Schwere Systemreaktion nach einheimischem Schlangenbiss - ein seltenes Ereignis mit potentiell lebensbedrohlichen Folgen

Schwere Systemreaktion nach einheimischem Schlangenbiss - ein seltenes Ereignis mit potentiell lebensbedrohlichen Folgen

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08784
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Ein 34-jähriger Mann wurde im Berner Oberland beim Klettern von einer Schlange in den rechten Zeigefinger gebissen. Die Schlange wurde fotografiert und als melanotische Version einer Aspisviper identifiziert.

Hintergrund

Ein seltenes Ereignis mit potenziell lebensbedrohlichen Folgen
Bissunfälle durch einheimische Schlangen sind in der Schweiz selten. In der Abbildung 1A wird die Verteilung der beiden einheimischen Giftschlangen, Vipera berus (Kreuzotter) und Vipera aspis (Aspisviper) in der Schweiz dargestellt [1]. In einer Fallserie aus dem Kanton Wallis wurde über 99 Bisse in 32 Jahren berichtet [2]. Ärzte und Ärztinnen werden entsprechend nur selten mit solchen Situationen konfrontiert. Weil 8% der Schlangenbisse zu einer lebensbedrohlichen Reaktion führen können [3] und deshalb ein rasches Handeln erforderlich ist, sind Basiskenntnisse über die Einschätzung des Schweregrads und die Behandlung für Grundversorger wie auch Rettungs- und Notfallpersonal wichtig [1, 2, 4].
Abbildung 1:
A)  Verbreitung Aspisviper und Kreuzotter in der Schweiz (Quelle: http://karch.ch. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von info fauna).  B) Bild der Schlange unmittelbar nach dem Biss, melanotische Form einer Vipera aspis. C) Bissmarke am rechten Zeigefinger. D) Ausdehnung der lokalen Reaktion am Tag 1.

Fallbericht

Anamnese / Präklinik

Ein 34-jähriger Mann wurde im Berner Oberland beim Klettern von einer Schlange in den rechten Zeigefinger gebissen. Die Schlange wurde fotografiert und als ­melanotische Version einer Aspisviper identifiziert (Abb. 1B). Eine erste Evaluation durch den lokalen Rettungsdienst zeigte:
  • A: offene Atemwege;
  • B: Tachypnoe, Spontansättigung 98%, unauffällige Lungenauskultation;
  • C: Radialispuls 130/min, Blutdruck nicht messbar, kaltschweissig und blass;
  • D: fluktuierendes Bewusstsein, Bewertung nach der Glasgow Coma Scale (GCS) 11–13 (E3/V2–4/M6; E: ­Augen öffnen, V: verbale Kommunikation, M: motorische Reaktion), keine fokal neurologischen Aus­fälle.
Beim klinischen Bild eines anaphylaktischen Schocks erfolgte eine intravenöse Therapie mit Adrenalin, Clemastin, Methylprednisolon und Kristalloiden, sowie die Ruhigstellung des rechten Arms. Danach wurde für den schnellstmöglichen Transport ins Zentrumsspital die Rettungsflugwacht aufgeboten, sowie die Verfügbarkeit von Antivenin bei Tox Info Suisse ab­geklärt.

Befunde im Spital

Bei Ankunft im Schockraum war der Patient trotz wiederholter intravenöser Adrenalingabe und Volumentherapie hämodynamisch instabil. Die Atemwege waren frei, fiberendoskopisch zeigte sich keine relevante Schwellung der Glottis. Der Patient hatte eine Sauerstoffsättigung von 100% unter 10 Liter O2/min und eine unauffällige Lungenauskultation. Der Blutdruck war 50/30 mm Hg, die Herzfrequenz bei 120/min mit nicht palpablem Radialispuls und nur schwachem Femoralispuls, aber warmer Peripherie. Neurologisch war der Patient verlangsamt und desorientiert, entsprechend einem initialen Glasgow Coma Scale (GCS) von 13 (E3, V4, M6). Er wies eine diskrete epigastrische Druckdolenz bei ausgeprägtem Brechreiz auf. Die Inspektion der rechten Hand zeigte eine schmerzende punkförmige Bisswunde am Zeigefinger mit einem ca. zwei Zentimeter grossen Ödem und einem kleinen Hämatom ohne andere Hautreaktionen (Abb. 1C). Laborchemisch imponierte eine Laktatazidose (Laktat 4,9 mmol/l) und eine akute Niereninsuffizienz (Kreatinin 130 μmol/l). Im Blutbild zeigte sich eine Hämokonzentration (Hämoglobin 200 g/l), eine Leukozytose (15 G/l) und eine Thrombopenie (90 G/l). Die Tryptase war 1,5 Stunden nach dem Biss mit 4 ng/l normwertig. Das EKG war ­unauffällig.

Beurteilung

Der sonst gesunde Patient mit nun distributivem Schock und ausgeprägten gastrointestinalen Symptomen erfüllte die Kriterien einer schweren systemischen Reaktion nach Schlangenbiss (Grad III, Tab. 1).
Tabelle 1:
Klinische Schweregradeinteilung der Viperbisse nach Audebert mit relativer Häufigkeit und Indikation zur Antivenintherapie [1, 4, 7].
GradHäufigkeit [4]Symptome/BefundeIndikation Antidot [7]
0 8%Trockener Biss ohne Giftinjektion, nur Bissmarke, kein ÖdemNein
I42%Lokales Ödem um Bissmarke, keine systemischen SymptomeNein
II40%Ödem eines grösseren Teils des Gliedes Ja
Leichte systemische Symptome: vorübergehende Hypotonie, ­Erbrechen, Durchfall
III10%Ödemausbreitung auf die ganze Extremität und den Stamm Ja
Schwere Systemische Symptome: Schock, Gerinnungsstörungen

Therapie und Verlauf

Trotz Ruhigstellung der betroffenen Extremität und Behandlung des anaphylaktischen Schocks durch die Rettungsdienste persistierten der Schockzustand und die ausgeprägten gastrointestinalen Beschwerden. Das Vorliegen einer systemischen Reaktion nach Schlangenbiss mit Kreislaufinsuffizienz stellte eine klare Indikation zur Antiveningabe dar (Tab. 2). Wir verabreichten in Rücksprache mit den Kollegen und Kolleginnen von Tox Info Suisse 4 ml Viperfav® über eine Stunde. Der Patient wurde zur weiteren Therapie auf der Intensivstation hospitalisiert. Das Adrenalin konnte im Verlauf rasch ausgeschlichen und nach ­einer zweiten Antiveningabe in gleicher Dosierung fünf Stunden nach der ersten Dosis definitiv gestoppt werden. Die psychomotorische Verlangsamung und die gastrointestinalen Symptome waren am Folgetag vollständig regredient. Lokal kam es zu einer Ausbreitung des Befundes mit scharf begrenzter Rötung und Schwellung bis zum proximalen Oberarm (Abb. 1D). Hinweise auf ein Kompartment-Syndrom fanden sich nicht. Die Niereninsuffizienz war im Verlauf rückläufig, das Blutbild normalisierte sich und es zeigten sich keine Hinweise auf disseminierte intravasale Gerinnung. Die Tryptase blieb im Normbereich. Der Patient konnte nach drei Tagen Überwachung auf der Normalstation in ausgezeichnetem Allgemeinzustand ent­lassen werden.
Tabelle 2:
Indikationen zur Antiveningabe gemäss Tox Info Suisse [4].
1. Therapie-resistente Hypotonie und Kreislaufschock
2. Protrahierte schwere gastrointestinale Symptome
3. Schleimhautschwellung mit Gefahr der bronchialen Obstruktion
4. Rasche Ödemausbreitung auf die ganze Extremität und den Stamm
5. Neurologische Symptome wie ZNS-Depression, periphere und zentrale Paresen
6. Gefahr eines Kompartmentsyndroms
7. In Grenzfällen unterstützen folgende Befunde eine Antivenin-Anwendung:
 Leukozytose >15–20 G/l
metabolische Azidose
Hämolyse
EKG-Veränderungen
Gerinnungsstörungen

Diskussion

Die Beschreibung einer seltenen schweren systemischen Reaktion nach einheimischem Schlangenbiss zeigt die Herausforderungen einer potenziell lebensbedrohlichen Notfallsituation. Wie im vorliegenden Fallbericht gezeigt, ist eine frühe Kontaktaufnahme mit Tox Info Suisse empfehlenswert, da verschiedene Vergiftungssymptome mit variabler Latenzzeit nach einem einheimischen Giftschlangenbiss auftreten können. Die präklinische Behandlung, weitere Triagierung gegebenenfalls in Zentrumsspitälern mit Verfügbarkeit von Antivenin sowie dessen Indikation sind ­dadurch in engmaschiger Abstimmung mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen möglich. Die Gifte der Vipera aspis und berus bestehen aus einer komplexen Mischung verschiedener Enzyme. Phospholipasen und Hyaluronidasen sind für die direkte lokale Gewebeschädigung verantwortlich, während andere Enzyme mittels Freisetzung von Mediatoren wie Histamin und Bradykinin unter anderem zu Kreislaufdepression führen. Durch die im Schlangengift enthaltenen vasodilatatorischen Substanzen kann es ohne vorherige Sensibilisierung und ohne IgE-vermittelte Histaminfreisetzung zu einer direkten anaphylaktoiden Reak­tion kommen.
In der präklinischen Erstbeurteilung müssen sowohl die lokalen als auch die systemischen Zeichen gezielt gesucht und die Extremität ruhiggestellt werden [5]. Eine adäquate Analgesie ist wichtig, dabei soll auf nichtsteroidale Antirheumatika und Acetylsalicylsäure verzichtet werden. Für andere in der Vergangenheit häufig durchgeführte Massnahmen, wie das Absaugen des Giftes oder die Applikation eines Tourniquets, konnte kein Nutzen nachgewiesen werden [1]. Bei Schock und Verdacht auf allergische Reaktion soll eine entsprechende Therapie mit Adrenalin und Antihistaminika eingeleitet werden. Entscheidend bei schwerwiegenden Reaktionen ist die Zuweisung an ein Zentrum, das über Antivenin-Depots verfügt. Alternativ kann das Antivenin auch an das behandelnde Spital ­geliefert werden.
Auf der Notfallstation steht die Überwachung der ­Vitalparameter (Atemwege, Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung, Blutdruck, Puls und Bewusstseinszustand) im Vordergrund [5]. Da sich das klinische Bild über Stunden bis Tage nach dem Biss verschlechtern kann, ist eine wiederholte Evaluation und mehrstündige Überwachung notwendig. Die Wunde soll desinfiziert und gegebenenfalls die Tetanusimpfung gemäss den in der Schweiz geltenden Richtlinien aufgefrischt werden [6]. Für eine antibiotische Prophylaxe besteht keine Evidenz [3, 4]. Zur Indikationsstellung der Immuntherapie mit Antivenin soll eine Einteilung des Schweregrades gemäss Tabelle 1 erfolgen. Zum Nutzen und der Evidenz der Antiveningabe sind kontrollierte, prospektive, randomisierte Studien ethisch nicht zulässig, weshalb sich die Datenlage daher vorwiegend auf Fallberichte stützt.
Bei ungefähr 8% der Ereignisse handelt es sich um ­sogenannte trockene Bisse, bei denen keine relevante Giftmenge appliziert wird [3]. Solche Patient/innen weisen nach dem Biss weder systemische noch lokale Symptome auf und können nach sechsstündiger Überwachung entlassen werden [4]. Leichte lokale ­Reaktionen (Grad I) erfordern nur stationäre Über­wachung ohne spezifische Therapie. Bei schweren lokalen und systemischen Reaktionen (Grad II und III) ist eine ­frühe Antiveningabe indiziert (Tab. 2). In der Vergangenheit war die Behandlung kontrovers aufgrund der häufigen anaphylaktischen Reaktionen nach Verabreichung der älteren Fab-Antivenine. Die aktuell in der Schweiz verfügbaren Antivenine bestehen aus purifizierten F(ab)2-Antikörperfragmenten aus dem Serum von Pferden oder Schafen, die mit dem Gift von Vipera aspis, berus und ammodytes ­(Viperfav®) oder nur ­Vipera berus (ViperaTAb®) immunisiert wurden [7]. Sie haben ein kleineres allergenes Potenzial, eine längere Halbwertszeit und somit eine bessere Abschirmung als die älteren Fab-Antikörper. Sie können den Krankheitsverlauf deutlich verkürzen oder abschwächen und unnötige chirurgische Eingriffe verhindern (z.B. Fasziotomie beim Kompartmentsyndrom). Patient/innen mit Grad-III-Reaktionen sollten auf einer Intensivstation überwacht werden. Neben dem, wie in unserem Fall beschriebenen, katecholaminresistenten, distributiven Schock mit schweren gastrointestinalen Symptomen und akuter Niereninsuffizienz können selten auch neurologische Symptome mit Vigilanzminderung und Paralysen auftreten. Die Niereninsuffizienz kann Folge der Schock-bedingten Hypoperfu­sion oder in seltenen Fällen einer Rhabdomyolyse sein. Hämatologisch sind Leukozytosen und Thrombopenien typisch, während Gerinnungsstörungen selten sind. Bei lokalen Komplikationen ist die chirurgische Therapie nur in absoluten Ausnahmefällen indiziert [2, 4]. Das Kompartmentsyndrom wird primär mit Antivenin therapiert. Nur bei Persistenz des gemessenen, er­höhten intrakompartmentalen Drucks trotz wiederholter Antivenin-Gabe kann eine Fasziotomie notwendig sein.
Die meisten Schlangenbisse in der Schweiz verlaufen leicht oder moderat. Die rechtzeitige Antiveninbehandlung bei bestehender Indikation erlaubt auch in schweren Fällen einen günstigen Verlauf. Der letzte ­Todesfall durch den Biss einer einheimischen Schlange in der Schweiz wurde 1961 gemeldet [2, 4].

Das Wichtigste für die Praxis

  • Einheimische Schlangenbisse sind seltene, aber potenziell lebensbedrohliche Unfälle, eine rasche Kontaktaufnahme mit Tox Info Suisse ist essenziell zur Risikostratifizierung, präklinischen Triagierung sowie Information bezüglich Antivenin-Verfügbarkeit und Indikationen nach einheimischen Giftschlangenbissen.
  • Bei schweren Grad-II- und Grad-III-Reaktionen (Tab. 2) ist eine Behandlung mit Antivenin indiziert. Trotz besserem Nebenwirkungsprofil der F(ab)2-Antivenine muss der Patient/die Patientin nach Verabreichung bezüglich anaphylaktischer Reaktionen überwacht und therapiert werden können.
  • Chirurgische Massnahmen (z.B. Fasziotomie) sind nur bei erhöhtem intrakompartmentalem Druck trotz wiederholter Antiveningabe indiziert.
Wir danken Herrn Andreas Meyer von der Koordinationsstelle für Amphibien und Reptilien in der Schweiz (KARCH) für die Identifikation der Schlange.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Claudio Schneider
Spital Tiefenau
Tiefenaustrasse 112
CH–3010 Bern
claudio.schneider[at]spitaltiefenau.ch
1 . Aspisviper (Vipera aspis) und Kreuzotter (Vipera berus): Die medizinisch bedeutsamen Giftschlangen der Schweiz. 1. Teil: Biologie, Verbreitung und Giftzusammensetzung. Swiss Med Forum. 2003;03(32):746–53.
2 . Viper bites: treat or ignore? Review of a series of 99 patients bitten by Vipera aspis in an alpine Swiss area. Swiss Med Wkly. 2005 Oct;135(41-42):618–25. PubMed
3 . Envenoming by viper bites in France: clinical gradation and biological quantification by ELISA. Toxicon. 1992 May-Jun;30(5-6):599–609. http://dx.doi.org/10.1016/0041-0101(92)90854-X PubMed
4 . Aspisviper (Vipera aspis) und Kreuzotter (Vipera berus): Die medizinisch bedeutsamen Giftschlangen der Schweiz - 2.Teil: Vorbeugung, Erste Hilfe und Behandlung von Bissunfällen. Swiss Med Forum. 2003;03(34):780–5.
5  Wilderness Medical Society Practice Guidelines for the Treatment of Pitviper Envenomations in the United States and Canada. Wilderness Environ Med. 2015 Dec;26(4):472–87. http://dx.doi.org/10.1016/j.wem.2015.05.007 PubMed
6 Bundesamt für Gesundheit (BAG) [Internet]. Bern: Tetanus / Starrkrampf. [cited 2022 March 03]. Available from: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/krankheiten-im-ueberblick/tetanus.html
7 . European viper envenomings: assessment of Viperfav™ and other symptomatic treatments. Clin Toxicol (Phila). 2012 Mar;50(3):189–96. http://dx.doi.org/10.3109/15563650.2012.660695 PubMed