Interprofessionalität in der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin
Jubiläumsschlaglicht: Intensivmedizin

Interprofessionalität in der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2021/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08947
Swiss Med Forum. 2021;21(5152):878-879

Affiliations
a Intensivstation, Spital Thun, Thun; b Pflegedienst Intensivstationen, Neonatologie, Notfall und Kinder-Herzzentrum, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich; APN Familienbetreuung, Intensivpflegestation Pädiatrie und Neonatologie, Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), Basel

Publiziert am 21.12.2021

Die Intensivmedizin bewegt sich im Spannungsfeld unterschiedlichster Disziplinen und Professionen. Auf ihrer ständigen Gratwanderung zwischen technisch Machbarem, medizinisch Vertretbarem und ethisch Sinnvollem kann sie nur gemeinsam weiterentwickelt werden.

Hintergrund

2001, im Gründungsjahr des Swiss Medical Forums, wurde auch der Facharzttitel Intensivmedizin geschaffen. Die meisten Länder kennen bis heute keinen eigenständigen Facharzttitel für Intensivmedizin.
2021 feiert die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) zudem ihre 10-jährige interprofessionelle Organisation.
2022 wird die SGI fünfzig Jahre alt. Wiederum ein ­Anlass zum Feiern!

10 Jahre Interprofessionalität – wo steht die SGI heute?

2011 schliessen sich die SGI und die damalige Schweizerische Interessengemeinschaft für Intensivpflege (IGIP) zusammen: ein grosser Schritt für die beiden Professionen und eine Pionierleistung. Denn bis heute ist die SGI die einzige interprofessionelle medizinische Fachgesellschaft der Schweiz.
Der Zusammenschluss 2011 war eine logische Folge aus der traditionell sehr engen Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie Diplomierten Expertinnen und Experten Intensivpflege auf Intensivstationen. Die hochspezialisierten Berufsgruppen ergänzen sich hervorragend und nur mit dem gemeinsamen Fachwissen können kritisch kranke Patientinnen und Patienten auf höchstem Niveau betreut werden. Seitdem ist der SGI-Vorstand paritätisch aus Ärztinnen, und Ärzten sowie Diplomierten Expertinnen und ­Experten Intensivpflege zusammengesetzt; das Präsidium wird alternierend geführt. Vorstandsentscheide werden von beiden Berufsgruppen gemeinsam und auf Augenhöhe getroffen.
Die SGI bietet ihren Mitgliedern mit vielfältigen interprofessionellen Angeboten Unterstützung in der täglichen Betreuung von Patientinnen und Patienten.
Beispiele:
1 Organisation interprofessioneller Fort- und Weiterbildungen, wie etwa die SGI-Jahrestagung
2 Unterstützung durch evidenzbasierte Qualitätsinstrumente wie die «Top-9-Liste» im Sinne der «smarter intensive care medicine», Benchmarking zwischen den Intensivstationen, Behandlungspfade
3 Interprofessionelle Studien, beispielsweise zur Implementierung von Massnahmen für eine strukturierte Unterstützung der Familien von Patientinnen und Patienten

Beurteilung

Jede Intensivstation hat die Wahl, diese Angebote ­anzunehmen und zu implementieren. In den meisten Spitälern ist der Gedanke der Interprofessionalität, ähnlich der Interdisziplinarität, anerkannt. Es ist jedoch eine Diskrepanz in der Umsetzung zu beobachten, da oftmals in traditionellen Rollenmustern verharrt wird, was einer echten interprofessionellen Zusammenarbeit entgegensteht. Hier bleibt die SGI für die intensivmedizinische Landschaft in der Schweiz gefordert, beharrlich und geduldig den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und selbst diese Interprofessionalität vorbildlich zu leben. Der bisherige Erfolg ­bestätigt und motiviert.

Ausblick

Im Jahr 2021 kann über zukünftige Herausforderungen und Entwicklungen in der Intensivmedizin nicht losgelöst von der COVID-19-Pandemie nachgedacht werden. Diese ist bis heute die grösste Herausforderung der modernen Intensivmedizin.
Eine andere Pandemie, nämlich die Polio-Pandemie in den 1950er-Jahren, bewirkte den Aufbau von Intensivstationen, um die beatmungspflichtigen Polio-Patientinnen und -Patienten möglichst an einem dedizierten Ort im Spital beatmen und überwachen zu können [1].
Die nun bald zwei Jahre andauernde COVID-19-Pandemie hat organisatorisch die Grenzen des Gesundheitswesens und vor allem der Intensivstationen aufgezeigt, aber auch für medizinische Unsicherheit und ethische Herausforderungen gesorgt. Wir alle erlebten eine nie geahnte globale Verunsicherung, und dass auch hochentwickelte Gesundheitssysteme, wie in der Schweiz, an ihre Grenzen stossen können. Dies ängstigt noch immer viele Menschen.
Die Intensivmedizin geriet schnell in den Fokus der Bevölkerung, Wissenschaft, Medien und Politik, eine für die SGI unbekannte und herausfordernde Situation, der sie noch jetzt mit ausserordentlichem Engagement ihres Vorstands und der Mitglieder begegnet.
Aus dieser Pandemie müssen wir alle lernen. Neue Pandemien, aber auch kürzer dauernde schwere Ereignisse wie Naturkatastrophen, können die Spitäler rasch an ihre Kapazitätsgrenzen bringen. Sie müssen sich zukünftig materiell und vor allem auch personell besser vorbereiten. Dazu gehören Kooperationen über die Professionen und eigenen Bereiche hinaus. Nur so lassen sich neue Grossereignisse erfolgreich bewältigen.
Konzepte, wie etwa das Pandemiekonzept des BAG, sind eine gute Basis, müssen aber auf die spitalinternen, kantonalen oder regionalen Bedürfnisse angepasst und fortlaufend aktualisiert werden. Auch benötigt es vereinte und nachhaltige Anstrengungen, um das notwendige Fachpersonal zu rekrutieren und im Beruf zu halten.
Die COVID-19-Pandemie hat die Zusammenarbeit zwischen den Spitälern, innerhalb der verschiedenen Disziplinen, sowie zwischen Intensivstationen und «Intermediate Care Units», gefördert. In bisher ungeahnter Geschwindigkeit wurden neue Erkenntnisse, auch dank Schweizer Forschung und der Unterstützung durch die SGI, beispielsweise in der Beatmung [2] oder der schnellen Detektion von sich verändernden Krankheitseigenschaften [3], gewonnen. Aber die Pandemie zeigt auch, dass rasche und häufig ohne «Peer Review» veröffentlichte Publikationen mit Vorsicht zu geniessen sind.
Die technische Entwicklung in der Intensivmedizin wird weiterhin rasant fortschreiten. So sind Hilfsmittel wie die Videolaryngoskopie zur Intubation, der ­Ultraschall zur Diagnostik und zur Unterstützung bei Interventionen längst Standard.
In der Intensivmedizin ist das Antizipieren eines sich möglicherweise rasch verschlechternden Gesundheitszustandes unerlässlich für eine zeitnahe und gezielte Therapie. Hier kommt – neben der Expertise der Fachpersonen – der Digitalisierung, vor allem mit Hilfe der künstlichen Intelligenz, eine zunehmende und nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Die Industrie entwickelt sogenannte «predictive decision support»-Systeme, etwa zur Erfassung einer drohenden respiratorischen Verschlechterung oder einer Kreislaufinsuffizienz. Ebenso in Diskussion und Entwicklung sind «computerized clinical decision support systems» (CDSS), auch zur Entscheidungsunterstützung auf Intensivstationen [4, 5].
Die Interprofessionalität, aber mindestens ebenso die Interdisziplinarität, bleiben eine grosse Herausforderung für die Intensivmedizin. Der Fokus verschiebt sich immer weiter weg von der strikten Zuordnung einer Behandlung zu einer einzigen Fachdisziplin hin zu einem patientenorientierten Behandlungsansatz.
Die menschlichen und ethischen Aspekte in der Betreuung der Intensivpatientinnen und -patienten ­stehen immer im Zentrum unserer Tätigkeit. Intensivmedizin bleibt eine Gratwanderung zwischen technisch Machbarem, medizinisch Vertretbarem und ethisch Sinnvollem.
Hier muss schon die Ausbildung beider Berufsgruppen ansetzen, und von Beginn an sollte die Weiterbildung durch erfahrene Tutorinnen und Tutoren begleitet werden, damit die jungen Kolleginnen und Kollegen auf ­allen Ebenen der Intensivmedizin Erfahrung sammeln.
Die herausfordernde Arbeit auf der Intensivstation ist sehr bereichernd, aber auch höchst anspruchsvoll. Es ist von eminenter Bedeutung, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass neben der Aus- und Weiterbildung auch der Personalentwicklung und -erhaltung Rechnung getragen wird, etwa mit attraktiven Arbeitsmodellen. Gut ausgebildetes, motiviertes Fachpersonal bleibt auch zukünftig der Schlüssel zum Erfolg.
Wenige medizinische Fachgebiete bieten ein so breites und spannendes medizinisches, technisches, menschliches und ethisches Spektrum und entwickeln sich so interdisziplinär und interprofessionell wie die Intensivmedizin.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin SGI
c/o IMK Institut für Medizin und Kommunikation AG
Münsterberg 1
CH-4001 Basel
sgi[at]imk.ch
1 40 Jahre SGI: Jubiläumsbuch 1975 –2012. 2012. (https://www.sgi-ssmi.ch/de/DieSGIdamals.html).
2 Wendel Garcia PD et al. Implications of early respiratory support strategies on disease progression in critical COVID-19: A matched subanalysis of the prospective RISC-19-ICU cohort. Crit Care. 2021;25:175 (https://doi.org/10.1186/s13054-021-03580-y).
3 Hilty M et al. Near real-time observation reveals increased prevalence of young patients in the ICU during the emerging third SARS-CoV-2 wave in Switzerland. Swiss Med Wkly. 2021;151:w20553. (PMID: 34291810 DOI: 10.4414/smw.2021.20553).
4 Komorowski M. Artificial intelligence in intensive care: are we there yet? Intensive Care Med. 2019;45:1298–300. (https://doi.org/10.1007/s00134-019-05662-6).
5 Mamdani M, Slutsky AS. Artificial intelligence in intensive care medicine. Intensive Care Med. 2021;47:147–9. (https://doi.org/10.1007/s00134-020-06203-2).