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Gibt es die Grippe noch?
Global kam es im Zuge der COVID-19-Pandemie zu einem starken Rückgang der Influenza-Aktivität [1]. Die Konsistenz der Länderdaten ist eindrücklich. In den USA wurde zwei Wochen nach Deklaration des nationalen Notstandes (13. März 2020) ein historischer 98%iger Rückgang der Testpositivität verzeichnet, obwohl das Testvolumen um nur 61% abnahm. In der südlichen Hemisphäre gab es während der dortigen Grippesaison kaum Influenza-Zirkulation: In Australien, Chile und Südafrika zusammen waren von total >83 000 Influenza-Tests nur 51 positiv [2]. In Australien ist die Influenza-Epidemie vollständig ausgeblieben, und dies trotz gesteigertem Testvolumen [2, 3]. In Europa wurden in dieser Wintersaison (Kalenderwochen 40/2020–08/2021) nur 712 Influenza-Infektionen detektiert, was einem Rückgang von 99,5% gegenüber dem Vorjahr entspricht [4].
Wie sieht es bei uns aus? Gemäss Surveillance-Daten des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) wurde seit Jahresbeginn schweizweit 21-mal Influenza nachgewiesen (Stand 30. März 2021) – vergleichend dazu dieselben Zeiträume in den Vorjahren: 11 169 Fälle im Jahr 2020; 12 496 Fälle im Jahr 2019 [5].
Eine an unserer Institution (Inselgruppe Bern) durchgeführte Datenanalyse zeigt ein identisches Bild: Trotz einer seit November 2020 bestehenden intensiven kombinierten Testung für SARS-CoV-2 und Influenza bei notfallmässigen Spitaleintritten mit total ~3300 durchgeführten Tests (01. November 2020 – 10. April 2021) konnte keine Influenza detektiert werden (Abb. 1). In den Vorjahren waren während der Grippeepidemie jeweils >220 Influenza-Erkrankungen diagnostiziert worden (2017/18: 260; 2018/19: 276; 2019/20: 238).
Warum ist die Grippe weg?
Beobachtungsdaten sind nicht geeignet, um Kausalitäten aufzuzeigen, dennoch passen oben genannte Daten gut zur Hypothese, dass nicht pharmakologische Massnahmen (NPM) zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie das Aufkommen der winterlichen Influenza-Epidemien verhindert haben [2, 6]. Dies ist auch biologisch plausibel: NPM wie «physical distancing», Masken tragen und Händehygiene schützen nicht nur gegen SARS-CoV-2, sondern auch gegen andere respiratorische Viren, die über respiratorische Partikel übertragen werden, wie z.B. Influenza. Durch die zudem massiv eingeschränkte Mobilität durch eingestellten Flugverkehr und Grenzschliessungen sowie Quarantäne/Isolation haben es die wenigen detektierten Influenza-Viren schwer, zu zirkulieren und lokale Epidemien zu verursachen.
Ein möglicher zusätzlicher Faktor, der zu einem substantielleren Unterbruch der Transmission führen kann, besteht in der kleineren Basisreproduktionszahl von Influenza (R0 = 1,3 [7]) im Vergleich zu SARS-CoV-2 (R0 = 2,8 [8]). Mögliche weitere relativierende Erklärungen für die tiefen Influenza-Zahlen sind: (1.) weniger Arztbesuche aufgrund respiratorischer Erkrankungen, (2.) weniger Diagnostik wegen Fokus auf SARS-CoV-2 und (3.) weniger rapportierende Laborzentren [4].
Kommt die Grippe wieder zurück?
Unter den Experten besteht keine prognostische Einigkeit in Bezug auf die postpandemischen Influenza-Saisons. Aufgrund der fehlenden Elimination und des grossen natürlichen Reservoirs von Influenza-Viren im Tierreich wird nach Abklingen der COVID-19-Pandemie und Aufheben der nicht pharmazeutischen Massnahmen früher oder später mit einer wieder startenden globalen Zirkulation gerechnet. Eine unangenehme Frage muss offengelassen werden: Führt das temporäre Verschwinden der Influenza-Viren zu einer abnehmenden Hintergrundimmunität und damit grösseren Vulnerabilität gegenüber der (nächsten) Grippe?
Was sollen wir tun?
Die jährlichen globalen Influenza-Epidemien führen neben einer hohen Morbidität und Mortalität mit geschätzt 3–5 Millionen schweren Erkrankungen und 290 000–650 000 Todesfällen [9, 10] zu kaum bezifferbaren, weil methodologisch schwierig zu erfassenden, aber mutmasslich schweren sozioökonomischen Kosten [11].
Basierend auf der vernünftigen Annahme, dass das Verschwinden der Grippe grösstenteils den NPM der COVID-19-Pandemie zu verdanken ist, würde es sich lohnen, proaktiv zu diskutieren, wie diese in das Management von zukünftigen Influenza-Epidemien integriert werden sollen. Dies könnte neben der Grippeimpfung ein wichtiger Zusatz sein, um vulnerable Personengruppen in den Wintermonaten vor der Influenza-Epidemie zusätzlich zu schützen.
Was wir – unabhängig von Public-Health-Massnahmen – gelernt haben, ist, was jede/r einzelne von uns zur eigenen Gesundheit und derjenigen des engen Umfeldes beitragen kann: respiratorische Etiquette [12], gute Händehygiene, bei grippalen Erkrankungen unnötige Menschenkontakte vermeiden und niederschwellig eine Maske tragen.
Die Autorin hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Dr. med. Michèle Birrer
Infektiologie und Spitalhygiene
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 19p
CH-3010 Bern
michele.birrer[at]insel.ch
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