Ist die rezidivierende Fazialisparese wirklich idiopathisch?

Ist die rezidivierende Fazialisparese wirklich idiopathisch?

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08764
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Ein 54-jähriger Patient stellte sich notfallmässig im Akutspital vor wegen einer seit mehreren Stunden persistierenden Fazialisparese rechts, die nach einem mässigen Schmerz im Bereich des rechten Kieferwinkels auftrat.

Hintergrund

Einseitig rezidivierende Fazialisparese
Bei erstmalig auftretender Fazialisparese denkt man zuerst an eine idiopathische Genese. Was ist jedoch die Ursache einer viermalig rezidivierenden Fazialisparese? In dieser Veröffentlichung präsentieren wir den Fall einer einseitig rezidivierenden Fazialisparese samt kurzer Übersicht der Differenzialdiagnosen und diagnostischen Vorgehensweise gemäss der aktuellen Literatur.

Fallbericht

Anamnese

Ein 54-jähriger Patient stellte sich notfallmässig im Akutspital ­wegen einer seit mehreren Stunden persistierenden Fazialisparese rechts vor, welche nach einem mässigen Schmerz im Bereich des rechten Kiefer­winkels auftrat. Weitere Hirnnervensymptome, insbesondere eine Geschmacks- oder Hörstörung, bestanden nicht.
Innerhalb eines Jahres war dies bereits die vierte Episode einer rechtsseitigen Gesichtslähmung, die bisher ­jedoch alle innerhalb weniger Stunden komplett regredient waren. Der Patient war deshalb bei dem aktuellen Ereignis auch nicht besorgt. Eine Vorstellung bei einem niedergelassenen Neurologen vor einem halben Jahr mit Ultraschall der hirnversorgenden Gefässe und kranialem MRI nach der zweiten Episode war laut Berichten unauffällig.
Vorerkrankungen oder eine Dauermedikation bestanden keine.

Status

Der Patient präsentierte sich afebril, bewusstseinsklar und in einem guten Allgemeinzustand. Es zeigte sich eine komplette Fazialisparese rechts mit Plegie der Stirnmuskulatur, inkompletten Lidschluss (4 mm) und Plegie der perioralen Muskulatur rechts entsprechend einer Einteilung gemäss House-Brackmann-Skala Grad VI. Eine Geschmacksstörung bestand anamnestisch nicht. Klinische Hinweise auf eine Hyperakusis liessen sich in der körperlichen Untersuchung nicht finden, Fingerreiben wurde vor den Ohren seitengleich erkannt. Otoskopisch schlossen wir eine Pathologie des Gehörganges aus. Eine Raumforderung oder Lymphadenopathie war nicht palpabel. Der restliche neurologische und klinische Status war ebenfalls unauffällig.

Befunde und Diagnose

Das Routinelabor war unauffällig. Der Liquorbefund war komplett normal ohne Hinweise auf einen entzündlichen Prozess (keine Schrankenstörung, keine intrathekale Immunglobulinsynthese, negative oligoklonale Banden), der Borrelia-burgdorferi-Antikörper-Index war nicht berechenbar, Herpes-simplex-Virus 1 und 2 (HSV1/2) sowie Varicella-Zoster-Virus (VZV) DNA negativ.
Wir stellten aufgrund Anamnese und Klinik bei fehlenden Hinweisen auf eine symptomatische Ursache die Diagnose einer rezidivierenden idiopathischen peripheren Fazialisparese.

Therapie und Verlauf

Es folgte die Gabe von Prednisolon (70 mg) für sieben Tage mit Tapering innerhalb einer Woche unter Magenschutz mit einem Protonenpumpeninhibitor, das Anlegen eines Uhrglasverbandes in der Nacht und die Gabe von künstlicher Tränenflüssigkeit. Wegen des für eine idiopathische Fazialisparese ungewöhnlich rezidivierenden Verlaufs erfolgte die Überweisung zur Mitbeurteilung an die ORL-Klinik des Zentrumsspitals.
Die Zweitbeurteilung erfolgte aus organisatorischen Gründen erst zweieinhalb Monate später bei nur leicht gebesserter Fazialisparese. Bei der klinischen Untersuchung fiel dann erstmals eine druckindolente 1 × 1 cm grosse Verhärtung am hinteren Angulus mandibulae rechts auf. Es folgte eine kraniale MRI-Zielaufnahme vom gesamten Verlauf des Nervus facialis (Abb. 1), sowie eine elektrophysiologische Untersuchung.
Neurografisch sah man eine ausgeprägte axonale Schädigung des Nervens bei ausgeprägter Reduktion des Muskelsummenaktionspotenziales. Im MRI ergab sich der Verdacht auf eine Neoplasie der Glandula parotis rechts, welche den Nervus facialis umgab.
Abbildung 1:
MRI Neurokranium: (A) Axial T2: ein hypointenser Parotistumor (↑) des rechten tiefen Parotislappen ummauert die Vena retromandibularis (*),  (B, C)  Koronar T1, fettgesättigt, nach Gadolinum: vergrösserte Lymphknoten (o) im Rahmen von ­Metastasen, aufgetriebener Nervus facialis (>) mit vermehrter Kontrastmittelaufnahme im Foramen ­stylomastoideum im Rahmen einer perineuralen Tumorausbreitung.
Nach otorhinolaryngologischer Vorstellung konnte mittels Feinnadelbiopsie der Verdacht auf eine Speicheldrüsen-Neoplasie bestätigt werden. Es folgte eine radikale Parotidektomie mit Neck dissection II–V rechts und Rekonstruktion des Nervus facialis mit einem Interponat des Nervus auricularis magnus rechts. Die Histologie zeigte ein High grade Speicheldrüsengangskarzinom mit multiplen Lymphknotenmeta­stasen mit extranodaler Ausbreitung (pT4a LI VO pN3b [53/68] RI [lokal] cMO). Eine adjuvante Radiotherapie ergänzte die Tumorbehandlung. Der postoperative Verlauf gestaltete sich komplikationslos mit weiterhin persistierender Fazialisparese sechs Monate nach Operation.
Retrospektiv war der Tumor bereits im ursprünglichen MRI vor fast einem Jahr sichtbar.

Diskussion

Die Inzidenz einer einmaligen peripheren Fazialisparese liegt bei 23–35 Fällen pro 100 000 Einwohner, mit gleicher Verteilung zwischen den Geschlechtern [1]. Die idiopathische Fazialisparese (Bell’s palsy) ist davon die häufigste Ursache (60–75%) und rezidiviert in lediglich 1,5–7% der Fälle [2]. Eine Erholung peripherer Fazialisparesen innerhalb weniger Stunden, wie bei diesem Patienten, ist sehr ungewöhnlich. Diese dauert je nach Ursache in der Regel Wochen bis Monate.
Rezidivierende, nicht idiopathische Fazialisparesen dagegen sind sehr selten und werden in der Literatur beim Melkersson-Rosenthal-Syndrom, bei Neuro­sarkoidose und Tumoren (Schwannom, Parotistumor, Cholesteatom) beschrieben [3]. Angaben zur Häufigkeit gibt es in der Literatur keine.
Zur Diagnostik und Therapie haben wir uns bei unserem Patienten an der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie «Therapie der idiopathischen Fazialisparese (Bell’s palsy)» [4] orientiert, die allerdings nicht explizit auf rezidivierende Verläufe eingeht. Tabelle 1 zeigt das diagnostische Vorgehen. Die Differenzialdiagnosen und dazugehörigen klinischen Befunde sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Tabelle 1:
Diagnostisches Vorgehen und Basistherapie bei Fazialisparese.
Spezielle Untersuchung:
Geschmackstest
Hyperakusis
Schwellung von Zunge/Lippen (Melkersson-Rosenthal-­Syndrom)?
Zoster-Effloreszenzen im Gehörgang?
Parotisschwellung?
Frage/Suche nach Grunderkrankungen:
Diabetes mellitus
Borreliose
Herpes Zoster, Herpes simplex
maligne Erkrankung
Zusatzdiagnostik:
magnetisch evozierte Potenziale (1. oder 2. Tag)
Borrelien-Serologie
Liquordiagnostik bei Kindern und V.a. nicht-idiopathische Genese
Basistherapie:
Korneaschutz (Uhrglasverband, Augensalbe [Dexpanthenol] oder künstliche Tränenflüssigkeit)
Modifiziert nach Heckmann JG et al. [4].
Tabelle 2:
Diagnostische Hinweise und mögliche Ursachen bei Fazialisparese.
Diagnostische HinweiseMögliche Ursachen
…auf idiopathische Fazialisparese:
Geschmacksstörungidiopathische Fazialisparese
Hyperakusis
Minderung der Tränensekretion
MEP: kanalikuläre Läsion
…auf Zoster oticus
Bläschen im GehörgangZoster oticus
neuropathische Schmerzen(CAVE: Zoster sine herpete nicht ­selten)
MEP: kanalikuläre Läsion
…auf radikuläre Läsion
bilaterale FazialispareseBorreliose, seltene Erreger (CMV, EBV, Rickettsien, u.a.)
MEP: subklinische Beteiligung der GegenseitePolyneuritis cranialis
MEP: präkanalikuläre LäsionFisher-Syndrom
andere HirnnervenausfälleMeningeosis carcinomatosa
basale Meningitis
…auf tumoröse Ursache:
langsame ProgredienzVestibularis-Schwannom
anhaltende SchmerzenFelsenbein-Meningeom
HörstörungenTumoren der Schädelbasis
…auf zentrale Ursache
weitere AusfälleHirnstammischämie
vaskuläre Risikofaktorenandere Hirnstammprozesse
…auf Parese distal des Foramen stylomastoideum
Ausfall einzelner MuskelgruppenParotistumor
Modifiziert nach Heckmann JG et al. [4].
MEP: Magnetisch evozierte Potenziale; CMV: Zytomegalie-­Virus; EBV: Ebstein-Barr-Virus.
Die Leitlinie empfehlt eine ausführliche Anamnese und klinische Untersuchung inklusive Otoskopie (DD Zoster oticus). Die klinische Untersuchung erlaubt die Unterscheidung einer kompletten (Stirnmuskelparese) oder inkompletten peripheren (CAVE: oft keine Stirnmuskelparese) von einer zentralen Parese. 
Klinische Hinweise auf ein Melkersson-Rosenthal-Syndrom [5], welches sich neben rezidivierenden Fazialisparesen mit Gesichtsschwellung im Mundbereich (Cheilitis granulomatosa) und Landkartenzunge (Lingua plicata) manifestiert, ergaben sich bei unserem ­Patienten nicht (Tab. 3).
Tabelle 3:
Melkersson-Rosenthal-Syndrom.
Ätiologie:
unbekannt
selten, Inzidenz 8:10 000
Symptomtrias:
Cheilitis granulomatosa (Ober- und/oder Unterlippenschwellung) = Leitsymptom
Lingua plicata (Faltenzunge): in ca. 50% der Fälle
rezidivierende, meist einseitige periphere Fazialislähmung: in ca. 20% der Fälle; meistens Monate/Jahre nach Lippenschwellung auftretend
Therapie:
symptomatisch
Prognose:
meistens chronisch-schubweiser Verlauf, geringe Heilungsaussichten
Modifiziert nach Bork et al. [5, 6].
Die häufigsten infektiösen Ursache sollten ausgeschlossen werden (Borreliose, Varizella-Zoster-Virus, Herpes-simplex-Virus). Bei klinischem Verdacht auf eine sekundäre Fazialisparese (z.B. bei starken lokalen Schmerzen, bilateraler Fazialisparese, lokalem vesikulären Exanthem, vorbekannter Systemaffektion oder Malignomerkrankung) und bei Kindern (hohe Anzahl an sekundären Ursachen, v.a. Borreliose in fast 50% der Fälle) wird eine Lumbalpunktion empfohlen [4].
Eine Bildgebung ist bei typischer Klinik einer idiopathischen Fazialisparese mit akutem Beginn und Regredienz innerhalb von sechs Wochen nicht notwendig [4] (Abb. 2).
Abbildung 2:
Abklärungsalgorithmus der peripheren Fazialisparese. HSV: Herpes-simplex-Virus; VZV: Varicella-Zoster-Virus; cMRI: kraniales Magnet-Resonanz-Imaging.
Selbstverständlich sollte bei weiteren, über die Fazialisparese hinausgehenden, Symptomen (z.B. Hypakusis, Tinnitus, sensible Ausfälle, Doppelbilder) rezidivierenden Verläufen oder ausbleibender Besserung nach sechs Wochen eine MRI-Untersuchung zur Abklärung von Kleinhirnbrückenwinkel- oder Felsenbeinprozessen, Parotis- oder Hirnstammläsionen erfolgen.
Korrekterweise wurde bei diesem Patienten auch ein MRI nach der zweiten Episode durch den Hausarzt mit der konkreten Fragestellung nach einer Neoplasie angemeldet. Der radiologische Befund beschrieb keine neoplastischen Veränderungen oder sonstigen Auffälligkeiten, was sich retrospektiv zum Zeitpunkt der Diagnosestellung, fast ein Jahr später, als Fehlinterpretation herausstellte.
Laut Literatur ist die tägliche Fehlerrate radiologischer Befunde ca. 3–4%. Im Vordergrund stehen Fehler durch eine inkorrekte, verzögerte oder verpasste Diagnose, ausserdem sind kognitive Bias zu beachten, um die Fehlerrate zu reduzieren [7]. Aber auch als Kliniker sollte man die Möglichkeit einer radiologischen Fehldiagnose in Betracht ziehen und nicht an dieser im Sinne eines «Anchoring Bias» festhalten, sodass spätestens bei Krankheitsprogression ohne radiologisches Korrelat eine Zweitmeinung zu empfehlen ist. Diese wurde sowohl beim dritten als auch vierten Rezidiv nicht eingeholt, weshalb erst die zweite MRT-Untersuchung am Zentrumsspital zur korrekten Diagnose führte.
Das hier diagnostizierte Speicheldrüsengangskarzinom ist ein seltener, aggressiv wachsender Tumor, der geschätzt in nur 1–3% bei malignen Speicheldrüsenkarzinomen diagnostiziert wird und meist die Glandula parotis befällt [8]. Meistens sind Männer zwischen 55 und 61 Jahren betroffen. Charakteristisch ist ein rasches Wachstum, die frühe Infiltration des Nervus facialis mit Fazialisparese in 40–60% der Fälle und eine frühe Fernmetastasierungsrate. Die Überlebensrate nach fünf Jahren beträgt lediglich 50%. Wegen der Seltenheit des Tumors gibt es wenig Daten bezüglich der optimalen Therapie, weshalb ein interdisziplinäres Vorgehen mittels Tumorboard umso wichtiger ist. ­Sobald es zur tumorbedingten Fazialisparese kommt wird generell eine radikale Parotidektomie empfohlen. Bei Lymphknotenmetastasen ist eine Radiotherapie indiziert.

Das Wichtigste für die Praxis

  • 25–40% der Fazialisparesen sind nicht-idiopathischer Genese.  
  • Rezidivierende Fazialisparesen sind selten und benötigen meist ein interdisziplinäres Vorgehen (ORL, Neurologie, Infektiologie, Onkologie). Leitlinien decken seltene Erkrankung meistens nicht ab.
  • Bei atypischen Beschwerden (z.B. bei starken lokalen Schmerzen, bilateraler Fazialisparese, lokalem Exanthem, vorbekannter Systemerkrankung, Hypakusis, Tinnitus, sensiblen Ausfällen, Doppelbildern, Rezidiv) sollte nach sekundären Ursachen gesucht werden.
  • Die tägliche Fehlerrate radiologischer Befunde beträgt laut Literatur ca. 3–4%. Bei einem ungewöhnlichen Krankheitsverlauf oder einer Progression der Symptome muss deshalb auch an die Möglichkeit eines Diagnosefehlers gedacht und eine Zweitmeinung eingeholt werden.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Nejc Kupper
Abteilung für Innere ­Medizin
Stadtspital Zürich, Triemli
Birmensdorferstrasse 497
CH-8063 Zürich
nejc.kupper[at]triemli.zuerich.ch
1. . Erkrankungen des Nervus facialis. Laryngorhinootologie. 2012 Feb;91(2):121–41. http://dx.doi.org/  PubMed
2. . Recurrent Bell’s palsy: analysis of 140 patients. Laryngoscope. 1988 May;98(5):535–40. http://dx.doi.org/  PubMed
3. . An analysis of diagnostic delay in unilateral facial paralysis. J Laryngol Otol. 2005 Mar;119(3):184–8. http://dx.doi.org/  PubMed
4. Deutsche Gesellschaft für Neurologie [Internet]. Berlin: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Therapie der idiopathischen Fazialisparese (Bell’s palsy). c2017. [cited 2022 March 25]. Available from: https://dgn.org/wp-content/uploads/2013/01/030013_Therapie_der_idiopathischen_Fazialisparese.pdf
5. . A Systematic Review of the Literature of the Three Related Disease Entities Cheilitis Granulomatosa, Orofacial Granulomatosis and Melkersson - Rosenthal Syndrome. Curr Pediatr Rev. 2018;14(3):196–203. http://dx.doi.org/  PubMed
6. . Mundschleimhaut und Lippenkrankheiten. 3. Aufl. Stuttgart: Schattauer; 2008.
7. . Bias in Radiology: The How and Why of Misses and Misinterpretations. Radiographics. 2018 Jan-Feb;38(1):236–47. http://dx.doi.org/  PubMed
8.  Salivary duct carcinoma of the parotid gland. J Oral Maxillofac Pathol. 2012 Jan;16(1):134–6. http://dx.doi.org/  PubMed