Eine 38-jährige Patientin wurde an der rechten Schulter operiert. Sie erhielt am ersten und zweiten postoperativen Tag jeweils niedermolekulares Heparin zur Thromboseprophylaxe subkutan in den Oberschenkel injiziert.
Hintergrund
Seltene Ursache einer peripheren Kompressionsneuropathie
Der präsentierte Fall stellt eine seltene Ursache einer peripheren Kompressionsneuropathie vor. Die Anamnese und klinische Untersuchung ist in den meisten Fällen für deren Diagnose ausschlaggebend. Im vorliegenden Fall war die Ursache der Kompression nicht alltäglich und es bestanden überlappend radikuläre Schmerzen, welche die Diagnose erschwerten und eine gezielte Schmerztherapie verzögerten.
Fallbericht
Anamnese
Eine 38-jährige ansonsten gesunde Patientin wurde aufgrund einer Rotatorenmanschetten- und Bizepssehnenruptur an der rechten Schulter operiert. Die Patientin erhielt am ersten und zweiten postoperativen Tag jeweils niedermolekulares Heparin (NMH; Enoxaparin; Clexane® 40 mg) zur Thromboseprophylaxe subkutan in den Oberschenkel injiziert. Die Injektion wurde als schmerzhaft empfunden. Am zweiten postoperativen Tag wurde die Patientin nach Hause entlassen. Am dritten postoperativen Tag bemerkte sie am Oberschenkel im Bereich der zuletzt erfolgten NMH-Injektion ein Hämatom. In den folgenden Tagen traten in diesem Bereich dumpfe, belastungsabhängige Schmerzen auf. Die Patientin suchte zwölf Tage postoperativ die Hausarztpraxis zur geplanten Wundkontrolle auf.
Status
Bei der Erstvorstellung zeigten sich reizlose Wunden der rechten Schulter bei weiterhin mittels Abduktionsorthese immobilisiertem Gelenk. Das von der Patientin beschriebene Hämatom am linken Oberschenkel war abgeblasst und nur noch andeutungsweise sichtbar. Die Muskulatur palpierte sich weich und indolent. Es bestand keine Umfangsdifferenz der Beine. Auch wurden keine neurologische Untersuchung, Laboranalysen oder weiterführende diagnostische Massnahmen vorgenommen.
Initiale Beurteilung
Die von der Patientin geschilderten Schmerzen im linken Oberschenkel (Abb. 1) wurden als direkte Folge des Hämatoms interpretiert. Eine lokale Therapie mit Heparin-Salbe (Lyman 50 000®) wurde begonnen und die bereits postoperativ etablierte Schmerztherapie mit Paracetamol und Metamizol weitergeführt. NSAR wurden bei bekannter Allergie mit Erythem und Angioödem keine verschrieben. Die Anamnese für eine hämorrhagische Diathese war negativ. In der präoperativen Laboruntersuchung waren die Werte für Thrombozyten und INR im Normalbereich.
Verlauf
Die Patientin stellte sich weitere zehn Tage später aufgrund von zunehmenden Schmerzen im Bereich des linken Oberschenkels erneut in der Hausarztpraxis vor. Neu beschrieb sie brennende Schmerzen über dem linken anterolateralen Oberschenkel seitlich bis knapp unterhalb das Knies ziehend. Längeres Stehen und Gehen verschlimmerten die Symptome. Enge Kleidungsstücke und Berührungen im Allgemeinen wurden als schmerzhaft empfunden. Die Nachtruhe war deutlich gestört. Zudem traten Schmerzen von links lumbal via dem lateralen Oberschenkel über das Knie zum Unterschenkel ziehend auf. Diese wurden als krampfartig und dumpf beschrieben. Im Status fiel eine Allodynie sowie teils Hyp- bis Anästhesie des anterolateralen Oberschenkels auf. Die segmental geprüfte Kraft in Hüft-, Knie- und Fussgelenken war normal. Patellarsehnen- und Achillessehnenreflexe waren symmetrisch auslösbar, Babinski negativ. Der Lasègue-Test links war bei 70° positiv. Das Hämatom war weder sichtbar noch palpabel. Bei Verdacht auf eine Reizung der Nervenwurzel L5 links wurde die analgetische Therapie mit Paracetamol/Codein (Co-Dafalgan®) ergänzt. Auf eine orale Steroidgabe wurde bei kürzlich erfolgter Sehnennaht der rechten Schulter verzichtet. Die topische Therapie mit Heparin-Salbe wurde fortgeführt.
Weiterer Verlauf, Diagnostik und Therapie
Die Patientin meldete sich wenige Tage später telefonisch in der Hausarztpraxis aufgrund immobilisierender Schmerzen im linken Oberschenkel, woraufhin ein MRI mit Frage nach Tangierung der Nervenwurzel L5 links veranlasst wurde. Die Untersuchung musste aufgrund von Schmerzen in der frisch operierten rechten Schulter vorzeitig abgebrochen werden. Der Verdacht auf eine breitbasige Diskushernie LWK 4/5 mit möglicher Tangierung der Nervenwurzel L5 links sowie eine flache Diskushernie LWK 3/4 ohne Kontakt zu den Nervenwurzeln wurde gestellt. Eine höhergradige Spinalkanalstenose fand sich nicht. Eine abschliessende Beurteilung war jedoch ohne die aufgrund des vorzeitigen Abbruchs fehlenden axialen Rekonstruktionen nicht sicher möglich. Die Schmerztherapie wurde weiter ausgebaut (Oxycodon/Naloxon 2 × 5 mg/2,5 mg/Tag und Pregabalin 2 × 50 mg/Tag) und eine epidurale Infiltration L4/5 durchgeführt. Die Infiltration brachte Besserung der dumpfen und krampfartigen lumbalen Schmerzen. Die Beschwerden am anterolateralen Oberschenkel bestanden jedoch weiterhin. Es erfolgte eine Konsultation beim Neurologen. Zu diesem Zeitpunkt präsentierte sich die Patientin mit seit zwei Monaten persistierendem Schmerz im anterolateralen Oberschenkel mit Allo- und Hypo- bis Anästhesie. In der klinischen Untersuchung konnte der Schmerz dem Versorgungsgebiet des Nervus cutaneus femoralis lateralis (NCFL) zugeordnet werden. Im Bereich des linken lateralen Leistenbandes und etwas distal davon war ein Tinel-Pphänomen auslösbar. Eine sonografisch gesteuerte perineurale Infiltration mit einem Lokalanästhetikum-Steroid-Gemisch an der anatomischen Engstelle unterhalb des Leistenbandes sowie an der Stelle der erfolgten NMH-Injektion brachte eine sofortige Besserung der Beschwerden. Im Bereich des einstmaligen Hämatoms fand sich sonografisch eine leichte Schwellung des Nervs mit Aufhebung der sonst sonografisch typischen Bienenwabenstruktur. Es wurde die Diagnose einer Kompressionsneuropathie des NCFL (sog. Meralgia parästhetica) gestellt. Es erfolgten im Anschluss weitere vier Infiltrationen. Die Patientin leidet elf Monate nach der NMH-Injektion an einer residuellen Allodynie, teils mit Juckreiz, teils mit vibrierenden Parästhesien im lateralen Oberschenkel, sowie einer kompletten Anästhesie im distalen Drittel (Abb. 1).
Diskussion
Die Erstbeschreibung der Meralgia parästhetica (meros, griech. für Schenkel) im Jahr 1895 wird Dr. Bernhardt und Dr. Roth zugeschrieben (deshalb auch selten Bernhardt-Roth-Syndrom genannt). Die Inzidenz beträgt 4,3/10 000 Patientenjahre [1].
Anatomie
Der ca. 2–3 mm dicke NCFL führt vorwiegend sensible aber auch efferente sympathische Nervenfasern. Er entspringt den Nervenwurzeln L2 und L3. Von dort verläuft er hinter dem Musculus psoas major, dann im Becken unter der Fazie des Musculus iliacus schräg absteigend zur Spina iliaca anterior superior. Er verlässt lateral des Musculus iliopsoas unter dem Leistenband das Becken. Von dort verläuft er einige Zentimeter unter der Fascia lata und durchtritt diese, um epifaszial entlang des anterolateralen Oberschenkels die Haut zu innervieren.
Pathogenese
Wird der Nerv geschädigt, kommt es typischerweise zu Parästhesien oder neuropathischen Schmerzen im entsprechenden Versorgungsgebiet. Neben der direkten iatrogenen Schädigung des Nervs in seinem Verlauf (z.B. nach Hüft- oder Wirbelsäulenchirurgie, Leistenhernienoperationen, intraabdominalen Eingriffen etc.) oder äussere Kompression (Enge Kleidungsstücke, Werkzeuggürtel, Sicherheitsgurte, Adipositas, Schwangerschaft, Trauma etc.), kann es zu einer metabolisch/toxischen Neuropathie des NCFL kommen (Diabetes mellitus, Hypothyreose, Bleivergiftung, Alkoholismus). Ein vorbekanntes Karpaltunnelsyndrom (Odds Ratio 7,7) oder eine Schwangerschaft (Odds Ratio 12) gelten als primäre Risikofaktoren. Häufig treten die Beschwerden auch idiopathisch auf. In einer Fallserie von Seror et al. mit 120 Patienten fand man bei 20 (17%) einen operativen Eingriff als Ursache und bei 26 (22%) eine äussere Kompression. Bei den verbleibenden 74 (61%) Patienten wurde keine offensichtliche Ursache gefunden [2].
Diagnose
Die körperliche Untersuchung und die Anamnese sind zentral bei der Diagnosestellung. Die Beschwerden spiegeln die veränderte Funktion des Nervs wider und können von leichten Parästhesien wie Kribbeln, Ameisenlaufen, Jucken, über Hypästhesie mit pelzigem Gefühl, fehlender Temperaturwahrnehmung bis hin zur kompletten Anästhesie reichen. Dazu kommt der neuropathische Schmerz mit meist anhaltendem und brennendem Charakter. Ein von Nouraei et al. vorgeschlagener «Pelvic compression Test» [3] zeigte in der untersuchten Population eine Sensitivität von 95% und Spezifität von 93% und ist sicher sowie einfach anzuwenden (Abb. 2).
Oft kann ein Tinel-Phänomen unter dem Leistenband ausgelöst werden [3]. Die Neurosonografie als nicht-invasives diagnostisches Tool gilt zudem als Zusatzuntersuchung der Wahl. Die Diagnosestellung kann durch anatomische Normvarianten im Verlauf des Nervs und somit des innervierten Hautareals erschwert werden. In der oben beschriebenen Fallserie von Seror et al. berichteten 20 Patienten (17%) über Schmerzen mit atypischem Verteilungsmuster [2]. Bei diesen Patienten wurde die Diagnose erst verspätet gestellt. Auch unsere Patientin aus dem Fallbericht hat ein relativ weit nach medial ziehendes Versorgungsgebiet. Elektroneurophysiologische Untersuchungen spielen bei der Diagnosestellung im klinischen Alltag eine untergeordnete Rolle, können jedoch in der Differenzierung zu radikulären Ursachen helfen.
Therapie
Einheitliche Therapierichtlinien existieren keine. Es fehlen randomisierte Studien. Ein Cochrane-Review aus dem Jahre 2012 zeigt jedoch anhand von Fallberichten, dass vor allem bei geringen Symptomen der Spontanverlauf abgewartet werden kann. Lassen Anamnese und Klinik eine Meralgia parästhetica vermuten und sind die Symptome störend, wird als erster therapeutischer (und gleichzeitig diagnostischer) Schritt eine ultraschallgesteuerte Infiltration vorgeschlagen. Mit der Neurolyse existiert bei therapierefraktären Schmerzen auch ein invasives Verfahren. Kleine Fallserien beschreiben gute Outcomes. Ab wann jedoch ein invasives Vorgehen indiziert ist, bleibt unklar. Als medikamentöse Therapie gelten die gleichen Empfehlungen wie für den neuropathischen Schmerz im Allgemeinen [4, 5]. Im vorliegenden Fall muss retrospektiv davon ausgegangen werden, dass durch die Injektion des NMH ein Hämatom entstand, was initial lokale und im Verlauf typische neuropathische Schmerzen durch Kompression des Hautnervs verursachte. Parallel dazu überlagerten radikuläre Schmerzen die Symptomatik, was die Diagnose erschwerte und eine adäquate Therapie verzögerte. Gemäss Arzneimittelinformation ist ein lokales Hämatom im Bereich der Einstichstelle häufig (≥1/100 bis <1/10). Viele Kliniken sind deshalb von der Applikation in den Bauch (Gefahr der Punktion von epigastrischen Gefässen, Bauchwandhämatom) auf eine Verabreichung in den Oberschenkel umgestiegen. Es erfolgte eine Meldung an die Pharmakovigilanz von Swissmedic. Und was hat nun Dr. Sigmund Freud mit dem Fall zu tun? Aus einem publizierten Briefwechsel im «Neurologischen Centralblatt» von 1895 geht hervor, dass Freud selbst jahrelang an einer Meralgia parästhetica litt. Er hätte wohl aufgrund seiner zahlreichen neuroanatomischen Studien und seinen eigenen Erfahrungen die Diagnose früher gestellt.
Das Wichtigste für die Praxis
Bei Schmerzen im Bereich des anterolateralen Oberschenkels, insbesondere bei neuropathischen Schmerzen und ansonsten unauffälliger neurologischer Untersuchung, an eine Meralgia parästhetica denken.
Häufigste Ursachen der Meralgia parästetica sind iatrogene Schädigungen und äussere Kompressionen.
Die ultraschallgesteuerte perineurale Infiltration ist sowohl diagnostisch als auch therapeutisch relevant.
Hämatome im Bereich der Einstichstelle von NMH sind häufig. Daraus resultierende schwerwiegende Komplikationen dürfen nicht verpasst werden.
Verdankung
Der Autor bedankt sich bei Dr. med. Urs Pato, Facharzt für Neurologie FMH, für das kritische Durchlesen der Arbeit.
Disclosure Statement
Der Autor hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Korrespondenz
Adrian Peissard
Hausarztpraxis Thun
Sandrainstrasse 81
CH–3007 Bern
adrianpeissard[at]gmail.com
Literatur
1. . Incidence rates and determinants in meralgia paresthetica in general practice. J Neurol. 2004 Mar;251(3):294–7. http://dx.doi.org/PubMed
2. . Meralgia paresthetica: clinical and electrophysiological diagnosis in 120 cases. Muscle Nerve. 2006 May;33(5):650–4. http://dx.doi.org/PubMed
3. . A novel approach to the diagnosis and management of meralgia paresthetica. Neurosurgery. 2007 Apr;60(4):696–700. http://dx.doi.org/PubMed
4. . Meralgia paresthetica: a review of the literature. Int J Sports Phys Ther. 2013 Dec;8(6):883–93. PubMed