Sagittale Balance – das richtige Mass an Therapie
Operative Behandlung nach individueller Beurteilung

Sagittale Balance – das richtige Mass an Therapie

Editorial
Ausgabe
2021/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08815
Swiss Med Forum. 2021;21(3132):533-534

Affiliations
Ambulatorium Orthopädie Sonnenhof, Sonnenhofspital, Bern; Titularprofessor Universität Bern

Publiziert am 03.08.2021

Die Kollegen Ulrich et al. [1] präsentieren im Namen der Schweizerischen Gesellschaft für Neurochirurgie in dieser Nummer des Swiss Medical Forum einen kurzen Übersichtsartikel über das wohl komplexeste Kapitel der Wirbelsäulenchirurgie – die sagittale Balance. In Zusammenhang mit der sagittalen Balance sind alle Aspekte von Wirbelsäulenerkrankungen möglich – von einer einfachen spinalen Stenose, die den Patienten quasi in die Knie zwingt, bis zur komplizierten strukturellen Deformation der Wirbelsäule.
Die Haltungsinsuffizienz – oder wie in diesem Artikel (wohl in Anlehnung an die Parkinson-Erkrankung) die Haltungsinstabilität – ist eine Problematik, die wir gelegentlich schon bei Kindern antreffen und dann mit ­Ermahnungen versuchen, diese zum geraden Sitzen zu animieren. Selten verbirgt sich dahinter eine wirkliche Erkrankung im Sinne einer Wachstumsstörung (Morbus Scheuermann). Solange die Muskulatur fit ist, kann man solche Probleme kompensieren.
Wie im Artikel dargelegt, ist die Problematik im Alter eine andere – die degenerative Kaskade führt zu einer strukturellen Veränderung der Wirbelsäulenstatik (Stichwort degenerative Skoliose) mit Verlust der physiologischen Lordose. Osteoporotische Wirbelfrakturen können per se oder zusätzlich zu einem dramatischen Haltungszerfall führen, der muskulär nicht mehr auszugleichen ist. Der Verlust der Muskelmasse seinerseits (Sarkopenie) trägt weiter dazu bei, dass die Kompensationsmöglichkeiten schwinden – ein Circulus vitiosus im wahrsten Sinne.
Fortschritte in der Wirbelsäulenchirurgie und auch in der Anästhesie ermöglichen es, kompliziertere Eingriffe ebenfalls bei kränkeren Patientinnen und ­Pa­tienten durchzuführen. Es ist deshalb wichtig, das richtige Mass zu finden und nicht über das Ziel hinauszuschies­sen – wie die Autoren in ihrem Artikel schreiben –, aber auch bei gegebener Indikation unseren Patientinnen und Patienten die chirurgischen ­Behandlungsmöglichkeiten nicht vorzuenthalten.
Die Autoren bringen vier Aspekte zur Sprache: Es werden die radiologischen Parameter dargestellt, die relevant sind für die balancierte Wirbelsäule. Zu unterstreichen ist dabei, dass jeder Mensch seinen «fixen» Beckenindex hat, der eine Reihe von weiteren Haltungsparametern determiniert. Anlehnend an diese radiologischen Parameter werden die notwendigen und möglichen Korrekturen beschrieben und veranschaulicht, um die Wirbelsäule ins Lot zu bringen. Das hohe Komplikationsrisiko wird erwähnt, aber auch die Chancen einer Verbesserung der Lebensqualität, die durch die Aufrichtung der verkrümmten Wirbelsäule gegeben sind. Erwartungsgemäss ist die Evidenz der operativen Behandlung bei dieser komplexen Problematik tief, aber nicht fehlend («the absence of evidence is not evidence of ­absence»). Studien aus den USA, aber auch Europa mit grossen Patientenkollektiven belegen doch den Nutzen, aber auch die Risiken der operativen Behandlung.
In der Beurteilung der Haltungsproblematik werden ­neben den «statischen» radiologischen Parametern mehr und mehr auch dynamische Aspekte wie das Gangbild und die Qualität der Muskulatur berücksichtigt.
Wenn in der hausärztlichen Praxis die operative Behandlung diskutiert wird, sollten ein paar praktische Aspekte in die Entscheidungsfindung einfliessen: Eine Aufrichte-Operation der Wirbelsäule bedingt eine lange Rekonvaleszenz von zirka drei bis vier ­Monaten. Durch die Aufrichtung der Wirbelsäule ist das Bücken anfänglich tabu und bleibt limitiert – das hat praktische Konsequenzen zum Beispiel beim ­Anziehen von Strümpfen und Schuhen oder auch bei der persönlichen Hygiene. Das grösste Risiko in Zusammenhang mit einer solchen Operation ist die ­Anschluss-Segment-Degeneration – die sogenannte proximale junktionale Kyphose (PJK). Damit verbunden ist oft zwingend eine erneute chirurgische Intervention mit einer Verlängerung der Stabilisierung. Wenn man einmal angefangen hat, gibt es kein Zurück, man ist auf einer Einbahnstrasse. Die Autoren unterstreichen diesbezüglich, dass bei jeder Versteifungs-Operation, auch bei einer kurzstreckigen, die Balance berücksichtigt werden muss, weil bei ungenügender Korrektur die Anschlussproblematik vorprogrammiert ist. Für die Lendenwirbelsäule gilt, dass knapp zwei Drittel der gesamten Lordose zwischen L4 und S1 liegen sollten.
Aufgrund der persönlichen, langjährigen Erfahrung in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit diesen komplexen Wirbelsäulenproblemen kann man zu den Kriterien einer operativen Behandlung (ja/nein/Technik) festhalten, dass diese Kriterien individuell für jede Patientin und jeden Patienten zu beurteilen sind. Mehr als bei jeder anderen Operation scheint mir das Statement von Prof. Christian Gerber, dem ehemaligen Ordinarius für Orthopädie der Klinik Balgrist, Zürich, als Schlussvotum angebracht: «Man muss die richtige Operation beim richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt korrekt durchführen. Auch muss man den Mut haben, auf die Operation zu verzichten, wenn es eine bessere Alternative gibt.» Und anmerken: Manchmal ist der Rollator die bessere Alternative.
Der Autor hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen ­Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Prof. Dr. med. Paul F. Heini
Ambulatorium Orthopädie Sonnenhof
Sonnenhofspital
Salvisbergstrasse 4
CH-3006 Bern
paulheini[at]sonnenhof.ch
1 Ulrich CT, Schär RT, Jesse CM, Fichtner J, Raabe A, Payer M, et al. Sagittale Balance und Haltungs­instabilität als Kriterien für Wirbelsäulenoperationen. Swiss Med Forum. ­2021;21(31–32):536–40.