% betrug [3]. Es darf erwartet werden, dass die nächste Generation der auf «Glucagon-like peptide-1»-(GLP-1-)Rezeptoragonisten basierten Medikamente zur Gewichtsreduktion noch deutlich effektiver sein werden. So wurde in einer jüngst veröffentlichten RCT [4] eine mittlere Gewichtsreduktion von 14,9% unter der Behandlung von 2,4 mg Semaglutid einmal pro Woche beobachtet (2,4% unter Plazebo). Wenn sich diese Ergebnisse nach Zulassung der Substanz zur Adipositasbehandlung in der Praxis ­bestätigen, dürfte der Stellenwert des immer noch klar invasiven und wissenschaftlich bislang insuffizient evaluierten ESG-Verfahren in der Therapie der Adipositas noch fragwürdiger werden.
Wir vom SMOB-Vorstand wehren uns dagegen, dass ­Patientinnen und Patienten ausserhalb dieser Studie, gegebenenfalls als Selbstzahlende, bei tieferem BMI (<35 kg/m2) diesem hoch experimentellen Verfahren zugeführt werden mit dem Argument, es sei ja keine Operation, nur eine Intervention. Dem Magen ist diese Unterscheidung fremd. Insbesondere die erfahrenen Operateure im SMOB-Vorstand haben erhebliche Bedenken, wie sicher Revisionsoperationen nach erfolglosem ESG oder bei ESG-Komplikationen durchführbar sein werden.
Personen mit morbider Adipositas sind oft verzweifelt und vulnerabel, sich auf unkritisch angepriesene ­Methoden einzulassen. Diese gilt es zu schützen.
Der Autor hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen ­Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Prof. Dr. med. Ralph Peterli
Präsident SMOB
Clarunis – Universitäres Bauchzen­trum Basel
Postfach
CH-4002 Basel
Ralph.peterli[at]clarunis.ch
1 Adler E, Vinzens F, Gubler C, Wiest R, Gass M, Sykora M, Aepli P. Der endoskopische Schlauchmagen. Swiss Med Forum. ­2021;21(35–36):606–8.
2 Vinzens F, Kilchenmann A, Zumstein V, Slawik M, Gebhart M, Peterli R. Long-term outcome of laparoscopic adjustable gastric banding (LAGB): results of a Swiss single-center study of 405 patients with up to 18 years’ follow-up. Surg Obes Relat Dis. 2017;13(8):1313–9.
3 Pi-Sunyer X, Astrup A, Fujioka K, Greenway F, Halpern A, Krempf M, Lau DC, le Roux CW, Violante Ortiz R, Jensen CB, Wilding JP; SCALE Obesity and Prediabetes NN8022-1839 Study Group. Once-Weekly Semaglutide in Adults with Overweight or Obesity. A Randomized, Controlled Trial of 3.0 mg of Liraglutide in Weight Management. N Engl J Med. 2015;373(1):11–22.
4 Wilding JPH, Batterham RL, Calanna S, Davies M, Van Gaal LF, Lingvay I, et al.; STEP 1 Study Group. Once-Weekly Semaglutide in Adults with Overweight or Obesity. N  Engl J Med. 2021;384(11):989.