Eine postmoderne Epidemiologie für das 21. Jahrhundert
Jubiläumsschlaglicht: Epidemiologie

Eine postmoderne Epidemiologie für das 21. Jahrhundert

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2021/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08933
Swiss Med Forum. 2021;21(5152):874-875

Affiliations
a Laboratoire de santé des populations (#PopHealthLab), Université de Fribourg, Fribourg; b BIHAM, Universität Bern, Bern; c School of Population and Global Health, Université McGill, Montréal, Canada

Publiziert am 21.12.2021

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Epidemiologie in eine «postmoderne» Ära eingetreten, indem sie die Datenwissenschaft, soziale Epidemiologie und Kausalitäten miteinander verbindet. Sie muss sich wieder auf die Gesundheit der Bevölkerungen konzentrieren und Fehlinformationen im Gesundheitswesen entgegentreten, um die öffentliche Gesundheit zu steuern.

Hintergrund

Um die Entwicklung der Epidemiologie dieser letzten 20 Jahre zu verstehen, muss man die «modern» genannte Ära der Epidemiologie betrachten (Tab. 1) [1]. Zwischen Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts charakterisierte sich die Epidemiologie durch eine Entwicklung des Risikofaktorenansatzes, entstanden durch die Bildung grosser Kohorten (wie der Framingham-Kohorte) und die Anwendung immer ausgefeilterer statistischer Methoden, die komplexe Langzeitanalysen ermöglichten. Dieser Ansatz war insbesondere wichtig, um die wichtigsten und veränderbaren Ursachen chronischer Krankheiten – wie Nikotinabusus oder arterieller Blutdruck – zu ermitteln und zu deren Prävention beizutragen. Auch erlaubte sie Epidemiologinnen und Epidemiologen, echte Wissenschaft zu betreiben.
Ein weiteres Merkmal der modernen Epidemiologie ist die klinische randomisierte Studie, die – zumindest theoretisch – zur unabdingbaren Voraussetzung der Evidenz in der klinischen Medizin geworden ist [2]. Im Jahr 1948 wurde nämlich die erste randomisierte klinische Studie veröffentlicht, welche die Wirkung von Streptomycin gegen Tuberkulose untersuchen sollte. Seither hat die «klinische» Epidemiologie in der Medizin grosse Bedeutung erlangt. Sie erschuf sich das Feld der auf wissenschaftlichen Beweisen begründeten Medizin und öffentlichen Gesundheit, wobei sie der Logik der klinischen Studie als unersetzliches Element zur Etablierung der Wirksamkeit einer Behandlung oder einer Intervention der öffentlichen Gesundheit folgte.

Grenzen und Zweifel am wissenschaftlichen Wert der Epidemiologie

An der Wende zum 21. Jahrhundert wurden einige der Grenzen und sogar Missbräuche der Epidemiologie deutlich, die Zweifel an ihrem wissenschaftlichen Wert aufkommen liessen [3]. Dieses Misstrauen gegenüber der Epidemiologie entstand vor allem durch das Scheitern einiger Beobachtungsstudien (etwa zu den irrtümlich angenommen schützenden Effekten der Hormonersatztherapie auf kardiovaskuläre Erkrankungen), der regelmässigen Verwechslung von Assoziation und Kausalität, der grossen Zahl an Studien mit falsch positiven Resultaten und der Massenproduktion von Recherchen ohne wirkliche Relevanz für die Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit [4].
Darüber hinaus hat sich der Blickwinkel der Epidemiologie via Kohorten und klinische Studien weg von der Betrachtung der Bevölkerung hin zur Perspektive des einzelnen Individuums entwickelt. Sicherlich war dies hilfreich, um die Biomedizin und die individuelle Prävention voranzubringen und die Grundlage für die personalisierte Medizin zu schaffen. Daher sind das Abschätzen und das Management individueller Risiken zu einem wichtigen Thema in der Medizin und der klinischen Forschung geworden.

Sozial- und Umweltepidemiologie des Lebensverlaufs

Dieser Risikofaktor-Ansatz hat sich jedoch als weniger wirksam erwiesen, um die Wissenschaft im Bereich der öffentlichen Gesundheit voranzubringen. Bei dieser Sichtweise, die sich auf die Bewertung des individuellen Risikos konzentriert, ist es nämlich schwierig, die sozialen, wirtschaftlichen und umweltbedingten Gesundheitsfaktoren zu berücksichtigen, die sich nicht nur auf der individuellen Ebene abspielen, wie beispielsweise Bluthochdruck oder genetische Determinanten.
Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch eben dieses erneute Interesse an der Sozial- und Umweltepidemiologie, insbesondere durch die theo­re­tischen und empirischen Entwicklungen der Lebenslaufforschung in der Epidemiologie («life course epidemiology»), die Sozialepidemiologie, Naturwissenschaften (Biologie, Genetik) und Sozialwissenschaften (Psychologie, Soziologie, Geschichte) miteinander verbindet [5]. Der Ursprung der chronischen Erkrankungen und der Gesundheitsverlauf werden untersucht unter Berücksichtigung der Dauer und des Zeitpunkts der Exposition gegenüber verschiedenen biopsycho­sozialen, umweltbedingten und gesellschaftlichen ­Determinanten während des gesamten Lebens des ­Einzelnen, von der Schwangerschaft bis ins fortgeschrittene Alter.

Datenwissenschaft und Kausalität

Die postmoderne Epidemiologie ist auch durch die Entwicklung der Datenwissenschaft gekennzeichnet, mit ­einem wachsenden Zugang zu umfangreichen («big data») und heterogenen Gesundheitsdaten [6]. Die Möglichkeiten, die sich durch diese Entwicklung ergeben, sind enorm – neue Daten und neue Methoden der Visualisierung oder Extraktion sowie maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz verändern die Epidemiologie und das Gesundheitsmonitoring. Durch den verbesserten ­Zugang zu den Daten der Leistungserbringer konnte auch die Forschung im Gesundheitswesen gestärkt werden.
Diese neuen und «grossen» Daten sagen jedoch nicht mehr aus als die «kleinen» Daten; sie werfen Fragen des Datenschutzes auf und ihre Analyse erfordert enorme Ressourcen. Qualitativ hochwertige epidemiologische Forschung und die Bereitstellung nützlicher Daten für die Entscheidungsfindung im Bereich der ­öffentlichen Gesundheit erfordern mehr denn je eine entsprechende Ausbildung , die weit über die Datenanalyse hinausgeht [7].
In den letzten 20 Jahren hat sich auch die Methodik der Kausaltheorie erheblich weiterentwickelt, insbesondere durch einen kontrafaktischen und interventionistischen Ansatz und durch die ausdrückliche Unterscheidung der drei epidemiologischen Aufgaben 1) Beschreibung, 2) Vorhersage und 3) kausale Schlussfolgerung [7].
Ein solcher Ansatz vermeidet Schlussfolgerungsfehler aufgrund der Verwechslung von statistischer Assoziation und Ursache – eine häufige Verwechslung in der Epidemiologie der Risikofaktoren [3]. Darüber hinaus entspricht dieser Ansatz den Bedürfnisse des öffentlichen Gesundheitswesens, da er ausdrücklich Ursachen mit Interventionen verknüpft, die sich auf die Gesundheit der Bevölkerungen auswirken; dies ist der Schlüssel zum Übergang zu einer «konsequentialistischen» Epidemiologie (Tab. 1) [8].
Tabelle 1: Charakteristika der modernen und post-modernen Epidemiologie [1].
CharakteristikModerne EpidemiologiePost-moderne Epidemiologie
MotivationWissenschaftBevölkerungsgesundheit
StudienniveauIndividuellMultipel, sozial, umweltbezogen und über Lebenslaufforschung
ParadigmaBiomedizin, klinische und biostatistische StudieGesundheitsmonitoring der Bevölkerungen, Datenwissenschaft und ­Kausalität
Erkenntnistheoretischer ­AnsatzPositivistischKonsequentialistisch
HandlungsebeneIndividuellGesellschaftlich und individuell

Auf dem Weg zu einer evidenzbasierten und datengesteuerten Epidemiologie

Die COVID-19-Pandemie, ein Grossereignis im Bereich der öffentlichen Gesundheit, das die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts abschliesst, hat die lebenswichtige Bedeutung der Epidemiologie, aber auch ihre Schwächen deutlich gemacht.
So offenbarte die Pandemie die Kluft zwischen der akademischen Epidemiologie und der praktischen öffentlichen Gesundheit. Trotz eines noch nie dagewesenen Zugangs zu multiplen Daten zeigte sich die Unzulänglichkeit der Gesundheitsmonitoringssysteme deutlich. Weitere aktuelle Probleme, die durch die Pandemie aufgeworfen wurden, sind die Gefahren der Infodemie und der Fehlinformation im Gesundheitsbereich sowie die Schwierigkeiten, die Logik und die Auswirkungen der Massnahmen der öffentlichen Gesundheit verständlich zu machen.
Es gilt also, die Forschung im Bereich der öffentlichen Gesundheit und das tatsächliche Leben besser miteinander zu verbinden. In der Schweiz ist dies eines der Ziele der «Swiss School of Public Health» (SSPH+), die Fachleute aus Epidemiologie und öffentlichem Gesundheitswesen der 12 Schweizer Hochschulen vereint und die darauf abzielt, die Ausbildung und das Networking von Fachleuten aus Epidemiologie und öffentlichem Gesundheitswesen zu fördern. Des Weiteren muss das Gesundheitsmonitoring der Bevölkerungen und das Monitoring der Gesundheitssysteme verstärkt werden, wobei die Entwicklungen in der Datenwissenschaft genutzt werden sollten [6].
Letztendlich müssen wir die Irrtümer der Epidemio­logie der Risikofaktoren berücksichtigen und dürfen nicht das Modell der personalisierten Medizin auf die öffentliche Gesundheit übertragen. Die «postmoderne» Epidemiologie soll helfen, die Probleme auf der Ebene der Bevölkerung zu lösen, und zwar durch Massnahmen, die auf der Grundlage einer evidenzbasierten und datengestützten Wissenschaft zur Bevölkerungsgesundheit entwickelt werden.
Der Autor hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen ­Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben. 
Prof. Dr. med.
Arnaud ­Chiolero, PhD
Laboratoire de santé des populations
Université de Fribourg
Route des Arsenaux 41
CH-1700 Fribourg
arnaud.chiolero[at]unifr.ch
1 Chiolero, A. Post-Modern Epidemiology: Back to the Populations. Epidemiologia. 2020;1:2–4.
2 Sackett DL, Rosenberg WM. The need for evidence-based medicine. J R Soc Med. 1995;88(11):620–4.
3 Chiolero, A. Counterfactual and interventionist approach to cure risk factor epidemiology. Int J Epidemiol. 2016;45:2202–3.
4 Ioannidis JP. Why most published research findings are false. PLoS Med. 2005;2:e124.
5 Kuh D, Ben-Shlomo Y, Lynch J, Hallqvist J, Power C. Life course epidemiology. J Epidemiol Commun Health. 2003;57:778–83.
6 Chiolero A, Buckeridge D. Glossary for public health surveillance in the age of data science. J Epidemiol Commun Health. 2020;74:612–6.
7 Hernan MA. Data science is science’s second chance to get causal inference right: A classification of data science tasks. Chance. 2019;32:42–9.
8 Galea, S. An argument for a consequentialist epidemiology. Am. J. Epidemiol. 2013;178:1185–91.