Seltene Form eines Nierentumors mit tödlichem Ausgang

Seltene Form eines Nierentumors mit tödlichem Ausgang

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08785
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Ein 57-jähriger, bisher gesunder Patient stellte sich in der hausärztlichen Sprechstunde vor wegen akuter körperlicher Schwäche, Husten und rechtsseitigen Flankenschmerzen.

Hintergrund

Sammelrohrkarzinom, Ductus-Bellini-Karzinom
Im Folgenden möchten wir eine seltene Entität eines Nierentumors (Sammelrohrkarzinom, Ductus-Bellini-Karzinom) vorstellen. Der vorliegende Fall beschreibt das klinische Bild, die Diagnostik und das therapeutische Vorgehen bei fehlender Evidenz aus kontrollierten randomisierten Studien.

Anamnese


Ein 57-jähriger, bisher gesunder Patient stellte sich in der hausärztlichen Sprechstunde vor wegen akuter körperlicher Schwäche, Husten und rechtsseitigen Flankenschmerzen. Bei grippaler Symptomatik wurde initial eine symptomatische Therapie mit Ibuprofen begonnen. Hierunter zeigte sich eine kurzzeitige Besserung. Nach knapp zwei Wochen stellte sich der Patient in den Ferien im nahen Ausland erneut ärztlich vor, mit gleichartiger Symptomatik und neu auch nächtlichem Schüttelfrost. Aufgrund eines anamnestisch pathologischen Urinstatus wurde eine empirische Therapie mit Ciprofloxacin eingeleitet. Unter dieser Therapie zeigten sich die Beschwerden jedoch progredient, weswegen der Patient durch den Hausarzt auf unsere Notfallstation zugewiesen wurde.


Status


Der Patient präsentierte sich in reduziertem Allgemeinzustand, normalem Ernährungszustand und afebril (Temperatur tympanal 37,3 °C). Die kardiopulmonale und abdominelle Untersuchung war unauffällig, es zeigte sich jedoch eine Klopfdolenz über der rechten Nierenloge. Die digitorektale Untersuchung zeigte eine normale Prostata ohne tastbare Raumforderung. Die Hoden waren unauffällig.
Laborchemisch fand sich eine normochrome, normozytäre Anämie (Hb 101 g/l, Norm: 135–175 g/l), sowie eine Leukozytose von 14,9 G/l (Norm: 4,5–11,5 G/l) bei einem C-reaktiven Protein (CRP) von 215 mg/l (Norm: <10 mg/l). Die Nierenretentionsparameter waren normal. Im Urinstatus zeigte sich eine signifikante Leukozyturie (20–40 Leukozyten pro Gesichtsfeld) ohne Erythrozyturie. Sonografisch fanden sich beidseits morphologisch unauffällige Nieren ohne Abflussbehinderung. In der initialen Beurteilung wurde ein komplizierter Harnwegsinfekt bei Pyelonephritis postuliert und eine Therapie mit Ceftriaxon begonnen. Interessanterweise zeigte sich im Verlauf in der vor Ceftriaxon-Therapie abgenommenen Urinkultur kein Keimwachstum. Bei fehlender Besserung nach zwei Tagen wurde eine Computertomografie des Abdomens durchgeführt mit der primären Fragestellung Nierenabszess. Es zeigte sich am rechten Nierenoberpol eine 7,5 cm grosse, unscharf begrenzte malignitätssuspekte Läsion (Abb. 1). Gleichzeitig wurde eine ausgeprägte lokoregionäre retroperitoneale Lymphadenopathie beschrieben. In der ergänzenden thorakalen Computertomografie zeigten sich multiple, 2–12 mm grosse Lungenrundherde beidseits. Der malignitätssuspekten Läsion der rechten Niere wurden unter CT-Kontrolle vier Stanzbiopsien entnommen. Dabei zeigte sich histologisch lediglich eine Nekrose mit entzündlicher Komponente. In den bakteriologischen Kulturen zeigte sich kein Wachstum. Bei nun hochgradigem Verdacht auf ein malignes Geschehen wurde die antibiotische Therapie beendet. Am Tumorboard einigte man sich darauf, aktuell auf eine weitere Punktion zu verzichten und eine zeitnahe CT-Verlaufskontrolle in 6–8 Wochen durchzuführen.
Abbildung 1:
Ausgedehnte unscharf begrenzte Ödemzone im Oberpol der rechten Niere (ca. 7,5 × 7 cm).

Nach kurzzeitiger spontaner Besserung und deutlicher Regredienz der Entzündungsparameter verschlechterte sich der Zustand des Patienten erneut und es wurde eine CT-Verlaufskontrolle durchgeführt. Dabei zeigte sich innert nur 15 Tagen eine signifikante Grössenprogredienz sämtlicher Befunde, insbesondere mit nun einschmelzenden Lungenrundherden (Referenzherd rechts 18 mm, Voruntersuchung 8 mm; Abb. 2) und einer Grössenprogredienz der hypodensen Ödemzone im rechten Nierenoberpol (8,2 cm; Voruntersuchung: 6,7 cm). Zur Diagnosesicherung wurde nun eine thorakoskopische Wedge-Resektion im Bereich des linken Lungen-Unterlappens durchgeführt. Differenzialdiagnostisch zog man bis zum Ergebnis der Biopsie bei renalem und pulmonalem Befall eine Vaskulitis im Sinne einer Granulomatose mit Polyangiitis (Morbus Wegener) in Betracht, weshalb eine vorübergehende Therapie für sechs Tage mit 1 mg/kg Prednison durchgeführt wurde. Histologisch zeigte sich ein wenig differenziertes, solides Karzinom. Nach histomorphologischer und immunhistochemischer Differenzierung konnte die Diagnose eines metastasierten Sammelrohrkarzinoms der rechten Niere gestellt werden.

Abbildung 2:
Teils zentral kavernös zerfallende, teils liquifizierte Lungenrundherde beidseits.

Therapie

Bei metastasiertem Tumorstadium wurde eine Platin-basierte Chemotherapie mit Gemcitabin (Gemzar) und Cisplatin eingeleitet mit initialer klinischer Besserung. Nach zwei Zyklen zeigte sich in der CT-Kontrolle ein stabiler Krankheitsverlauf mit grössenstationären Lungenmetastasen, Grössenregredienz von Primärtumor und angrenzenden Lymphknotenmetastasen. Aufgrund einer am ehesten Cisplatin-induzierten Ototoxizität sowie Tumorprogression nach insgesamt vier Zyklen wurde die Therapie auf eine Immuntherapie mit dem PD-1-Checkpoint-Inhibitor Pembrolizumab (Keytruda) (PD-1: Programmed cell death protein 1) umgestellt. Es zeigte sich nach drei Zyklen ein ubiquitäres Tumorwachstum. Wir etablierten daraufhin eine Drittlinientherapie mit dem Multityrosinkinase-Inhibitor Cabozantinib (Cabometyx). Bei progredienter diffuser Metastasierung ossär, in Leber und Milz sowie einer Peritonealkarzinose wurde die Therapie zehn Monate nach Diagnosestellung sistiert. Der Patient verstarb kurze Zeit später im Spital.

Diskussion


Sammelrohrkarzinome (Collecting duct carcinoma, Bellini duct carcinoma), erstmals beschrieben 1976, sind sehr seltene Tumore [1]. Sie machen nur 1% aller Nierenzellkarzinome aus. Eine retrospektive Studie aus den USA analysierte 33 000 Nierenzellkarzinome über einen Zeitraum von vier Jahren. Lediglich 160 Fälle waren Sammelrohrkarzinome. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Ein fortgeschrittenes Tumorstadium bei Diagnosestellung ist häufig [2]. Typischerweise finden sich Metastasen in Lymphknoten, Lungen, Leber, Nebennieren sowie im Knochen. Initial präsentieren sich 65,4% aller Patienten symptomatisch, wobei Hämaturie (37%), Flankenschmerzen (24%) und Fatigue (9%) auftreten können. Ein erhöhtes CRP wird in 64% der Patienten bei Diagnosestellung festgestellt, ebenfalls erhöht ist die Laktatdehydrogenase (LDH) in 70% der Fälle. In 65% der Patienten besteht eine Anämie. Der klinische Verlauf ist häufig aggressiv und die Prognose sehr ungünstig. In einer japanischen Studie mit 81 Patienten betrug das 5-Jahres-Überleben über alle Stadien 34% [3]. Bei Metastasierung bereits bei Diagnosestellung reduziert sich das mediane Überleben auf zehn Monate [4].
Die Diagnosesicherung erfolgt histologisch, in unserem Fall mittels thorakoskopischer Lungen-Wedgeresektion. Für die Abgrenzung gegenüber den Urothel- und Nierenzellkarzinomen sind die Histomorphologie und Immunhistochemie essenziell (Abb. 3). Histomorphologisch weisen die Zellen ein eosinophiles Zytoplasma auf, die Zellkerne sind gross und pleomorph mit prominenten Nucleoli. Immunhistochemisch sind diese Karzinome und Nierenzellkarzinome positiv auf Paired-box gene 8 (PAX8). Dies gilt auch für Schilddrüsenkarzinome, wobei renale Karzinome als Unterscheidungsmerkmal keinen Schilddrüsentranskriptionsfaktor 1 (TTF-1) exprimieren. Bei Expression von Vimentin, ein Antigen welches vor allem in mesenchymalen Zellen exprimiert wird, sowie positiver immunhistochemischer Färbung für Zytokeratin 7 (CK7), Zytokeratin 19 (CK19) und negativer Färbung für Renal cell carcinoma (RCC) werden die differenzialdiagnostischen Tumore (klarzelliges, chromophobes und papilläres Nierenzellkarzinom) sehr unwahrscheinlich. Prinzipiell käme differenzialdiagnostisch das medulläre Nierenzellkarzinom noch in Frage, dieses ist jedoch meist mit Sichelzellanämie und Hämoglobinopathien assoziiert, was bei unserem Patienten nicht der Fall war.
Abbildung 3:
A) Hämatoxylin-Eosin-Färbung, 40×;
B) PAX8 immunhistochemische Färbung, 40×;
C) Vimentin immunhistochemische Färbung, 40×.
Im lokalisierten Tumorstadium wird die Resektion angestrebt mit berichtetem tumorfreien Langzeitüberleben über zwei Jahre [5]. Im fortgeschrittenen Tumorstadium soll wegen der schlechten Prognose und dem häufig reduziertem Allgemeinzustand der Patienten auf die Tumornephrektomie verzichtet werden, da ein Benefit bezüglich Gesamtüberleben nicht belegt ist [6]. Bei fehlender Evidenz orientiert sich die Systemtherapie an der Behandlung der Urothelkarzinome. Durch eine Cisplatin-basierte Chemotherapie kann ein objektives Ansprechen von 26% erreicht werden mit einem progressionsfreien und Gesamtüberleben von sieben bzw. elf Monaten [7]. Möglicherweise kann die Hinzunahme von Bevazicumab (Avastin) die Wirksamkeit der Chemotherapie verbessern. Eine entsprechende Phase-II-Studie hierzu läuft (siehe www.clinicaltrials.gov).

Über die Molekularbiologie des Tumors ist wenig bekannt. In bis zu 50% der Fälle kann eine HER2-Onkogen-Amplifikation (HER2: Human epidermal growth factor receptor 2) nachgewiesen werden. Andere bekannte Mutationen sind NF2 (Neurofibromin 2) und SMARCB1 (SWI/SNF related, matrix associated, actin dependent regulator of chromatin, subfamily b, member 1), beide könnten therapeutisch angegangen werden. Wir führten in unserem Fall eine umfassende molekulargenetische Analyse durch (Foundation One® CDx), leider ohne nutzbare genetische Alteration. 

Bei Urothel- und Nierenzellkarzinom sind Checkpoint-Inhibitoren etablierte Behandlungsoptionen. Mehrere Fallberichte mit PD-1-Antikörpern suggerieren auch beim Sammelrohrkarzinom Aktivität. In unserem Fall zeigte sich immunhistochemisch eine hohe PD-L1-Expression (100%) (PD-L1: Programmed cell death 1 ligand 1). Entsprechend behandelten wir mit Pemrolizumab (Keytruda), wobei der Patient zumindest passager in Form eines gebesserten Allgemeinzustandes profitierte. Die Therapie mit dem Multityrosinkinase-Inhibitor Cabozantinib basierte in unserem Patienten auf einer kleinen Fallserie sowie einem positiven Fallbericht [8]. Die Krankheit war zu diesem Zeitpunkt jedoch sehr fortgeschritten und es konnte kein messbarer klinischer Benefit erzielt werden. Die Überlebenszeit bei unserem Patienten von insgesamt zehn Monaten ist gut mit den aus der Literatur verfügbaren Überlebenszeiten vereinbar. 


Zusammenfassend handelt es sich beim Sammelrohrkarzinom um eine Rarität. Die Diagnosestellung erfolgt meistens in einem fortgeschrittenen Tumorstadium. Die Datenlage zur Therapie ist marginal. Die Entität ist häufig in den grossen Zulassungsstudien nicht oder stark untervertreten. In der Literatur sind nur einige Fallberichte und kleine Fallserien publiziert. Die Behandlung orientiert sich an der Therapie der Urothelkarzinome und primär wird häufig eine Cisplatin-basierte Chemotherapie eingesetzt. Wenn immer möglich sollten Patienten in laufende Therapiestudien eingeschlossen werden.


Das Wichtigste für die Praxis

  • Das Sammelrohrkarzinom ist eine sehr seltene Form eines Nierentumors und kann zu Beginn mit einem komplizierten Harnwegsinfekt verwechselt werden.
  • Bei Diagnose handelt es sich häufig um ein disseminiertes Tumorstadium und die Prognose ist sehr ungünstig.
  • Bei lokalisierten Tumoren ist die operative Sanierung anzustreben. Bei metastasierten Tumoren wird im Allgemeinen eine Cisplatin-basierte Chemotherapie eingesetzt.
  • Die Behandlung innerhalb von Studienprotokollen ist anzustreben.


Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

PD. Dr. med. Michael Bodmer
Medizinische Klinik
Zuger Kantonsspital
Landhausstrasse 11
CH–6340 Baar
michael.bodmer[at]zgks.ch
1 . Papillary renal cell carcinoma: a clinical, radiologic, and pathologic study of 34 cases. Cancer. 1976 Dec;38(6):2469–80. http://dx.doi.org/  PubMed  
2 . Effect of collecting duct histology on renal cell cancer outcome. J Urol. 2009 Dec;182(6):2595–9. http://dx.doi.org/  PubMed  
3 . Collecting duct (Bellini duct) renal cell carcinoma: a nationwide survey in Japan. J Urol. 2006 Jul;176(1):40–3. http://dx.doi.org/  PubMed  
4 . Influence of demographic factors on outcome of collecting duct carcinoma: a Surveillance, Epidemiology, and End Results (SEER) database analysis. Clin Genitourin Cancer. 2009 Aug;7(2):E24–7. http://dx.doi.org/  PubMed  
5  Collecting duct carcinoma with long survival treated by partial nephrectomy. Int J Urol. 2001 Jul;8(7):401–3. http://dx.doi.org/  PubMed  
6 . Collecting duct carcinoma of the kidney: a clinicopathological study of 9 cases. J Urol. 2003 Oct;170(4 Pt 1):1138–40. http://dx.doi.org/  PubMed  
7 . Prospective multicenter phase II study of gemcitabine plus platinum salt for metastatic collecting duct carcinoma: results of a GETUG (Groupe d’Etudes des Tumeurs Uro-Génitales) study. J Urol. 2007 May;177(5):1698–702. http://dx.doi.org/  PubMed  
8  Cabozantinib in advanced non-clear-cell renal cell carcinoma: a multicentre, retrospective, cohort study. Lancet Oncol. 2019 Apr;20(4):581–90. http://dx.doi.org/  PubMed