Autounfall  bei eingeschränktem Bewusstsein

Autounfall bei eingeschränktem Bewusstsein

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08688
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Die Zuweisung des 43-jährigen Patienten per Ambulanz erfolgte auf die chirurgische Notfallstation. Er hatte an der Autobahnausfahrt die Kontrolle über sein Auto verloren und war gegen die Leitplanke geprallt.

Fallbeschreibung

Nicht immer sind Alkohol oder Drogen im Spiel

Anamnese

Die Zuweisung des 43-jährigen Patienten per Ambulanz erfolgte auf die chirurgische Notfallstation. Er hatte an der Autobahnausfahrt die Kontrolle über sein Auto verloren und war gegen die Leitplanke geprallt. Er wurde wach und ansprechbar vorgefunden, war ­jedoch örtlich und situativ nicht orientiert. Der Rettungsdienst stellte einen febrilen Zustand fest. Bei Eintritt präsentierte sich der kreislaufstabile und somnolente Patient mit einem GCS (Glasgow Coma Score) von 13. In der neurologischen Untersuchung liess sich kein Meningismus oder fokales Defizit feststellen. Es bestand jedoch eine anhaltende Verlangsamung und fluktuierende Orientiertheit. Fremdanamnestisch war eine leichte Kognitionseinschränkung aufgrund einer perinatalen Asphyxie vorbestehend. Der Patient war jedoch vor dem Unfall voll arbeitsfähig und selbständig. Der aktuelle Zustand wurde als verändert beschrieben.

Erste Massnahmen im Spital

Nach Ausschluss einer akuten Traumafolge in der ­klinischen Untersuchung und mittels Polytrauma-CT erfolgte bei anhaltendem enzephalopathischem Zustandsbild und aufgrund von Fieber bis 40°C eine Lumbalpunktion. Mit Verdacht auf eine Enzephalitis wurde empirisch eine Kombinationstherapie mit ­Ceftriaxon, Amoxicillin, Aciclovir und Dexamethason installiert.

Befunde

Im Labor fielen ein leicht erhöhtes CRP sowie eine deutlich erhöhte Creatinkinase (CK) auf (Tab. 1). Das ­Alkohol- und Drogenscreening war negativ. Im Liquor imponierte eine Pleozytose mit vorwiegend mononukleären Zellen (Tab. 2). Das Direktpräparat zeigte keine bakteriellen Organismen. Die Suche nach Herpes ­simplex (HSV), Varizella zoster (VZV), HIV, Enteroviren, Borrelien, Listerien und Lues fiel negativ aus. Das Reiber-Diagramm war jedoch vereinbar mit einer Schrankenstörung und intrathekalen Antikörperproduktion, was den Verdacht auf eine infektiöse Enzephalitis weiter erhärtete. Im Elektroenzephalogramm (EEG) konnten initial epilepsietypische Potenziale im Sinne von beidseitigen, rechtsbetonten Herdstörungen frontobasal bis temporal aufgezeichnet werden, die im Verlauf nicht mehr nachweisbar waren. Ein MRI des Neurokraniums zeigte kein bildmorphologisches Korrelat zur vermuteten Enzephalitis.
Tabelle 1:
Labor bei Spitaleintritt
 17.03.2020Referenz
Hämoglobin137 g/l140 – 180 g/l
Thrombozyten280 G/l150 – 375 G/l
Leukozyten8,8 G/l4 – 10,5 G/l
CRP11 mg/l<5 mg/l
Kreatinin77 µmol/l62 – 106 µmol/l
Creatinkinase1516 U/l<190 U/l
Tabelle 2:
Befunde Liquorpunktion
 18.03.2020Referenz
AussehenLeicht trüb 
FarbeLeicht blutig
Gesamtzellzahl353/µlBis 4/µl
Leukozyten325/µlBis 4/µl
Polynukleäre9,9% 
Mononukleäre90,1%
Erythrozyten2 x 103/µlKeine
Glukose4,3 mmol/l2,4 – 4,2 mmol/l
Lactat2,5 mmol/l≤1,9 mmol/l
Proteine1,35 g/lBis 0,45 g/l
L-Albumin787 mg/l110 – 350 mg/l
Albumin34 g/l35 – 52 g/l
Quotient QAlb23,1 x 103<8 x 103
L IgG99 mg/l10 – 40 mg/l
IgG7,0 g/l7 – 16 g/l
Quotient QIgG14,1 x 103 
IgG Index0,61<0,57

Diagnose

Aufgrund der typischen Antikörperkonstellation mit gleichzeitigem Vorhandensein von IgG und IgM im ­Serum (und im Liquor), zusammen mit der anamnestisch kürzlich stattgehabten Exposition in einem ­Risikogebiet, wurde schliesslich die Diagnose einer Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) gestellt. Die PCR für FSME-RNS im Liquor war negativ. Eine Kreuz­reaktion mit anderen Flaviviren (Dengue oder Gelb­fieber) wurde bei negativer Reiseanamnese als unwahrscheinlich erachtet.

Therapie und Verlauf

Nach Sicherung der Diagnose einer FSME wurden die empirische antimikrobielle Therapie sowie die systemischen Steroide sistiert und die weitere Behandlung auf eine intensive Betreuung durch die Physio- und ­Ergotherapie reduziert. Während der zweiwöchigen Hospitalisation erholte sich der Patient nur teilweise. Das Fieber und die initial ausgeprägte Desorientiertheit waren rückläufig, jedoch persistierte eine kogni­tive Verlangsamung und ein anhaltender pflegerischer Unterstützungsbedarf. Er wurde deswegen im Anschluss an die Hospitalisation in eine neurologische Rehabilitationsklinik verlegt.

Diskussion

Der veränderte Bewusstseinszustand als Leitsymptom in Zusammenhang mit dem Autounfall liess uns nicht unmittelbar an die Diagnose einer Enzephalitis denken. Erst nach Ausschluss eines Traumas mittels CT rückte aufgrund des Fiebers und des persistie­renden unklaren neurologischen Zustandsbildes die Differenzialdiagnose der Enzephalitis in den Vor­dergrund.
Eine Enzephalitis manifestiert sich typischerweise mit Fieber, Bewusstseinsänderung und/oder fokal neurologischen Ausfällen. Infektionserreger, darunter HSV und VZV, sind für einen grossen Teil der Fälle von Enzephalitis verantwortlich. Nichtinfektiöse Ursachen sind seltener und entweder immunologisch getriggert oder autoimmun vermittelt [1, 2].
Die Differenzialdiagnose der viralen Enzephalitis ist breit und variiert je nach geografischer Region. Weltweit verbreitet ist die Herpes-simplex-Enzephalitis. Aufgrund ihres oft fulminanten Verlaufs ist bei Verdacht auf eine virale Enzephalitis der rasche Beginn einer empirischen Therapie essenziell. In der Schweiz muss auch eine FSME in Betracht gezogen werden.
Die FSME (englisch «tick-borne encephalitis», TBE) ist eine durch Flaviviren verursachte Krankheit. Hauptreservoir der Viren sind kleine Nagetiere, seltener auch Igel, Rinder, Schafe und Ziegen [3-5]. Die Übertragung auf den Menschen erfolgt primär durch Zecken, und zwar (im Gegensatz zur Borreliose) bereits innert we­niger Minuten nach dem Biss. Grund dafür ist, dass sich die FSME-Viren im Speichel der Zecke befinden, Borrelia burgdorferi hingegen im Magen der Zecke. Dies führt dazu, dass es bei letzteren 12 bis 72 Stunden dauern kann, bis es zur Übertagung kommt [6]. Selten wird das Virus durch Rohmilchprodukte über­tragen [7].
Die ganze Schweiz, mit Ausnahme der Kantone Tessin und Genf, gilt als FSME-Risikogebiet. Seit 2005 schwanken die Fallzahlen zwischen 100 und 250 Fällen pro Jahr [8].
Insgesamt entwickeln nur ca. 30% der Infizierten Symptome [9]. Typisch ist ein zweiphasiger Verlauf. Auf eine Inkubationszeit von ca. 7 bis 14 Tagen folgt die Phase der Virämie, die häufig von grippalen Symptomen (Fieber, Malaise, Arthralgien, Kopfschmerzen) begleitet wird («Sommergrippe») (Tab. 3). In den meisten Fällen erfolgt danach ohne weitere klinische Anzeichen die Serokonversion (Bildung von IgM- und IgG-Antikörpern) [6]. Nur in 5 bis 10% der Fälle kommt es nach ca. einer Woche Symptomfreiheit zur Entwicklung neurologischer Beschwerden. Wie FSME-Viren die Blut-Hirn-Schranke passieren, ist nach wie vor nicht vollständig geklärt. In europäischen Ländern manifestiert sich diese Entzündung des Zentralnervensystems vorwiegend als Meningitis (ca. 50% der Fälle) oder Meningoenzephalitis (40%), selten als Meningoenzephalomyelitis (10%). Selten kommt es auch zu chronisch-progressiven Verläufen. Bis zu 50% der Erkrankten entwickeln ein postenzephalopathisches Syndrom mit langdauernder Einschränkung der Lebensqualität [10]. Mit steigendem Alter der Patient:innen nimmt die Schwere des Krankheitsverlaufs tendenziell zu, Kinder und Jugendliche sind selten betroffen [11].
Tabelle 3:
Typische Symptome der Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)
Reduzierter Allgemeinzustand
Hohes Fieber
Kopfschmerzen
Gleichgewichtsstörungen
Qualitative und quantitative Bewusstseinsstörungen
Lähmungen von Hirnnerven
Lähmungen von Armen und Beinen, oft mit Muskelatrophien
Zittern der Gesichtsmuskeln und der Extremitäten
Modifiziert nach [9].
Eine etablierte antivirale Therapie existiert nicht. In der Schweiz wird deshalb allen Einwohner:innen (ausser in den Kantonen Genf und Tessin) eine aktive Schutzimpfung empfohlen. Die Wirksamkeit des Impfstoffs ist günstig; nach drei Impfdosen besteht ein Schutz von über 95%. Eine Auffrischung wird nach zehn Jahren empfohlen. Die Kosten (abzüglich des Selbstbehalts) werden von der Krankenkasse übernommen. Die Erkrankung ist in der Schweiz meldepflichtig [8, 12].
Aufgrund der variablen Klinik und der unspezifischen Befunde im Routinelabor ist bei Verdacht auf eine FSME die gezielte Suche mittels Serologie indiziert. Bereits früh im Krankheitsverlauf lassen sich im Serum spezifische Antikörper nachweisen. In ungeimpften Patient:innen mit klinischem Verdacht, wie es bei ­unserem Patienten der Fall war, ist der gleichzeitige Nachweis der beiden Antikörperklassen diagnostisch für eine aktive Infektion. Während die IgG-Antikörper nach einer Infektion oder Impfung lebenslang persistieren, verschwinden die IgM-Antikörper nach einigen Wochen bis Monaten wieder [10].
Der FSME-RNS-Nachweis im Liquor mittels PCR ist vor allem in der Prodromalphase, wenn noch keine Antikörper und keine Pleozytose im Liquor nachweisbar sind, von Nutzen. Nach Serokonversion ist die Virus-RNS in der Regel nicht mehr nachweisbar. Ein negatives Resultat schliesst somit eine Infektion nicht aus [13, 14]. Aufgrund des kurzen diagnostischen Fensters besteht für den FSME-RNS-Nachweis im Liquor lediglich eine Sensitivität von ca. 40% [14].
Im Liquor besteht initial typischerweise eine polynukleäre Pleozytose, die im Verlauf in eine mononukleär dominierte Form übergeht. Fakultativ können (wie bei unserem Patienten) pathologische Befunde im EEG und (im vorgestellten Fall nicht vorhandene) Auffälligkeiten in der zerebralen Bildgebung festgestellt werden. Letztere sind eher selten und finden sich hauptsächlich im Thalamus, Kleinhirn, Hirnstamm und Nucleus caudatus [6].
In der Literatur werden erhöhte CK-Werte in Zusammenhang mit anderen Zecken-assoziierten Erkrankungen wie der Zeckenparalyse [15] und dem Krim-Kongo-Fieber [16, 17] beschrieben. Anderen Quellen zufolge sind lediglich eine Thrombopenie und Leukopenie sowie leichte Erhöhung der Leberenzyme, der LDH und des CRP typisch für die Erkrankung [10]. In diesem Fall wurde die CK-Erhöhung im Rahmen einer, durch das Trauma beim Autounfall verursachten, Rhabdomyolyse interpretiert.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Bei klinischem Verdacht auf eine (Meningo-)Enzephalitis ist der rasche Beginn einer empirischen Therapie obligat.
  • Die FSME verläuft zweiphasig mit einer grippeähnlichen Erkrankung in der Initialphase und Entwicklung eines enzephalitischen Syndroms nach einem symptomfreien Intervall.
  • Wichtige Differenzialdiagnosen sind bakterielle (Meningo-)Enzephalitiden und die Herpes-simplex-Enzephalitis, die bei der empirischen Behandlung immer mitberücksichtigt werden müssen.
  • Als Risikozeit für die FSME gelten die Monate März bis November.
  • Gegen die FSME existiert keine gezielte Therapie, aber eine wirksame Schutzimpfung mit einer hohen Erfolgsrate.
  • Die FSME ist in der Schweiz meldepflichtig.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Korrespondenz:
Louisa Hauenstein, ­dipl. Ärztin
Innere Medizin Kantons­spital Münsterlingen
Spitalcampus 1
CH-8596 Münsterlingen
lhauenstein[at]gmx.ch
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