Akute Cyanidintoxikation durch Amygdalin
Auch Nahrungsergänzungsmittel gehören in die Medikamentenanamnese

Akute Cyanidintoxikation durch Amygdalin

Der besondere Fall
Ausgabe
2022/0304
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08809
Swiss Med Forum. 2022;22(0304):75-77

Affiliations
a Universitäres Notfallzentrum, Inselspital Bern; b Institut für Rechtsmedizin, Forensische Toxikologie und Chemie, Universität Bern

Publiziert am 19.01.2022

Durch die REGA erfolgte die Vorstellung eines 71-jährigen Patienten mit akuter Dyspnoe. Ungefähr 30–60 Minuten vor deren Auftreten hatte er sechs Tabletten eines amygdalinhaltigen Nahrungsergänzungsmittels eingenommen.

Hintergrund

Amygdalin wird als alternative antitumoröse Therapie angepriesen. Amygdalinhaltige Präparate sind in der Schweiz nicht zugelassen, können jedoch im Internet frei erworben werden. Es gibt keinerlei Evidenz zur Wirksamkeit über den Einsatz von Amygdalin in der Onkologie, insbesondere besteht ein erhebliches Risiko ernsthafter unerwünschter und teils lebensbedrohlicher Wirkungen durch Cyanidvergiftung nach oraler Einnahme. Eine Intoxikation mit Cyanid (Blausäure) führt durch Blockade der Sauerstoffverwertung in den Zellen zu einem «inneren Ersticken» mit konsekutiver Laktatazidose [1].

Fallbericht

Anamnese

Durch die REGA erfolgte die Vorstellung eines 71-jährigen Patienten mit akuter Dyspnoe in unserem Notfallzen­trum. Husten, Sputum, Thoraxschmerzen oder Fieber wurden verneint. Im Vorfeld hatte der Patient zweimalig erbrochen. Als Vorerkrankungen waren ein vor weniger als zwei Monaten diagnostiziertes nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom vom Typ Adenokarzinom im rechten Oberlappen mit Lymphknotenmetastasen, eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) GOLD 2, eine koronare Zweigefässerkrankung, ein persistierender Nikotinkonsum mit circa 100 Packungsjahren, ein Adenokarzinom der Prostata und ein Morbus Crohn bekannt. Vor fünf Tagen war der dritte Zyklus der wöchentlichen Chemotherapiegabe mit Carboplatin/Paclitaxel erfolgt. Zwei Tage zuvor war ein Port-a-Cath rechts venös implantiert worden. Der Patient nahm als Dauermedikation täglich Aspirin® cardio, Metoprolol, Nifedipin, Atorvastatin und Budesonid ein. Ungefähr 30–60 min vor Auftreten der Dyspnoe hatte der Patient erstmalig sechs Tabletten à 500 mg eines amygdalinhaltigen Nahrungsergänzungsmittels eingenommen.

Status und Befunde

Bei Eintreffen der REGA fand sich ein afebriler, tachy-dyspnoeischer, tachykarder Patient (Atemfrequenz 28/min, Sauerstoffsättigung [SpO2] 89%, Herzfrequenz 120/min) von normaler Konstitution (Body Mass Index 24,5 kg/m²). Therapeutisch wurde hochdosiert Sauerstoff via Maske mit Reservoir verabreicht, hierunter zeigte sich die Symptomatik nur leicht regredient.
Bei Übernahme des Patienten in der Notaufnahme zeigten sich ausser einer Tachypnoe und Tachykardie keine wegweisenden Befunde. In den Laboruntersuchungen fielen eine leichte Anämie und erhöhte D-Dimere auf. Die arterielle Blutgasanalyse (Tab. 1) ergab eine akute, respiratorisch kompensierte metabolische Azidose mit vergrösserter Anionenlücke bei wahrscheinlich vorbestehender chronischer respiratorischer Alkalose. Das Laktat betrug 10 mmol/l.
Tabelle 1: Arterielle Blutgasanalyse bei Eintritt mit respiratorisch kompensierter Laktatazidose, Körpertemperatur 36,1 °C, FiO2 40%.
AnalyseAktuelle Befunde (Normwerte)
Natrium138 mmol/l (136–145)
Kalium4,1 mmol/l (3,5–4,5)
Chlorid109 mmol/l (98–107)
Kalzium ionisiert bei aktuellem pH1,14 mmol/l
pH7,407 (7,35–7,45)
pCO220 mm Hg (35–46)
Bicarbonat Std.15,9 mmol/l (18,0–29,0)
Base-Excess Std.–11,8 (–2,5 bis +2,3)
pO2204 mm Hg (71–104)
Laktat arteriell10,00 mmol/l (0,63–2,44)
Hämoglobin112 g/l (135–168)
Sauerstoffsättigung arteriell99% (93–98)
Carboxyhämoglobin0,8%
Methämoglobin1,4%
Oxygeniertes Hämoglobin96%
Glukose7,40 mmol/l (4,56–6,38)
Kreatinin ABL98 µmol/l (59–104)
Std.: Standard
In der CT-Angiographie des Thorax konnte weder eine Lungenembolie noch ein Pneumothorax nachgewiesen werden, bezüglich des Bronchialkarzinoms zeigte sich im Vergleich zum Vormonat ein stationärer Befund.
Bei anamnestisch oraler Einnahme von 3 g Amygdalin wurden Blut und Urin mit der Frage nach Cyanidintoxikation asserviert und an das Institut für Rechtsmedizin zur Analyse übermittelt.

Therapie und Verlauf

Der Patient verblieb zur weiteren klinischen und hämodynamischen Überwachung auf dem Notfall. Bereits 3,5 Stunden nach Eintritt lagen das Laktat und das Bikarbonat im Normbereich. Bei vollständiger Regredienz der Symptomatik und Normalisierung der laborchemischen Befunde wurde die auf dem Notfall begonnene supportive Therapie auch in Rücksprache mit Tox Info Suisse fortgesetzt und auf eine Gabe von Hy­droxocobalamin (Cyanokit®) bei mutmasslicher Cyanidintoxikation verzichtet. Nach eintägigem stationärem Aufenthalt und weiterer unauffälliger Überwachung konnte der Patient erfreulicherweise in die ambulante Weiterbetreuung entlassen werden.

Diagnose

Am Folgetag konnte die Verdachtsdiagnose einer Cyanidintoxikation nach Amygdalin-Überdosierung mithilfe der Abteilung für Forensische Toxikologie und Chemie der Universität Bern bestätigt werden. Die chemisch-toxikologische Untersuchung mittels Mikro­destillation und spektrophotometrischer Analyse auf Cyanid ergab einen erhöhten Cyanidspiegel von 3,5 mg/l im Blut (Normbereich 0,005–0,04 für Nichtraucher, 0,04–0,07 mg/l für Raucher) und 1,5 mg/l Cyanid im Urin. Die Probenentnahmen hatten sieben Stunden nach oraler Einnahme stattgefunden. Somit lag die Konzentration des Cyanids, trotz kurzer Halbwertszeit von 15–180 min weiterhin im Bereich einer schweren Vergiftung [2].

Diskussion

Amygdalin

Amygdalin ist eine der populärsten – jedoch auch kontrovers diskutierten – komplementären und alternativen antitumorösen Therapien. Es handelt sich um einen sekundären Pflanzenstoff, der unter anderem in Aprikosen- und Pfirsichkernen oder Bittermandeln enthalten ist [3]. Amygdalinhaltige Präparate sind in der Schweiz sowie in Deutschland nicht zugelassen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stuft Amygdalin als einen bedenklichen Arzneistoff ein, der demnach nicht an Menschen angewendet werden darf [4]. Beworben wird das Amygdalin mit unter anderem antifibrotischer, antientzündlicher, analgetischer, immunregulierender, antiathero­sklerotischer, antikardialhypertropher, antiulzeröser, hypoglykämer, antineurogenerative sowie antitumoröser Wirkung insbesondere bei Blasen-, Prostata-, Lungen-, Kolon- sowie Rektumkarzinomen [3]. Gemäss klinischen Studien gibt es keinerlei Evidenz zur Wirksamkeit über den Einsatz von Amygdalin in der Onkologie, insbesondere besteht ein erhebliches Risiko ernsthafter unerwünschter und teils lebensbedrohlicher Wirkungen durch Cyanidvergiftung nach oraler Einnahme [5].

Toxizitätsmechanismus

Das Amygdalin ist ein cyanogenes Glykosid, das durch das Enzym ß-Glucosidase zu Glukose, Benzaldehyd und Cyanid metabolisiert wird. Cyanid bindet an das Eisen (Fe3+) der Cytochrom-c-Oxidase der Atmungskette und blockiert die aerobe ATP-Synthese in den Mitochondrien. Durch anaerobe Glykolyse und somit vermehrten Laktatanfall folgt eine metabolische Azidose mit vergrösserter Anionenlücke. Die orale Aufnahme von 500 mg Amygdalin entsprechen 30 mg Cyanid [6]. Die letale Cyaniddosis beim Menschen wird auf 0,5–1,5 mg/kg Körpergewicht geschätzt [7, 8].
Die Dosierungsempfehlung des Herstellers des in unserem Fall eingenommenen Präparates empfiehlt eine Tablette entsprechend 500 mg Amygdalin am Tag. Der Patient hatte das Amygdalin mit sechs Tabletten entsprechend einer Menge von 3 g oder äquivalent 180 mg Cyanid überdosiert. Die Dosis lag somit deutlich über der in der Literatur beschriebenen letalen Mindestmenge, ebenfalls wurden Blutcyanidspiegel von über 3 mg/l als letal beschrieben [2].

Diagnostik und Therapie

Es gibt keinen schnell verfügbaren Bluttest zum Nachweis von Cyanid, sodass die Diagnosestellung und Therapie aufgrund der Anamnese und klinischen Sym­ptome erfolgen muss, wobei letztere sehr unspezifisch sein können. Eine Cyanidintoxikation nach oraler Aufnahme kann innerhalb von 15 Minuten bis drei Stunden zu Symptomen führen ,wobei die genaue Pharmakokinetik des verwendeten Präparates unbekannt ist [9]. Initial können Flush, Kopfschmerzen, Schwindel, Agitation, Erbrechen, Tachykardie und Tachypnoe auftreten, wobei sich die Symptomatik zu schwerer Hypotonie, Apnoe, Krampfanfällen, Herzkreislauf- und Atemversagen sowie Tod verschlechtern kann [10]. Die Höhe des Laktates im Serum ist neben der Anamnese der wichtigste Indikator für eine Cyanidintoxikation und korreliert mit dem Schweregrad der Vergiftung. Ein normales Laktat schliesst somit eine relevante Cyanidintoxikation nahezu aus [11].
Die Therapie der Cyanidintoxikation besteht, nebst der Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen, in Dekontamination mit Aktivkohle (1 g/kg Körpergewicht) innerhalb der ersten Stunde, möglichst hoher Sauerstoffzufuhr, zudem symptomatischer Therapie wie Azidosekorrektur und spezifischer Antidotgaben mit Natriumthiosulfat und/oder Hydroxocobalamin in Rücksprache mit Tox Info Swiss. Eine aktuelle Antidotliste wird regelmäs­sig unter toxinfo.ch/antidot_de publiziert [12].

Das Wichtigste für die Praxis

• Eine Cyanidintoxikation sollte als Differentialdiagnose bei einer Laktat­azidose miteinbezogen werden.
• Der beschriebene Fall verdeutlicht die Wichtigkeit der erweiterten Medikamentenanamnese und Kenntnis über unerwünschte Nebenwirkungen. Auch Nahrungsergänzungsmittel oder komplementärmedizinische Präparate können ein nicht unerhebliches Vergiftungs- und Nebenwirkungspotential besitzen.
• Die Behandlung einer Cyanidintoxikation besteht primär aus Sauerstoffgabe, symptomatischer und supportiver Therapie, bei schweren Verläufen Verabreichung der Antidots Hydroxocobalamin und/oder Natriumthiosulfat. Eine Rücksprache mit Tox Info Suisse ist in jedem Fall empfehlenswert.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Dr. med. Friderike Resech
Notfallzentrum
Hirslanden Klinik St. Anna
St. Anna-Strasse 32
CH-6006 Luzern
friderike.resech[at]
hirslanden.ch
 1 Beasley DM, Glass WI. Cyanide poisoning: pathophysiology and treatment recommendations. Occup Med (Lond). 1998;48(7):427–31.
 2 Anseeuw K, Delvau N, Burillo-Putze G, De Iaco F, Geldner G, Holmström P, et al. Cyanide poisoning by fire smoke inhalation: a European expert consensus. Eur J Emerg Med. 2013;20(1):2–9.
 3 He XY, Wu LJ, Wang WX, Xie PJ, Chen YH, Wang F. Amygdalin – A pharmacological and toxicological review. J Ethnopharmacol. 2020;254:112717.
 4 Lilienthal N. Amygdalin – fehlende Wirksamkeit und schädliche Nebenwirkungen. Bull Arzneimitteltherapiesicherheit. 2014;3:7–13.
 5 Milazzo S, Horneber M. Laetrile treatment for cancer. Cochrane Database Syst Rev. 2015;2015(4):Cd005476.
 6 Newton GW, Schmidt ES, Lewis JP, Conn E, Lawrence R. Amygdalin toxicity studies in rats predict chronic cyanide poisoning in humans. West J Med. 1981;134(2):97–103.
 7 Shragg TA, Albertson TE, Fisher CJ Jr. Cyanide poisoning after bitter almond ingestion. West J Med. 1982;136(1):65–9.
 8 Suchard JR, Wallace KL, Gerkin RD. Acute cyanide toxicity caused by apricot kernel ingestion. Ann Emerg Med. 1998;32(6):742–4.
 9 Akyildiz BN, Kurtoğlu S, Kondolot M, Tunç A. Cyanide poisoning caused by ingestion of apricot seeds. Ann Trop Paediatr. 2010;30(1):39–43.
10 Vogel SN, Sultan TR, Ten Eyck RP. Cyanide poisoning. Clin Toxicol. 1981;18(3):367–83.
11 Baud FJ, Borron SW, Mégarbane B, Trout H, Lapostolle F, Vicaut E, et al. Value of lactic acidosis in the assessment of the severity of acute cyanide poisoning. Crit Care Med. 2002;30(9):2044–50.
12 Antidote bei Vergiftungen 2020/2021. Bulletin des Bundesamtes für Gesundheit 2020; Available from: https://www.toxinfo.ch/customer/files/35/Antidotliste-2020_2021_DE.pdf.