Zwangsstörungen: Wenn Synapsen zu Kontrollverlust führen
Abgeschwächte neuronale Verbindungen als Ursache

Zwangsstörungen: Wenn Synapsen zu Kontrollverlust führen

Aus der Forschung
Ausgabe
2021/3738
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08841
Swiss Med Forum. 2021;21(3738):639-640

Affiliations
a Département des Neurosciences Fondamentales, Université de Genève, Genève; b Service de Neurologie, Département des Neurosciences Cliniques, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève

Publiziert am 15.09.2021

Ziel der vorliegenden Arbeit war, die Funktion von Synapsen in einem genetischen Modell zu testen, um zwanghaftes Verhalten zu erklären.

Hintergrund

Die Zwangsstörung ist eine psychische Erkrankung, die mit einer Prävalenz von 1,3% relativ häufig ist [1]. Symptome sind obsessive Gedanken und kompulsive Handlungen [2]. Zwangsstörungen können schon im Kindesalter auftreten, wobei das Durchschnittsalter bei Diagnosestellung aber 19,5 Jahre beträgt [3]. Die Krankheit führt zur Beeinträchtigung im Alltag, variierend von nur leichter Einschränkung bis hin zur Arbeitsunfähigkeit und sozialer Isolation. Patienten verstehen grundsätzlich, dass die Obsessionen irrational sind, können aber trotzdem nicht von Zwangshandlungen lassen.
Die Zwangsstörung hat eine genetische Komponente [4], die Liste der verantwortlichen Gene ist jedoch nicht bekannt. Dies rührt wahrscheinlich daher, dass Zwangsstörungen sowohl genetische als auch nicht-genetische Ursachen haben, und somit dem breiten Spektrum von Krankheitsbildern verschiedene Ätiologien zugrunde liegen. Zu den Genen, die möglicherweise Zwangsstörung verursachen, wenn sie Mutationen aufweisen, gehören SLC1A1 [5], das für den neuronalen Glutamattransporter EAAT3 codiert, sowie SAPAP3 [6]. Letzteres spielt eine Rolle in der strukturellen Stabilität sowie bei plastischen Veränderungen glutamaterger Synapsen [7, 8]. SAPAP3 und EAAT3 haben gemeinsam, dass sie Teil des zerebralen Glutamat­systems sind, das für die Aktivierung von Nervenzellen verantwortlich ist. Tatsächlich wurde mittels funktioneller Magnetresonanztomographie dargestellt, dass erregende neuronale Aktivität in gewissen Hirnregionen bei Zwangspatienten verändert ist. Dies betrifft die Grosshirnrinde und tiefen Hirnkerne wie etwa das Striatum und den Thalamus [9]. Daraus folgt, dass Zwangsstörung als Pathologie neuronaler Schaltkreisfunktion im Gehirn verstanden wird. Den Synapsen als Verbindungen zwischen Nervenzellen kommt somit eine zentrale Rolle zu. Veränderte Funktionalität von Synapsen führt zu veränderter Hirnaktivität und schliesslich zu krankhaftem Verhalten.

Zielsetzung

Unsere Forschung hatte zum Ziel, in einem genetischen Mausmodell die Funktion von Synapsen zwischen Kortex und Striatum zu testen, um so zwanghaftes Verhalten zu erklären.

Methodik

Die Funktion der Synapsen wurde in frischen Hirnschnitten getestet. Wir haben dabei Synapsen von Mäusen, in denen das Sapap3-Gen nicht vorhanden war (Sapap3-knock out, KO) [10]), mit Wildtyp verglichen. Dabei kam eine Kombination von optogenetischer Stimulation und elektrophysiologischen Messungen zum Einsatz. Dies erlaubte uns, die elektrischen Ströme der Synapsen zwischen Kortex und Striatum zu messen. Zudem haben wir die Mäuse auf kompulsives Verhalten untersucht.

Wichtigste Ergebnisse

Unsere Erkenntnisse haben wir in der Fachzeitschrift Neuropsychopharmacology publiziert [11]. Die Verhaltenstests mit Sapap3-KO-Mäusen haben bestätigt, dass die Mäuse verstärkte Fellpflege betreiben, die in ein zwanghaftes Putzen und Hautläsionen ausarten kann. In den Hirnschnitten zeigte sich dann, dass glutamaterge Signalübertragung spezifischer kortiko-striataler Synapsen in den Sapap3-KO-Mäusen schwächer war als in der Kontrollgruppe (Abb. 1). Davon betroffen waren neuronale Projektionen von der motorischen und cingulären, nicht aber von der orbitofrontalen Grosshirnrinde.
Abbildung 1: Neuronale Pathophysiologie der Zwangsstörung erforscht im Mausmodell. 
Das Sapap3- KO-Mausmodell dient zur Beschreibung von kompulsivem Verhalten (insbesondere pathologische Fellpflege) sowie der den Zwangshandlungen zugrundeliegenden neuronalen und synaptischen Veränderungen.

Schlussfolgerung und Ausblick

Mittels des Sapap3-KO-Mausmodells konnten wir zeigen, dass abgeschwächte kortiko-striatale Synapsen mit einem zwangshaften Verhalten bei Mäusen einhergehen. Zwangspatienten, die von einer Mutation im SAPAP3-Gen betroffen sind, haben wahrscheinlich analoge Dysfunktionen kortiko-striataler Synapsen, und die Behandlung müsste entsprechend auf eine Stärkung dieser Synapsen abzielen.
In der Behandlung der Zwangsstörung werden neben Verhaltenstherapien Serotonin-Wiederaufnahmehemmer eingesetzt. Eine Wirksamkeit bei kortiko-striatalen Dysfunktionen ist jedoch unwahrscheinlich, da sie nicht direkt auf das Glutamatsystem einwirken. Eine Alternative, die seit einigen Jahren erfolgreich bei starken und therapieresistenten Zwangsstörungen eingesetzt wird, ist die tiefe Hirnstimulation [12]. Diese moduliert die Aktivität im neuronalen Netzwerk in einer Hirnregion, die nach der kortiko-striatalen Projektion geschaltet ist und kann somit eher als kausale Therapie verstanden werden.
Ein neuer Therapieansatz, der momentan in klinischen Studien untersucht wird, ist die Behandlung mit der halluzinogenen Substanz Psilocybin. Im Tiermodell stärkt Psilocybin neuronale Synapsen [13] und könnte somit direkt eine durch SAPAP3-Mutation hervorgerufene Schwächung der Synapsen korrigieren.
Die Autoren danken dem Schweizerischen Nationalfonds für die Unterstützung (LDS; Grant Nummer PZ00P3_174178).
Diese Forschung wurde unterstützt durch den Schweizerischen Nationalfonds (LDS; Grant Nummer PZ00P3_174178).
Dr. Linda D. Simmler
Département des ­Neurosciences ­Fondamentales
Université de Genève
Rue Michel-Servet 1
CH-1206 Genève
Linda.Simmler[at]unige.ch
 1 Fawcett EJ, Power H, Fawcett JM. Women are at greater risk of OCD than men: a meta-analytic review of OCD prevalence worldwide. J Clin Psychiatry. 2020;81(4):19r13085.
 2 American Psychiatric Association, Diagnostic and statistical manual of mental disorders: DSM-5. 5th ed. 2013, Arlington, VA: American Psychiatric Association.
 3 Ruscio AM, et al. The epidemiology of obsessive-compulsive disorder in the National Comorbidity Survey Replication. Mol Psychiatry. 2010; 15(1):53–63.
 4 Pauls DL. The genetics of obsessive-compulsive disorder: a review. Dialogues Clin Neurosci. 2010;12(2):149–63.
 5 Escobar AP, et al. The neuronal glutamate transporter EAAT3 in obsessive-compulsive disorder. Front Pharmacol. 2019; 10:1362.
 6 Zuchner S, et al. Multiple rare SAPAP3 missense variants in trichotillomania and OCD. Mol Psychiatry. 2009;14(1):6–9.
 7 Kim E, Sheng M. PDZ domain proteins of synapses. Nat Rev Neurosci. 2004;5(10):771–81.
 8 Chen M, et al. Sapap3 deletion anomalously activates short-term endocannabinoid-mediated synaptic plasticity. J Neurosci. 2011;31(26):9563–73.
 9 Pauls DL, et al. Obsessive-compulsive disorder: an integrative genetic and neurobiological perspective. Nat Rev Neurosci. 2014; 15(6):410–24.
10 Welch JM, et al. Cortico-striatal synaptic defects and OCD-like behaviours in Sapap3-mutant mice. Nature. 2007;448(7156):­894–900.
11 Hadjas LC, et al. Projection-specific deficits in synaptic transmission in adult Sapap3-knockout mice. Neuropsychopharmacology. 2020;45(12):2020–9.
12 Mallet L, et al. Subthalamic nucleus stimulation in severe obsessive-compulsive disorder. N Engl J Med. 2008;359(20):­2121–34.
13 Ly C, et al. Psychedelics promote structural and functional neural plasticity. Cell Rep. 2018;23(11):3170–82.