Medizinethik in der Schweiz: Solide Grundlagen im Brennglas der Pandemie
Jubiläumsschlaglicht: Medizinische Ethik

Medizinethik in der Schweiz: Solide Grundlagen im Brennglas der Pandemie

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2021/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08927
Swiss Med Forum. 2021;21(5152):876-877

Affiliations
a Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Bern; b Ressort Ethik

Publiziert am 21.12.2021

Die medizinische Ethik in der Schweiz hat sich über Jahrzehnte etabliert. Ihr Wert ist nicht ohne die Frage zu diskutieren, was diese Disziplin zur Bewältigung der ­COVID-19-Pandemie beiträgt.

Hintergrund

Mit ihren medizin-ethischen Richtlinien – aktuell sind 19 in Kraft [1] – spielt die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) via ihre zentrale Ethikkommission (ZEK) eine wichtige Rolle für die Medizinethik in der Schweiz. Über das Fachgebiet hinaus unterstreicht ihr Motto «Scientiae Medicinali et Societati» seit Jahrzehnten das Engagement der SAMW als Dienstleisterin für die medizinische Wissenschaft und die Gesellschaft. Sie strebt eine frühe Antizipation ethischer Fragen im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen und Entwicklungen an. Medizinethische Richtlinien bieten Orientierung für die Praxis, Stellungnahmen und Empfehlungen bilden Grundlagen für eine breite Diskussion. Sie richten sich primär an Gesundheitsfachpersonen.
Seit 20 Jahren leistet auch die Nationale Ethikkommission (NEK) durch ihre Stellungnahmen und Kommunikation mit der Öffentlichkeit einen wichtigen Beitrag zur Klärung ethischer Fragen im Bereich der Humanmedizin. Eine zentrale Rolle im Fachgebiet spielen die Institute für Medizinethik an Universitäten und die Fachstellen und Gremien für klinische Ethik in den Spitälern. Wertvolle Stützen im Netzwerk sind Institutionen wie die Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik, die seit 1989 tätig ist und die wissenschaftliche Zeitschrift Bioethica Forum herausgibt (vgl. www.bioethics.ch).
Es wäre unvorstellbar, die medizinische Ethik der letzten 20 Jahre aktuell zu diskutieren, ohne auf die COVID-19-Pandemie einzugehen. Die Pandemie hat viele ethische Fragen aufgeworfen, unter anderem zu Patientenverfügungen, zur moralischen Notlage von Gesundheitsfachpersonen und zu Entscheidungs­kriterien für den Einsatz intensivmedizinischer Massnahmen bei Ressourcenknappheit. Viele dieser ethischen Fragen sind nicht neu und werden seit Jahrzehnten diskutiert, sie haben sich unter dem Brennglas der Pandemie jedoch zugespitzt. In diesem Artikel skizzieren wir drei Themen; 1. die gesundheitliche Vorausplanung, 2. Ethikberatung in der Klinik, und 3. Intensivmedizinische Massnahmen.

Gesundheitliche Vorausplanung und Patientenverfügungen

Eine der Prioritäten in Zeiten von Gesundheitskrisen ist die Erörterung einer vorausschauenden gesundheitlichen Vorausplanung, insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Risiko, dass sich ihr Gesundheitszustand rasch verschlechtert. Meist wird dies mit dem Instrument der Patientenverfügung ­gemacht. Die SAMW hat bereits 2009 mit entsprechenden Richtlinien eine Orientierung gegeben, auf welche Punkte zu achten sind.
Die ersten Monate der COVID-19-Pandemie waren ein Katalysator für die gesundheitliche Vorausplanung. Sowohl die medizinischen Fachpersonen als auch ­erkrankte Personen und deren Angehörige und nicht ­zuletzt die breite Bevölkerung wurden sich bewusst, wie wichtig es ist, die eigenen Wertvorstellungen und Wünsche für den Fall einer schweren gesundheitlichen Krise zu reflektieren und festzuhalten. Dabei sollten nicht nur die Präferenzen für oder gegen einen Spitalaufenthalt, sondern auch für eine Aufnahme auf die Intensivstation besprochen werden.

Ethikberatung in der Klinik

Die Pandemie hat deutlich gezeigt, wie wichtig die Rolle der Ethik in der Klinik ist. Medizinische Fachpersonen sind einem besonders hohen Risiko physischer und psychischer Überbelastung und moralischem Stress ausgesetzt. Kann aufgrund der Ressourcenknappheit der Behandlungsstandard nicht aufrechterhalten werden, führt diese erzwungene Verletzung berufsethischer Normen zu erheblichen Belastungen bis hin zur «moral injury». Eine Professionalisierung der klinischen Ethik mit Unterstützungsangeboten und eine fundierte Ethikausbildung für Gesundheitsfachpersonen ist heute mehr denn je unverzichtbar [2, 3].
Seit 2002 verfolgt und dokumentiert die SAMW die Entwicklung der Ethikunterstützung in Schweizer Spitälern, psychiatrischen Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen. Inzwischen ist die klinische Ethik etabliert, in vielen Institutionen des Gesundheitswesens gibt es Ethikkommissionen, Ethikfachstellen oder Ethikforen. Die von der SAMW durchgeführten Umfragen zeigen, dass die Strukturen in den letzten 20 Jahren von 20% (2002) über 44% (2006) auf 48% (2014) und schliesslich 54% (2020) gewachsen sind. Detaillierte Ergebnisse der Umfrage 2020 befinden sich derzeit in der Auswertung, eine Publikation ist in Planung [4]. Die drängendsten Themen der klinischen Ethik veränderten sich über die Jahre, als roter Faden zeigen sich ethische Fragen zu «Therapieabbruch», gefolgt von Themen wie «Reanimation», «Sterbehilfe» oder «Zwangsmassnahmen». Die SAMW bietet dazu nicht nur Richtlinien an, sondern unterstützt die Professionalisierung der klinischen Ethikunterstützung etwa mit Vernetzungs- und Weiterbildungsveranstaltungen.

Intensivmedizinische Massnahmen

Intensivmedizinische Massnahmen sind für alle Beteiligten sehr belastend und nicht immer kann die ­Gesundheit in der erhofften Qualität zurückgewonnen werden. Die zentrale Frage ist, welche Ziele in welchen klinischen Situationen mit intensivmedizinischen Massnahmen erreicht werden können und sollen. Als Hilfestellung hat die SAMW die medizin-ethischen Richtlinien «Intensivmedizinische Massnahmen» (2013) erarbeitet.
Im März 2020 führten hohe Fallzahlen von COVID-19-Erkrankten zu einem Massenzustrom von Patientinnen und Patienten in Akutspitäler. Angesichts ­dieser Situation erarbeiteten die SAMW und die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) in kürzester Zeit ergänzende Richtlinien zur Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit. Gestützt auf die gemachten Erfahrungen wurden diese im Laufe der Pandemie mehrfach aktualisiert. Begleitend organisierte die SAMW seit Ausbruch der Pandemie regelmässig nationale ­Online-Meetings für den Austausch zwischen Fachleuten, die in Spitälern und Heimen mit – immer wieder neuen – medizin-ethischen Fragen konfrontiert sind.

Beurteilung

Das Coronavirus hat grundlegende soziale, ethische und rechtliche Themen (wieder) ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Dank der Erarbeitung von Richtlinien und Strukturen der klinischen Ethik in den letzten 20 Jahren kann die Schweiz auf solide Grundlagen bauen zur weiteren Förderung und Verbesserung der Medizinethik. Im Bereich der gesundheitlichen Vorausplanung, etwa bezüglich der Einheitlichkeit und Umsetzbarkeit von Patientenverfügungen, zur Beratung oder deren Finanzierung. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) beauftragt, zusammen mit der SAMW eine Arbeitsgruppe «Gesundheitliche Vorausplanung» einzusetzen, um den notwendigen nationalen Prozess zu steuern. Dieser ist 2021 intensiv angelaufen [5]. Ebenso wird die Fortsetzung eines koordinierten Austauschs der klinischen Ethik auf nationaler Ebene auch in Zukunft wichtig sein und die Revision, Aktualisierung und Implementierung der medizin-ethischen Richt­linien bleiben ein Schwerpunkt.

Ausblick

Die Erarbeitung medizin-ethischer Richtlinien und Empfehlungen hat sich als wichtig erwiesen, um auf schnelle Veränderungen in Gesellschaft und Medizin zu reagieren. Diese Grundlagen sowie die Arbeit der Ethikstrukturen in der klinischen Praxis und die universitäre Forschung in Medizinethik sind entscheidend, um in der Welt von heute zu agieren und uns auf das Morgen vorzubereiten. Die SAMW will auch in ­Zukunft den Gesundheitsfachpersonen praxisnahe Orientierungshilfen bereitstellen und Raum für den Austausch schaffen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Sibylle Ackermann
Schweizerische Akademie der Medizinischen ­Wissenschaften
Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern
s.ackermann[at]samw.ch
1 SAMW. Medizin-ethische Richtlinien. Stand 2021. samw.ch/richtlinien (Stand: 19.09.2021).
2 Hurst SA, Reiter-Theil S, Baumann-Hölzle R, Foppa C, Malacrida R, Bosshard G, et al. The growth of clinical ethics in a multilingual country: Challenges and opportunities. Bioethica Forum 2008;1:15–24.
3 Porz RC. The future of clinical ethics in Switzerland – a plea for further professionalisation. Swiss Medical Weekly 2020:3–5.
4 Zentner A, Porz R, Ackermann S, Jox R. Klinische Ethikstrukturen in der Schweiz - ein Überblick. Vierte Umfrage der SAMW von 2020. Noch unveröffentlichtes Manuskript 2021.
5 BAG und SAMW. Gesundheitliche Vorausplanung (GVP) 2021. www.plattform-palliativecare.ch/themen/gesundheitliche-vorausplanung-gvp und www.samw.ch/gesundheitliche-vorausplanung (Stand: 19.09.2021)..