Intestinales Behçet Syndrom vs. Morbus Crohn

Intestinales Behçet Syndrom vs. Morbus Crohn

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08731
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Eine 30-jährige Frau ohne Vorerkrankungen, ohne Dauermedikation und ohne Migrationshintergrund klagte über plötzlich einsetzende rezidivierende Fieberschübe und wässrige Diarrhoe.

Hintergrund

Eine komplexe Unterscheidung
Das Behçet-Syndrom ist eine seltene autoinflammatorische oder autoimmune Erkrankung des rheumatologischen Formenkreises [7]. Dabei handelt es sich um eine Vaskulitis mit Beteiligung von Gefässen variabler Grössen [5]. Die höchste Prävalenz weist das Gebiet entlang der ehemaligen Seidenstrasse, insbesondere die Türkei auf (bis zu 420 Fälle/100000 Einwohner) [1]. In den USA und Europa ist die Prävalenz migrationsbedingt steigend (in der Schweiz bis zu 4,3 Fälle/100000 Einwohner) [1]. Die Häufigkeit einer gastrointestinalen Manifesta­tion ist regional unterschiedlich. So tritt ein gastro­intestinaler Befall in Regionen wie Grossbritannien, Japan und der Schweiz um einiges häufiger auf als in der Türkei (32 – 60% vs. 2,8%) [1]. Klinisch ist die Unterscheidung zum akuten Schub eines Morbus Crohn schwierig, die Therapie aber nahezu identisch [10].

Fallbericht

Anamnese

Eine 30-jährige Frau ohne Vorerkrankungen, ohne Dauermedikation und ohne Migrationshintergrund klagte über plötzlich einsetzende rezidivierende Fieberschübe und wässrige Diarrhoe.
Drei Wochen vor Auftreten der Beschwerden klagte sie über ein gerötetes Auge. Im Rahmen einer ambulanten ophthalmologischen Untersuchung wurde eine Conjunctivitis herpetica diagnostiziert. Zwei Tage später traten erstmalig genitale Aphthen auf, worauf eine ­gynäkologische Vorstellung erfolgte. Hierbei wurde klinisch ein Herpes genitalis diagnostiziert und eine Therapie mit Aciclovir und einem nicht-steroidalen Antirheumatikum (NSAR; hier Mefenacid) eingeleitet. Bei im Verlauf ausbleibender Besserung und Persistenz der Diarrhoe und des hohen Fiebers erfolgte die Vorstellung in der Notfallaufnahme des Kantonsspitals St. Gallen.

Primärdiagnostik

Klinisch fielen neben in Abheilung begriffenen genitalen Aphthen auch schmerzlose enorale Aphthen auf. Laboranalytisch zeigte sich ein erhöhtes C-reaktives Protein (CRP) von 200 mg/l ohne Leukozytose. Weiterhin imponierte eine normochrome, normozytäre ­Anämie, eine Hypalbuminämie und ein Spontan-INR von 1,4. Abdomensonografisch konnte eine Pankolitis gesehen werden. Rektosigmoidoskopisch zeigten sich mehrere scharf begrenzte, tiefe ulzeröse Läsionen mit begleitend perianalem Befall (Abb. 1).
Abbildung 1:
A) Rektosigmoidoskopie (Kantonsspital St. Gallen), rundliche Ulzerationen im Sigma und B) Perianale Läsionen.

Erweiterte Diagnostik

Serologie, Stuhluntersuchung und Genitalabstrich

Sämtliche Serologien, darunter Herpes simplex-Virus (HSV) 1 und 2, humanes Immundefizienz-Virus (HIV), Hepatitis B und C, Chlamydia trachomatis, Neisseria gonorrhoeae sowie Entamoeba histolytica zeigten ­einen negativen Befund. Zudem war die allgemeine Stuhlbakteriologie (Shigellen, Salmonellen, Campylobacter) mehrmals negativ. Einzig wurde im Genital­abstrich Mycoplasma genitalium nachgewiesen, welcher die Ausprägung der Klinik alleine nicht erklären konnte.
Aufgrund der klinisch systemischen Manifestation (genital, enoral, gastrointestinal und fraglich okulär) ist differenzialdiagnostisch an eine Erstmanifestation eines Morbus Crohn oder an ein Behçet-Syndrom mit gastrointestinalem Befall zu denken.

Immundiagnostik

Eine immunologische Standortbestimmung ergab nicht nachweisbare antinukleäre Antikörper (ANA) und anti-neutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA). Auch die für den Morbus Crohn in mehrheit­lichen Fällen positiven Anti-Saccharomyces-cervisiae-Antikörper (ASCA; IgG oder IgM) waren negativ. Ebenfalls negativ fiel die genetische Testung auf humanes Leukozyten-Antigen (HLA) B51/B5 aus, welches mit der Manifestation eines Behçet-Syndroms assoziiert ist [6]. Auch der Pathergie-Test, ein wichtiges diagnostisches Kriterium beim Behçet-Syndrom, fiel negativ aus.

Invasive Diagnostik und Histologie

Als nächste diagnostische Schritte erfolgten eine ­Ösophagogastroduodenoskopie und eine komplette Koloskopie, welche eine ulzeröse Ösophagitis (Abb. 2) und eine ulzeröse Pankolitis mit Aussparung des Rektums und des terminalen Ileums zeigten. Typisch für das Behçet Syndrom wäre eine Manifestation im terminalen Ileum, welche bei unserer Patientin aber fehlte. Eher richtungsweisend für das Vorliegen des Behçet-Syndroms sind in diesem Fall die rundlich-ovale Form der Ulzerationen und die Aussparung des Rektums [2] (Tab. 1).
Der histologische Befund war nicht wegweisend. Es zeigte sich eine ulzero-granulierende Entzündung mit vorwiegend lymphozytärer Infiltration ohne für den Morbus Crohn pathognomischen Granulomnachweis. Weiterhin ergaben sich auch keine Hin­weise für eine lokale Infektion mit HSV oder Zytomegalie-Virus (CMV).
Abbildung 2:
Gastroskopie (Kantonsspital St.Gallen), ­longitudinale Ulzerationen im Ösophagus.

Therapie

Wir etablierten eine perorale Stosstherapie mit 1 mg/kg Körpergewicht Prednisolon, worauf es innert weniger Tage zur kompletten Beschwerdefreiheit kam. Um einen allfälligen intraabdominellen Abszessfokus mitzubehandeln, starteten wir gleichzeitig empirisch eine perorale antibiotische Therapie mit Metronidazol und Ciprofloxacin. Nachdem ein Abszess mittels MRI-­Sellink ausgeschlossen wurde, konnte die Antibiotikatherapie gestoppt und Azathioprin 50 mg/Tag als ­steroidsparende immunsuppressive Basistherapiegestartet werden.

Diskussion

Aufgrund der obigen laboranalytischen, histologischen und endoskopischen Befunde war eine Diskriminierung zwischen Erstmanifestation eines Morbus Crohn und eines Behçet-Syndroms mit gastrointestinalem Befall schwierig.
Während beim Morbus Crohn eine gastrointestinale Beteiligung obligat ist, erfordert die Diagnose eines Behçet-Syndroms eine Beteiligung verschiedener Organsysteme.
Laut den im Jahr 2014 überarbeiteten «International Criteria for Behçet Disease (ICBD)» ist ein Scoring von ≥ 4 Punkten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Behçet-Syndroms (95,5% Sensitivität, 92,2% Spezifität) verbunden [4]. Das Vorliegen von ­Augenläsionen, typischerweise einer anterioren wie posterioren Uveitis bzw. retinalen Vaskulitis sowie das Vorliegen einer genitalen und enoralen Aphthose klassifiziert jeweils 2 Punkte. Einen weiteren Punkt gibt es für das Vorliegen von Hautläsionen, ZNS-Beteiligung, Gefässbeteiligung und für einen positiven Pathergie-Test [4]. Die strengeren «International Study Group (ISD)»-Kriterien von 1990 fordern zur Klassifikation ­explizit Rezidive der oralen und genitalen Aphthen – und dies gilt formal auch für die ICBD-Kriterien. Bei unserer Patientin lag bei gleichzeitigem Vorliegen ­einer enoralen, genitalen und fraglichen okulären Beteiligung ein ICBD-Gesamtscore von 4 bis 6 Punkten vor, was auf das Vorliegen eines Behçet-Syndroms hinweist.
Weiterhin wurden signifikante Unterschiede basierend auf Form und Lokalisation der endoskopischen Läsionen beider Erkrankungen analysiert. In einer retrospektiven Analyse von 111 Patienten mit intestinalem Behçet-Syndrom und 81 Patienten mit Morbus Crohn zeigt sich ein häufiger Befall des Rektosigmoids beim Morbus Crohn, wohingegen beim Behçet-Syndrom primär die Ileozökalregion betroffen ist. Über­raschenderweise blieb bei unserer Patientin ausgerechnet letztere Region ausgespart, die sowohl beim Behçet-Syndrom wie auch beim Morbus Crohn als weitaus häufigste Beteiligung gilt. Die Form der Läsionen imponierte beim Behçet-Syndrom mehrheitlich als rundlich-oval, im Gegensatz zu den streifig-longitudinalen Läsionen beim Morbus Crohn. In unserem Fall ist das mehrheitliche Auftreten solitär-rundlicher Ulzerationen im Dickdarm sowie die Aussparung des Rektums mit dem Vorliegen eines Behçet-Syndroms vereinbar. Kein statistisch signifikanter Unterschied zeigt die Beteiligung des Ösophagus, die bei beiden ­Erkrankungen jedoch durchaus selten vorkommt [2] (Tab. 1).
Tabelle 1:
Häufigkeit endoskopischer Merkmale beim Behçet-Syndrom und beim Morbus Crohn
Endoskopische Merkmale Behçet-Syndrom(n = 111)Morbus Crohn(n = 81)p-Wert
Lokalisation   
Ösophagus 8 (7,21%) 4 (4,94%)0,521
Magen/Duodenum 7 (6,31%)18 (22,22%)<0,0001
Ileozökalregion82 (73,87%)64 (79,01%)0,410
Sigmoid16 (14%)33 (41%)<0,0001
Rektum 8 (9%)29 (36%)<0,0001
Form   
Rund62 (56%)20 (25%)<0,0001
Longitudinal 3 (3%)20 (25%)<0,0001
Irregulär22 (19,82%)28 (34,57%)0,021
Morphe   
Perianaler Abszess 1 (1%)15 (19%)<0,0001
Solitäre Läsion in der ­Ileozökalregion52 (47%)16 (20%)<0,0001
In den oben zitierten Studienpopulationen erfolgte ­zudem ein Screening nach extraintestinalen Mani­festationen [2]. Während eine enorale und okuläre ­Beteiligung typischerweise bei beiden Erkrankungen vorkommt, traten bei fast 75% der Patienten mit Behçet-Syndrom parallel genitale Aphthen auf, aber bei keinem einzigen Patienten mit Morbus Crohn wurde eine genitale Beteiligung beschrieben [2]. Im vor­liegenden Fall weist das Vorliegen einer genitalen ­Aphthose diagnostisch klar in die Richtung des Behçet-Syndroms.Da es sich jedoch um eine Erstmanifestation handelt, wird letztlich der weitere Verlauf zeigen, in welche Richtung sich die Diagnose bei der Patientin ent­wickelt.

Prognose

In einer Studie [3] mit 130 Behçet-Patient/innen mit gastrointestinalem Befall wurde ein Follow-up von 5 Jahren durchgeführt. 70% aller Patient/innen hatten eine nur geringe Restaktivität, während 30% entweder rezidivierende Schübe oder chronische Symptome entwickelten. Die Gruppe mit den schweren Verläufen ­waren jüngere Patient/innen und hatten – wie unsere Patientin – bei Erstvorstellung hohe CRP- und BSG-Werte sowie ein niedriges Albumin [3]. Im Vergleich dazu zeigt sich beim Morbus Crohn eine deutlich geringere Remissionsrate (ca. 20%) und in 50% der Fälle die Notwendigkeit einer chirurgischen Intervention in den ersten 10 Jahren nach Erstmanifestation [2, 8, 9].

Verlauf im Fallbeispiel

Bei unserer Patientin zeigte sich im sechsmonatigen Follow-up ein erfreulicher Verlauf. Bei aktueller labor­analytischer Entzündungs- und Symptomfreiheit zeigten sich in der endoskopischen Nachkontrolle nur vereinzelte Läsionen im proximalen Colon ascendens und in der rechten Flexur des Colon transversum. Die Therapie mit Azathioprin wurde auf 125 mg/Tag ausgebaut und das Prednisolon konnte weiter reduziert werden.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Die Diagnosestellung des Behçet-Syndroms erfolgt rein klinisch.
  • Das Behçet-Syndrom kann sich mit gastrointestinaler Beteiligung präsentieren.
  • Die differenzialdiagnostische Unterscheidung zwischen einem Morbus Crohn und einem Behçet-Syndrom ist herausfordernd und basiert auf klinischen und endoskopischen Befunden sowie auf einer interdisziplinären Beurteilung.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. Alexander Russo
Innere Medizin
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Str. 95
CH–9007 St. Gallen
alexander.russo[at]kssg.ch
1 Villiger P, Lötscher F. Behcet Syndrom. Rheuma Schweiz Fachschrift 2019 Jun: 15–28.
2 Ye JF, Guan JL. Differentiation between intestinal Behçet’s disease and Crohn’s disease based on endoscopy. Turk J Med Sci. 2019;49(1):42–49.
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4 International Team for the Revision of the International Criteria for Behçet's Disease (ITR-ICBD). The International Criteria for Behçet's Disease (ICBD): a collaborative study of 27 countries on the sensitivity and specificity of the new criteria. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2014;28(3):338–47.
5 Jeanette JC. Overview of the 2012 Revised International Chapel Hill Consensus Conference Nomenclature of Vasculitides. Clin Exp Nephrol. 2013;17(5):603–606.
6 de Menthon M, Lavalley MP, Maldini C, Guillevin L, Mahr A. HLA-B51/B5 and the risk of Behçet's disease: a systematic review and meta-analysis of case-control genetic association studies. Arthritis Rheum. 2009;61(10):1287–96.
7 McGonagle D, McDermott MF. A proposed classification of the immunological diseases. PLoS Med. 2006;3(8):e297.
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9 Frolkis AD, Dykeman J, Negrón ME, Debruyn J, Jette N, Fiest KM, et al. Risk of surgery for inflammatory bowel diseases has decreased over time: a systematic review and meta-analysis of population-based studies. Gastroenterology. 2013;145(5):996–1006.
10 Zitomersky N, Bousvaros, A. Medical therapies for Crohn disease in children and adolescents. In: UpToDate, Post TW (Ed), UpToDate, Waltham, MA. (Accessed on January 28, 2022.)