Tickende Zeitbombe auf dem Notfall

Tickende Zeitbombe auf dem Notfall

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08747
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Die notfallmässige Zuweisung eines 73-jährigen Patienten erfolgte mit der Ambulanz nach einem synkopalen Ereignis und zunehmender Verschlechterung des Allgemeinzustandes.

Hintergrund

Eine Synkope birgt versteckte Gefahren

Eine Synkope ist definiert als plötzlicher und kurzdauernder Verlust des Bewusstseins und des Muskeltonus aufgrund einer gestörten Durchblutung des Gehirns mit spontaner und kompletter Erholung innerhalb von Sekunden bis Minuten. Die Behandlung einer Synkope stellt auch heute eine alltägliche Herausforderung für die auf der Notfallstation tätigen Ärzte dar. Es gibt allerdings eine Vielzahl möglicher Gründe für eine Synkope – diese reichen von banalen bis hin zu lebensbedrohlichen Ursachen wie Herzinfarkt, Lungenembolie oder einer kreislaufrelevanten Hämorrhagie, wie bei einer gastrointestinalen Blutung odereinem rupturierten Aortenaneurysma [1] (Tab. 1).
Tabelle 1:
Gefährliche Ursachen für eine Synkope [1]
Kardiologische UrsachenZirkulatorische UrsachenNeurologische Ursachen
BradyarrhythmieAortendissektionsubarachnoidale Hämorrhagie
Tachyarrhythmiepulmonale EmbolieTIA/Apoplex
strukturelle Herzerkrankunggastrointestinale Blutung 
Myokardinfarktrupturiertes abdominales Aortenaneurysmaen
valvuläre Herzerkrankung rupturierte ektope Schwangerschaft
andere signifikante Hämorrhagien
Die häufigsten  Synkopen im Alter sind Reflex-Synkopen (insbesondere Karotissinussyndrom), Synkopen aufgrund von orthostatischer Hypotension sowie kardiovaskulär bedingte Synkopen [2]. Oftmals können bei älteren Menschen verschiedene Formen gleichzeitig auftreten. Dabei ist die Differenzierung der unterschiedlichen Ursachen speziell bei älteren Menschen nur erschwert möglich, zumal bei ihnen aufgrund kognitiver Beeinträchtigungen oder retrograder Amnesie oftmals die eindeutige Beschreibung der Geschehnisse schwerfällt [2].

Fallbericht

Anamnese

Die notfallmässige Zuweisung eines 73-jährigen Patienten erfolgte mit der Ambulanz nach einem synkopalen Ereignis und zunehmender Verschlechterung des Allgemeinzustandes. Der Patient berichtete von Schwarzwerden vor den Augen nach dem Aufstehen, fremdanamnestisch hatte eine kurzdauernde Bewusstlosigkeit bestanden. Dazu klagte der Patient über starke Übelkeit seit diesem Ereignis. Ansonsten bestanden bei Spitaleintritt keine anderen Beschwerden. Der Patient hatte keine Dauermedikation und war vor Jahren zum letzten Mal bei seinem Hausarzt gewesen.

Befund

Bei Eintritt war der Patient afebril, normokard und normoton, allerdings bestand ein auffälliger Orthostasetest (symptomatischer Abfall des systolischen Blutdrucks). Im Elektrokardiogramm zeigte sich ein normokarder Sinusrhythmus. Die kardiopulmonale Auskultation war unauffällig, laboranalytisch fanden sich keine wegweisenden Befunde.

Verlauf


Initial interpretierten wir die geschilderten Beschwerden daher am ehesten im Rahmen einer orthostatisch bedingten Synkope. Um eine Herzrhythmusstörung ausschliessen zu können, nahmen wir den Patienten zur Überwachung an die Telemetrie. Vor der Verlegung auf die Bettenstation klagte der Patient noch über Harnverhalt, was die Einlage eines Dauerkatheters erforderte. Bei persistierenden Beschwerden und Entleerung von nur wenig Urin erfolgte die erneute Beurteilung auf der Bettenstation. Bei der abdominalen Palpation fand sich ein pulsierender Tumor. Die Ultraschalluntersuchung am Krankenbett brachte ein Aortenaneurysma mit einer Grösse von 80 mm an den Tag. In der anschliessend durchgeführten Computertomographie des Abdomens wurde ein gedeckt rupturiertes infrarenales Bauchaortenaneurysma mit massivem retroperitonealem Hämatom bei Verdacht auf eine noch aktive Blutung an der dorsalen Aortenoberfläche auf Höhe der Lendenwirbelkörper 3 und 4 festgestellt (Abb. 1). Vor der Verlegung ins Zentrumspital zur operativen Versorgung wurde der Patient plötzlich komatös mit zunehmend erschwerter Atmung und nur noch schwach tastbarem Puls. Das Reanimationsteam interpretierte die Symptome zusammen mit dem Blutdruckabfall als sekundäre freie Ruptur. In der gemeinsamen Diskussion wurde bei infauster Prognose eine rein supportive Therapie beschlossen. Der Patient verstarb noch in der gleichen Nacht. Eine Obduktion wurde von den Angehörigen abgelehnt. Sie gaben an, dass die Schwester des Patienten im Alter von 87 Jahren ebenfalls an einem  rupturierten Bauchaortenaneurysma in Neuseeland verstorben sei.
Abbildung 1: 
Computertomographische Darstellung des Abdomens und Beckens,  A) Sagittalschnitt, B) Querschnitte. Die Pfeilmarkierung weist auf die mögliche aktive Blutungsstelle hin (Kontrastmittelaustritt). Der maximale Durchmesser (80,5 mm) ist mit einer Linie gekennzeichnet.

Diskussion

Von einem abdominalen Aortenaneurysma (AAA) spricht man bei einem abdominellen Aortendurchmesser von 30 mm oder mehr. Klinisch wird die klassische Präsentation eines rupturierten Aortenaneurysmas auf dem Notfall beschrieben als eine Triade aus Bauch- oder Rückenschmerzen, Hypotension und  palpablem, pulsierendem abdominalen Tumor [3].
Eine genetische Prädisposition ist bekannt, zumal familiäre Cluster identifiziert werden konnten. Pathophysiologisch liegt beim AAA eine fokale Manifestation eines systemischen Prozesses vor, bei dem entzündliche Veränderungen, Apoptose der glatten Muskelzellen und eine Degradation der extrazellulären Matrix eine Rolle spielen – letzteres zeigt sich auch im Nachweis von diversen Matrixmetalloproteinasen [4].
Die wesentlichen Risikofaktoren für die Entwicklung eines AAA sind neben dem Alter männliches Geschlecht und  Rauchen, wobei letzteres in allen Studien der stärkste Risikofaktor mit einer OR von >3,0 war. Das Rupturrisiko innerhalb von zwölf Monaten steigt mit der Grösse des Aneurysmas an und übersteigt 30% bei Patienten mit einem AAA >70 mm [5]. Die Indikation zur operativen Intervention ist gemäss Experten bei Männern ab einem maximalen Aortendurchmesser von 55 mm gegeben (Level 1b, Empfehlung A ) [5].

Der Anteil der Patienten mit einer Operation nach Ruptur ist in den letzten Jahren signifikant gestiegen, allerdings besitzt ein rupturiertes abdominales Aortenaneurysma (rAAA) auch heute noch eine sehr hohe Mortalität. In einer dänischen epidemiologischen Studie konnte gezeigt werden, dass die durchschnittliche Mortalität etwa 76% beträgt. Die primäre Erklärung dafür ist, dass es in weniger als 50% der rAAA-Fälle überhaupt zu einem operativen Eingriff kommt [6].

Akutes Auftreten von schweren Bauch- und/oder Rückenschmerzen ist das häufigste Symptom, allerdings zeigen einige rAAA-Patienten keine derartigen Schmerzen. Obwohl den Klinikern beigebracht wird, dass ein rAAA sich mit der Trias aus abdominalen und/oder Rückenschmerzen mit Hypotension und einem pulsierenden abdominalen Tumor präsentiert, zeigt sich in der Praxis, dass viele solcher rAAA atypisch auftreten und nur in 21% die typische Trias überhaupt nachweisbar ist [3].
Auf der Notfallstation werden häufig auch nur isolierte Symptome festgestellt, beispielsweise lumbale Schmerzen oder eine Synkope. Oftmals wird auch kein pulsierender Tumor diagnostiziert, vor allem bei adipösen Patienten . Eine zeitnahe Diagnosestellung ist somit bei atypischem Auftreten umso schwieriger. Die grossen Unterschiede im klinischen Auftreten von rAAA führen oftmals zu Fehldiagnosen und zu Verzögerungen bei der Durchführung einer geeigneten Behandlung [5].
In einer Multizenterstudie waren viel häufiger rAAA-Patienten mit Synkope  anzutreffen als solche , die lediglich über Schmerzen klagten [3]. Bei der klinischen Abklärung weisen stabile rAAA-Patienten oft in der Vorgeschichte eine Synkope und/oder eine kurzdauernde Bewusstlosigkeit auf. Bei älteren Personen sind die kompensatorischen Reflexe (insbesondere die periphere Vasokonstriktion) weniger ausgeprägt. In der Folge reagieren diese Patienten sensitiv auf einen Abfall der Vorbelastung und des Herzzeitvolumens [2]. Als Wirkungszusammenhang wird somit neben der Annahme neurovegetativer Mechanismen auch vermutet, dass der durch die Hämorrhagie entstehende Volumenmangel zu einer orthostatisch bedingten Synkope führt.

Gemäss der Europäischen Gesellschaft für vaskuläre Chirurgie sollten sich Männer über 65 Jahren einem AAA-Ultraschallscreening unterziehen (Level 1a, Empfehlung A ) [5]. Es muss nur wiederholt werden, falls das Screening auffällig ist (Level 2b, Empfehlung C ) [5].

Der Ultraschall wird für das Screening wie auch für Folgekontrollen eingesetzt und weist dabei eine Sensitivität von fast 100% bei einer Messgenauigkeit von 3 mm auf. Ein weiterer Vorteil des Ultraschalls ist, dass dieser von jedem Arzt eingesetzt werden kann. Die Zuverlässigkeit vermindert sich allerdings bei Adipositas oder Darmgasüberlagerungen des Patienten.

Die Computertomographie (CT) ist der nächste Schritt bei stabilen Patienten vor einer möglichen Intervention, um allfällige weitere Schritte definieren zu können. Mittels CT kann das Aneurysma detailliert in seiner Ausdehnung und topographischen Beziehung zu den umgebenden Strukturen dargestellt werden – ebenso kann auch eine imminente Ruptur detektiert werden [5].
Zum Schluss drängt sich die Frage auf, ob durch einen elektiven Eingriff (offen oder minimal-invasiv) nach erfolgter Detektion eines AAA >55 mm im Alter von 65 Jahren das Leben des Patienten hätte gerettet werden können.

Als Lehre für den Notfallalltag erscheint bei synkopierten männlichen Patienten über 65 Jahren ohne klare Ursache, die zudem zusätzliche Risikofaktoren für ein AAA aufweisen, eine Bed-Side-Sonographie zur Risikoeinschätzung hinsichtlich eines rAAA angebracht.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Ein rAAA ist eine seltene, aber gefährliche Ursache einer Synkope. Die erste Risikoeinschätzung zählt zu den wichtigsten Aufgaben bei der Notfallaufnahme von Patienten.Die Synkope ist ein Symptom und keine Diagnose; geeignete Untersuchungsprotokolle sollten im Praxisalltag verwendet werden, um eine lebensbedrohliche Situation rasch identifizieren zu können.
  • Klinisch wird die klassische Präsentation eines rAAA auf dem Notfall beschrieben als eine Trias aus Bauch- oder Rückenschmerzen, Hypotension und einem palpablen, pulsierenden abdominalen Tumor.
  • Gemäss der Europäischen Gesellschaft für vaskuläre Chirurgie sollten sich Männer über 65 Jahren einem AAA-Ultraschallscreening unterziehen, insbesondere  bei langjährigem Rauchen und bei positiver Familienanamnese.

  • Fehldiagnosen von rAAA können zu verspäteter interventioneller oder chirurgischer Therapie führen. Mittels eines Ultraschalls des Abdomens kann ein rAAA normalerweise sehr schnell und zuverlässig ausgeschlossen werden.
  • Dieser Fall zeigt die Wichtigkeit der ärztlichen Intuition und der klinischen Erfahrung. Das umfassende ärztliche Gespräch und die sorgfältige klinische Untersuchung stellen die Voraussetzung für sinnvolle und zielorientierte weiterführende Massnahmen dar. Dem Ausschöpfen der Diagnostikmöglichkeiten mittels ärztlicher Basistechniken kommt auch in der modernen Medizin eine grosse Bedeutung zu und sie weisen ein enorm günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis auf.
Wir danken der Radiologie des Spitals Emmental in Burgdorf für die radiologischen Schnittbilder.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Gabriella Koepp-Medina
Spital Emmental
Innere Medizin
Oberburgstrasse 54
CH–3400 Burgdorf
gmedinav2016[at]gmail.com
1. . How can we improve management of syncope in the Emergency Department? Cardiol J. 2014;21(6):643–50. http://dx.doi.org/10.5603/CJ.a2014.0074 PubMed 1898-018X
2. . European Heart Rhythm Association (EHRA); Guidelines for the diagnosis and management of syncope (version 2018). Eur Heart J. 2018;00:1–69.0195-668X
3. . Diagnosis of ruptured abdominal aortic aneurysm: a multicentre cohort study. Eur J Emerg Med. 2016 Oct;23(5):386–90. http://dx.doi.org/10.1097/MEJ.0000000000000281 PubMed 1473-5695
4. . Epidemiology, risk factors, pathogenesis, and natural history of abdominal aortic aneurysm. In: UpToDate, Post TW (Ed), UpToDate, Waltham, MA. [Accessed 2022 March 15].
5. . Management of abdominal aortic aneurysms clinical practice guidelines of the European society for vascular surgery. Eur J Vasc Endovasc Surg. 2011 Jan;41 Suppl 1:S1–58. http://dx.doi.org/10.1016/j.ejvs.2010.09.011 PubMed 1532-2165
6. . Prognosis of ruptured abdominal aortic aneurysms in Denmark from 1994-2008. Clin Epidemiol. 2012;4(1):111–3. http://dx.doi.org/10.2147/CLEP.S31098 PubMed 1179-1349