Schmerzen im Oberschenkel. Sigmund Freud hätte es erkannt.

Schmerzen im Oberschenkel. Sigmund Freud hätte es erkannt.

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08763
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Eine 38-jährige Patientin wurde an der rechten Schulter operiert. Sie erhielt am ersten und zweiten postoperativen Tag jeweils niedermolekulares Heparin zur Thromboseprophylaxe subkutan in den Oberschenkel injiziert.

Hintergrund

Seltene Ursache einer peripheren Kompressions­neuropathie
Der präsentierte Fall stellt eine seltene Ursache einer peripheren Kompressions­neuropathie vor. Die Anamnese und klinische Untersuchung ist in den meisten Fällen für deren Diagnose ausschlaggebend. Im vor­liegenden Fall war die Ursache der Kompression nicht alltäglich und es bestanden überlappend radikuläre Schmerzen, welche die Diagnose erschwerten und eine gezielte Schmerz­therapie verzögerten.

Fallbericht

Anamnese

Eine 38-jährige ansonsten gesunde Patientin wurde aufgrund einer Rotatorenmanschetten- und Bizeps­sehnenruptur an der rechten Schulter ope­riert. Die Patientin erhielt am ersten und zweiten postoperativen Tag jeweils nieder­molekulares Heparin (NMH; Enoxaparin; Clexane® 40 mg) zur Thrombose­prophylaxe subkutan in den Oberschenkel injiziert. Die Injektion wurde als schmerzhaft empfunden. Am zweiten post­operativen Tag wurde die Patientin nach Hause ent­lassen. Am dritten postoperativen Tag bemerkte sie am Oberschenkel im Bereich der zuletzt erfolgten NMH-Injektion ein Hämatom. In den folgenden Tagen tra­ten in diesem Bereich dumpfe, belastungsabhängige Schmer­zen auf. Die Patientin suchte zwölf Tage postoperativ die Hausarztpraxis zur geplanten Wundkontrolle auf.

Status

Bei der Erstvorstellung zeigten sich reizlose Wunden der rechten Schulter bei weiterhin mittels Abduktionsorthese immobilisiertem Gelenk. Das von der Patientin beschriebene Häma­tom am linken Oberschenkel war abgeblasst und nur noch andeutungsweise sichtbar. Die Musku­latur palpierte sich weich und indolent. Es bestand keine Umfangsdifferenz der Beine. Auch wurden keine neurologische Untersuchung, Laboranalysen oder weiterführende diagnostische Massnahmen vorgenommen.

Initiale Beurteilung

Die von der Patientin geschilderten Schmerzen im linken Oberschenkel (Abb. 1) wurden als direkte Folge des Hämatoms inter­pretiert. Eine lokale Therapie mit ­Heparin-Salbe (Lyman 50 000®) wurde begonnen und die bereits postoperativ etablierte Schmerztherapie mit Paracetamol und Metamizol weitergeführt. NSAR wurden bei bekannter Allergie mit Erythem und Angio­ödem keine verschrieben. Die Anamnese für eine hämorrhagische Diathese war ne­gativ. In der präoperativen Labor­untersuchung waren die Werte für Thrombo­zyten und INR im Normalbereich.

Verlauf

Die Patientin stellte sich weitere zehn Tage später aufgrund von zunehmenden Schmerzen im Bereich des linken Ober­schenkels erneut in der Hausarztpraxis vor. Neu beschrieb sie brennende Schmerzen über dem linken anterolateralen Oberschenkel seitlich bis knapp unterhalb das Knies ziehend. Länge­res Stehen und Gehen verschlimmerten die Symptome. Enge Kleidungsstücke und Be­rührungen im Allgemeinen wurden als schmerzhaft empfunden. Die Nachtruhe war deutlich gestört. Zudem traten Schmer­zen von links lumbal via dem lateralen Oberschenkel über das Knie zum Unterschenkel ziehend auf. Diese wurden als krampfartig und dumpf beschrieben. Im Status fiel eine Allodynie sowie teils Hyp- bis Anästhesie des anterolateralen Oberschenkels auf. Die segmental geprüfte Kraft in Hüft-, Knie- und Fussgelenken war normal. Patellarsehnen- und Achilles­sehnenreflexe waren symmetrisch auslösbar, Babinski negativ. Der La­sègue-Test links war bei 70° positiv. Das Häma­tom war weder sichtbar noch palpabel. Bei Verdacht auf eine Reizung der Nervenwurzel L5 links wurde die analgetische Therapie mit Paracetamol/Codein (Co-Dafalgan®) er­gänzt. Auf eine orale Steroidgabe wurde bei kürzlich erfolgter Sehnennaht der rechten Schulter verzichtet. Die topische Therapie mit Heparin-Salbe wurde fortgeführt.

Weiterer Verlauf, Diagnostik und Therapie

Die Patientin meldete sich wenige Tage später telefonisch in der Hausarztpraxis aufgrund immobilisierender Schmerzen im linken Oberschenkel, woraufhin ein MRI mit Frage nach Tangierung der Nervenwurzel L5 links veranlasst wurde. Die Untersuchung muss­te aufgrund von Schmerzen in der frisch operierten rechten Schulter vorzeitig abge­brochen werden. Der Verdacht auf eine breitbasige Diskushernie LWK 4/5 mit mög­licher Tangierung der Nervenwurzel L5 links sowie eine flache Diskushernie LWK 3/4 ohne Kontakt zu den Nervenwurzeln wurde ge­stellt. Eine höhergradige Spinalkanalste­nose fand sich nicht. Eine abschliessende Beurteilung war jedoch ohne die aufgrund des vorzeitigen Abbruchs fehlenden axialen Rekonstruktionen nicht sicher möglich. Die Schmerztherapie wurde weiter aus­gebaut (Oxycodon/Naloxon 2 × 5 mg/2,5 mg/Tag und Pregabalin 2 × 50 mg/Tag) und eine epidurale Infiltration L4/5 durchgeführt. Die Infiltration brachte Besse­rung der dumpfen und krampfartigen lumbalen Schmerzen. Die Beschwerden am antero­lateralen Oberschenkel bestanden jedoch weiterhin. Es erfolgte eine Konsultation beim Neurologen. Zu diesem Zeitpunkt präsentierte sich die Patientin mit seit zwei ­Monaten persistierendem Schmerz im antero­lateralen Oberschenkel mit Allo- und Hypo- bis Anästhesie. In der klinischen Unter­suchung konnte der Schmerz dem Ver­sorgungsgebiet des Nervus cutaneus femoralis lateralis (NCFL) zugeordnet werden. Im Be­reich des linken lateralen Leistenbandes und etwas distal davon war ein Tinel-Pphänomen auslösbar. Eine sono­grafisch gesteuerte perineurale Infiltration mit einem Lokalanästhetikum-Steroid-Gemisch an der anatomischen Engstelle unterhalb des Leistenbandes sowie an der Stelle der er­folgten NMH-Injektion brachte eine sofor­tige Besserung der Beschwerden. Im Be­reich des einstmaligen Hämatoms fand sich sonografisch eine leichte Schwellung des Nervs mit Aufhebung der sonst sonografisch typischen Bienen­wabenstruktur. Es wurde die Diagnose einer Kompressions­neuropathie des NCFL (sog. Meralgia parästhetica) gestellt. Es er­folgten im Anschluss weitere vier Infiltra­tionen. Die Patientin leidet elf Monate nach der NMH-Injektion an einer residuellen Allodynie, teils mit Juckreiz, teils mit vibrierenden Parästhesien im lateralen Oberschenkel, sowie einer kompletten Anästhesie im distalen Drittel (Abb. 1).
Abbildung 1:
Blau zeigt das Hämatom im Bereich der Einstichstelle (Pfeil), rot schraffiert den Bereich der initialen Beschwerden, grün die Schmerzen elf Monate nach NMH-­Injektion, schwarz schraffiert die residuale Anästhesie.

Diskussion

Die Erstbeschreibung der Meralgia parästhetica (meros, griech. für Schenkel) im Jahr 1895 wird Dr. Bernhardt und Dr. Roth zugeschrieben (deshalb auch selten Bernhardt-Roth-Syndrom genannt). Die Inzidenz beträgt 4,3/10 000 Patientenjahre [1].

Anatomie

Der ca. 2–3 mm dicke NCFL führt vor­wiegend sensible aber auch efferente sym­pathische Nervenfasern. Er entspringt den Nervenwurzeln L2 und L3. Von dort ­verläuft er hinter dem Musculus psoas major, dann im Becken unter der Fazie des Musculus iliacus schräg ab­steigend zur Spina iliaca anterior superior. Er verlässt lateral des Musculus iliopsoas unter dem Leistenband das Becken. Von dort ver­läuft er einige Zentimeter unter der Fascia lata und durchtritt diese, um epifaszial entlang des anterolateralen Oberschenkels die Haut zu innervieren.

Pathogenese

Wird der Nerv geschädigt, kommt es typischerweise zu Parästhesien oder neuropathischen Schmerzen im entsprechenden Versorgungs­gebiet. Neben der direkten iatrogenen Schädigung des Nervs in seinem Verlauf (z.B. nach Hüft- oder Wirbelsäulenchirurgie, Leistenhernienoperationen, intraabdominalen Eingriffen etc.) oder äussere Kompression (Enge Kleidungs­stücke, Werkzeuggürtel, Sicherheitsgurte, Adipositas, Schwangerschaft, Trauma etc.), kann es zu einer metabolisch/toxischen Neuro­pathie des NCFL kommen (Diabetes mellitus, Hypothyreose, Bleivergiftung, Alkoholismus). Ein vorbekanntes Karpal­tunnelsyndrom (Odds Ratio 7,7) oder eine Schwangerschaft (Odds Ratio 12) gelten als primäre Risikofaktoren. Häufig treten die Beschwerden auch idiopathisch auf. In einer Fallserie von Seror et al. mit 120 Patienten fand man bei 20 (17%) ­einen operativen Eingriff als Ursache und bei 26 (22%) eine äussere Kompression. Bei den verbleibenden 74 (61%) Patienten wurde keine offensichtliche Ursache gefunden [2].

Diagnose

Die körperliche Untersuchung und die Anamnese sind zentral bei der Diagnosestellung. Die Beschwerden spiegeln die veränderte Funktion des Nervs wider und können von leichten Parästhesien wie Kribbeln, Ameisenlaufen, Jucken, über Hypästhesie mit pelzigem Gefühl, fehlender Temperaturwahrnehmung bis hin zur kompletten Anästhesie reichen. Dazu kommt der neuropathische Schmerz mit meist anhaltendem und brennendem Charakter. Ein von Nouraei et al. vorgeschlagener «Pelvic compression Test» [3] zeigte in der unter­suchten Population eine Sensitivität von 95% und Spezifität von 93% und ist sicher sowie einfach anzuwenden (Abb. 2).
Abbildung 2:
«Pelvic compression test» nach Nouraei et al. Der Test zielt darauf ab, durch seitlichen Druck das Leistenband zu entlasten und damit die Kompression des Nervs zu reduzieren. Nehmen die Schmerzen unter Kompression nach 45 Sekunden ab, gilt der Test als positiv.
Oft kann ein Tinel-Phänomen unter dem Leistenband ausgelöst werden [3]. Die Neurosonografie als nicht-­invasives diagnostisches Tool gilt zudem als Zusatz­untersuchung der Wahl. Die Diagnosestellung kann durch anatomische Norm­varianten im Verlauf des Nervs und somit des innervierten Hautareals erschwert werden. In der oben beschriebenen Fallserie von Seror et al. berichteten 20 Patienten (17%) über Schmerzen mit atypischem Verteilungsmuster [2]​. Bei diesen Patienten wurde die Diagnose erst verspätet gestellt. Auch unsere Patientin aus dem Fallbericht hat ein relativ weit nach medial ziehendes Versorgungs­gebiet. Elektroneurophysiologische Untersuchungen spielen bei der Diagnosestellung im klinischen Alltag eine untergeordnete Rolle, können jedoch in der Differenzierung zu radikulären Ursachen helfen.​

Therapie

Einheitliche Therapierichtlinien existieren keine. Es fehlen randomisierte Studien. Ein Cochrane-Review aus dem Jahre 2012 zeigt jedoch anhand von Fallberichten, dass vor allem bei geringen Symptomen der Spontanverlauf abgewartet werden kann. Lassen Anamnese und Klinik eine Meralgia parästhetica vermuten und sind die Symptome störend, wird als erster thera­peutischer (und gleichzeitig diagnostischer) Schritt eine ultraschallgesteuerte Infiltration vorgeschlagen. Mit der Neurolyse existiert bei therapierefraktären Schmerzen auch ein invasives Verfahren. Kleine Fallserien beschreiben gute Outcomes. Ab wann jedoch ein invasives Vorgehen indiziert ist, bleibt unklar. Als medikamentöse Therapie gelten die gleichen Empfehlungen wie für den neuro­pathischen Schmerz im Allgemeinen [4, 5]. Im vorliegenden Fall muss retrospektiv davon ausgegangen werden, dass durch die Injektion des NMH ein Hämatom entstand, was initial lokale und im Verlauf typische neuropathische Schmerzen durch Kompression des Hautnervs verursachte. Parallel dazu überlagerten radikuläre Schmerzen die Symptomatik, was die Diagnose erschwerte und eine adäquate Therapie ­verzögerte. Gemäss Arznei­mittelinformation ist ein lokales Hämatom im Bereich der Einstichstelle häufig (≥1/100 bis <1/10). Viele Kliniken sind deshalb von der Applikation in den Bauch (Gefahr der Punktion von epigastrischen Gefässen, Bauchwandhämatom) auf eine Ver­abreichung in den Oberschenkel umge­stiegen. Es erfolgte eine Meldung an die Pharmakovigilanz von Swissmedic. Und was hat nun Dr. Sigmund Freud mit dem Fall zu tun? Aus einem publizierten Briefwechsel im «Neurologischen Centralblatt» von 1895 geht hervor, dass Freud selbst jahrelang an einer Meralgia parästhetica litt. Er hätte wohl aufgrund seiner zahlreichen neuroanatomischen Studien und seinen eigenen Erfahrungen die Diagnose früher gestellt.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Bei Schmerzen im Bereich des antero­lateralen Oberschenkels, insbesondere bei neuropathischen Schmerzen und an­sonsten unauffälliger neurologischer Unter­suchung, an eine Meralgia parästhetica denken.
  • Häufigste Ursachen der Meralgia parästetica sind iatrogene Schädigungen und äussere Kompressionen.
  • Die ultraschallgesteuerte perineurale Infil­tration ist sowohl diagnostisch als auch therapeutisch relevant.
  • Hämatome im Bereich der Einstichstelle von NMH sind häufig. Daraus resultierende schwerwiegende Komplikationen dürfen nicht verpasst werden.
Der Autor bedankt sich bei Dr. med. Urs Pato, Facharzt für Neurologie FMH, für das kritische Durchlesen der Arbeit.
Der Autor hat deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Adrian Peissard
Hausarztpraxis Thun
Sandrainstrasse 81
CH–3007 Bern
adrianpeissard[at]gmail.com
1. . Incidence rates and determinants in meralgia paresthetica in general practice. J Neurol. 2004 Mar;251(3):294–7. http://dx.doi.org/ PubMed
2. . Meralgia paresthetica: clinical and electrophysiological diagnosis in 120 cases. Muscle Nerve. 2006 May;33(5):650–4. http://dx.doi.org/ PubMed
3. . A novel approach to the diagnosis and management of meralgia paresthetica. Neurosurgery. 2007 Apr;60(4):696–700. http://dx.doi.org/ PubMed
4. . Meralgia paresthetica: a review of the literature. Int J Sports Phys Ther. 2013 Dec;8(6):883–93. PubMed
5. . Treatment for meralgia paraesthetica. Cochrane Database Syst Rev. 2012 Dec;12(12):CD004159. http://dx.doi.org/ PubMed